Gott im Waschsalon

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E

Epiklord

Gast
Die Freiheit liegt darin, dass man sie denken kann.


Den gemeinen Strandfloh trifft man nicht selten verhältnismäßig weit am Lande im feuchten Sand an, wo er sich unter Algen befindet, mit denen er angespült wurde. Das Wiederfinden seines schmalen, am Strande gelegenen Lebensraumes bedeutet für ihn eine Lebensfrage. Interessanterweise findet er stets zurück. Man könnte den Floh mitten in der Sahara aussetzen, er würde mit Sicherheit zielstrebig zum Meer wandern, und zwar, ohne jemanden nach dem Weg gefragt zu haben, und ohne die Hilfe eines Reiseleiters von Neckermann in Anspruch zu nehmen. Auch unsere Brieftauben finden sich zurecht. Diese Tatsachen versetzen uns Menschen leicht in Erstaunen, denn den Tierchen fehlt ja in ihrer Ausstattung jegliches geistige Selbstbewusstsein, wie es unsere Population ziert.

Wäre es voreilig, den Schluss zu ziehen, was für den gemeinen Strandfloh gilt, wäre auch für den Menschen denkbar? Anhand des Flohverhaltens erkennen wir ja, dass eine äußerst zweckbezogene Handlung auch ohne geistiges Selbstbewusstsein zustande kommt. Also, wir würden dennoch unseren Mercedes finden, unseren Sonntagsanzug, und bestimmt auch den Knopf für die Atombombe. Die Frage stellt sich nun, warum wir trotzdem ein Selbstbewusstsein haben. Es gibt unzählige Leute, die Unsinn treiben, was Tiere nicht tun. Ist es ein Beweis dafür, dass das geistige Selbstbewusstsein etwa ein zum Unsinn prädestiniertes Organ darstellt? Das Ärgste ist, dass jene Leute sich auch noch bei ihrem Unsinn vor Stolz in Affenmanier auf die Brust schlagen.

Wenn ich nicht gerade Kandisberge auf meinem Gedankenstrahl versetze, bewege ich mich ganz bewusst im Kreis. Ich bin ein enthusiastischer Kreisgänger. Circulus vitiosus – alles andere wäre vermessen. Columbus wusste auch, die Erde ist rund und man kommt so an seinen Aufbruchspunkt zurück. Ich laufe ebenso herum, denn wer sich nicht fortbewegt, würde Amerika nicht entdecken oder aufs verschollene Bernsteinzimmer treffen. Mir ist natürlich ebenso klar, dass die Erde rund ist und dass sich an dieser Erkenntnis nichts ändern wird.

Die Galaxien rotierten, Mutter Erde rotierte und die Waschtrommeln im Waschsalon. Während ich meine Wäsche beobachtete, wie sie in den Maschinen kreiste, kam mir Gott in den Sinn, was immer es auch sein mag. Im Waschsalon hat man auch die Muße dazu, und wird nicht durch Musik und Werbung abgelenkt. Im Waschsalon über Gott nachzudenken, ist so, als wenn man an einem kalten Ofen sitzend über dessen Funktionsweise reflektieren würde, und sich so an ihm wärmen könnte (wie klimaschonend das doch wäre!). Die nüchterne Atmosphäre des Waschsalons bot mir eine konkrete Versuchung Gott näher zu kommen.

Und der Gang in den Waschsalon ersparte mir zudem den in die Kirche. Die Moralpredigten dort bringen einen auch mehr den Menschen mit ihren mehr oder wenigeren Defiziten in diesem Bereich näher als Gott. Und dann soll Gott uns nach seinem Bild geschaffen haben. Dort vor dem Trockner hatte jemand einen Socken liegen lassen. Einen Socken stricken, der ja auch nach unserem Bild entsteht, aber eben kein Bild von uns ist. Würden fremde Wesen eine derartige Fußbekleidung von uns untersuchen, könnten sie wohl kaum anhand derer eine annähernd genaue Phantomzeichnung von uns anfertigen. Selbst ein Kunstwerk, das seinen Produzenten sofort verrät, kann keinen algorithmisch präzisen Aufschluss über diesen wiedergeben. Und Gott lässt sich nicht in ein Denkschema eines Kausalitätsprinzips einordnen, denn wenn wir durch ihn entstanden sind, woher stammt dann Gott. Als Kind musste man sich ja schon mal anhören: „Von nichts kommt nichts!“, fühlte sich zu Unrecht von der Mutter angefrotzt, lag dann nach dem Gute-Nacht-Gebet in seinem Bettchen und befreite sich mit dem Gedanken: Der liebe Gott hat alles gemacht. Er selbst kann aber nur von Nichts stammen; kommt also doch was von nichts – bäh!

Könnte er nicht durch sich selbst zustande gekommen sein. Aber dieser Gedanke ist so, als wenn man über die fünfte Dimension redet, ohne sich die vierte vorstellen zu können. Trotzdem fühle ich dabei eine Gottnähe, weil ich dank meiner Phantasie überhaupt so etwas annehmen kann, und es mich über unsere reale Welt erhebt, deren physikalische Funktionsweise dieser Vision zuwiderläuft, und ich spüre dankbar jene Befeiung in mir. Sie verleiht mir eine eigenartige Würde, die ich als Teilmenge meiner kosmischen Religiosität empfinde.

Diese Würde entsprach nicht der jener Blondgelockten mir gegenüber sitzend, deren einstig seelenvoller, stolzer Blick mich verwirrte. Sie war mit einem Alkoholiker verheiratet, der seinen ganzen Unrat menschlicher Enttäuschung von sich und der Welt über seine Frau ausgeschüttet hatte, unter dem ihre Würde zu ersticken drohte. Sie bäumte sich auf, kämpfte, erlebte ihre Menschenwürde als was Kostbares und ihr inneres Bewusstsein prägte ihre Physis. Die Körperhaltung erschien straff und stolz. Doch das Erleben einer sinnlosen, gottverlassenen Existenz teilte sie mit ihrem Mann gleichermaßen, und in ihnen spukte ständig das Gespenst von Langeweile. Aber ihr Mann war mit seinem Alkoholleiden gewissermaßen von ihr abhängig, wimmerte oft wie ein Kleinkind. Das gab ihr Stärke. Die Nachbarn bedauerten sie, wenn ihr Mann mal wieder volltrunken heimkam, doch ihr Selbstwertgefühl wurde nur noch gesteigert.

Vor einem halben Jahr war ihr Mann gestorben. Seitdem hatten ihre Augen einen gleichgültigen, traurigen Ausdruck, ihr Körper war wabbelig und träge geworden, eine Batterie ohne Spannung. Ihre Würde hatte die Frau kläglich eingebüßt. Mit schlabberigem Pullover, in sich zusammengesunken, saß sie auf der harten Holzbank, einsam und leer, ein Nichts in der riesigen Stadt. Bäume, die Unwettern ausgesetzt sind, werden halt stärker, prägnanter, als die, welche im Schutz des Waldes vor sich hinvegetieren.

In diesem Augenblick war Heidi in den Waschsalon gekommen. Eine „Reaktionäre“ dachte ich anfangs, weil sie das Aussehen und Gebaren eines Modells hatte. Doch ich kam mit ihr ins Gespräch, und meine Vorstellung ihr gegenüber entpuppte sich als Vorurteil. Sie arbeitete bei einem Kreditinstitut im Kundenservice und man verlangte nun mal von ihr ein derartig angepasstes Outfit. Sie träumte von einer brüderlichen Gesellschaft und hätte sich gerne ihrer Einstellung und ihrem Geschmack gemäß gestylt und bedauerte, dass die Kollegen sie dann bekämpfen würden wie einen Albino in einem Starenschwarm von seinen konform schwarzen Artgenossen. Heidi meinte, ihr Mimikry schütze sie, die Schizophrenie hatte sich damit gleichzeitig manifestiert.

Ich fragte Heidi nach Gott, ob sie sich seine Anwesenheit im Waschsalon vorstellen könne. Nun, meinte sie, Gott ist in den Köpfen der Leute gespeichert, wie ein Teil von einem Computerprogramm, man bräuchte es nur aktivieren. So ist am Feierabend der Waschsalon eine gottfreie Zone, denn mit dem letzten Kunden ist auch Gott verschwunden.

Eine korpulente Dame war gerade vorbeistolziert, und plötzlich verlor sie eine schwarze Strapse aus ihrer Plastiktasche. Ich machte sie darauf aufmerksam. Geschwind steckte sie das Teil mit ihren fleischig-patschigen Händen wieder ein, mit vor Scham errötetem Gesicht. Ja, ja, die verlogene Doppelmoral und ihr gesellschaftlicher Sittenkodex und diese kleine Dickmadam als ein Opfer. Von mir aus bräuchte sie sich doch nicht zu schämen. Ich mag Dicke. Und ich stellte mir vor, es wäre plötzlich eine Methode da, Menschenkörper nach dem Ideal umstrukturieren zu können. Oh, Gott, was würde dann mit unserem molligen Bäcker Herr Mertens am Ende unserer Gasse und seiner dürren Bohnenstange von Frau geschehen, befänden sie sich auf einmal in diesen Superkörpern. Wir liebten Herrn Mertens drollige Glatze und seine gutmütigen Augen, auch wenn seine Ehefrau behauptete, er wäre ein arger Choleriker. Man hörte sie ab und zu mit ihrer schrillen Stimme schimpfen und er dackelte mit gesenktem Haupt und vorgeschobener Wampe hinterdrein. Wenn sie jetzt mit diesen gestählten schönen Körpern daher kommen sollten, ginge alle diese spießbürgerliche Herzigkeit, alle Sympathie, die wir in ihnen erblickten, verloren. Eine scheußliche Vorstellung. Da war ich froh über diese nudeldicke Dame mit Strapse.

Erstaunlich diese vielfältige Palette von Klamotten, zweckmäßiger Berufskleidung gleichermaßen wie verspielten, irgendwie neckisch anmutende Sachen, welche die Schrullen und Eitelkeiten ihrer Besitzer unbewusst offenbarten. Ich überlegte, ob unser Schöpfer in den Kleidungsstücken erkennbar wird, sind wir doch vielleicht ein Abdruck, wenn auch nur eine winzige Facette seiner selbst. Ich glaube nicht. Gott hat die Evolution ausgelöst, sie am Anfang mit einigen Prämissen als Weichenstellung versehen, und einen ungewiss verlaufenden Automatismus als schöpferisches Element gewollt, und so wird jede einzelne Kreatur eigenständig und frei von ihm.

So sehe ich meine von mir entworfene und gestaltete Seidenbluse als von Gott unmanipulierte eigene Erfindung an, die ausschließlich etwas von mir widerspiegelt. Sicher hätte Gott eine Welt kreieren können, in der es keine Blusen geben könnte. Und dann kommt mir der Gedanke, gibt es überhaupt Blusen. Real, so wie wir täglich mit ihnen Umgang pflegen, gewiss nicht. So gaukeln uns bestimmte Lichtwellen eine farbige Scheinwelt vor. Die Körper und Stoffe sind physikalisch gesehen strömende Energie, Bestandteile von Atomen mit Protonen als Kerne, um die negativ-geladene Elektronen kreisen. Das Wissen darum aber ist der Freude an meinem inneren Bild von meiner Bluse nicht abträglich. Im Gegenteil macht sich ein Knistern beim Nachdenken über die verborgenen Dinge dieser Welt und bei dessen Annäherung in mir breit, bedeutet mehr Transparenz meines Selbst zu Gott. Diese Transparenz in uns ist jederzeit abrufbar, ist in uns bewusst zu machen, und lässt uns sogar in einem Waschsalon einen Hauch göttlich werden.

*
 
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Epiklord

Gast
Die Freiheit liegt darin, dass man sie denken kann.

Wenn ich nicht gerade Kandisberge auf meinem Gedankenstrahl versetze, bewege ich mich ganz bewusst im Kreis. Ich bin ein enthusiastischer Kreisgänger. Circulus vitiosus – alles andere wäre vermessen. Columbus wusste auch, die Erde ist rund und man kommt so an seinen Aufbruchspunkt zurück. Ich laufe ebenso herum, denn wer sich nicht fortbewegt, würde Amerika nicht entdecken oder aufs verschollene Bernsteinzimmer treffen. Mir ist natürlich ebenso klar, dass die Erde rund ist und dass sich an dieser Erkenntnis nichts ändern wird.

Den gemeinen Strandfloh trifft man nicht selten verhältnismäßig weit am Lande im feuchten Sand an, wo er sich unter Algen befindet, mit denen er angespült wurde. Das Wiederfinden seines schmalen, am Strande gelegenen Lebensraumes bedeutet für ihn eine Lebensfrage. Interessanterweise findet er stets zurück. Man könnte den Floh mitten in der Sahara aussetzen, er würde mit Sicherheit zielstrebig zum Meer wandern, und zwar, ohne jemanden nach dem Weg gefragt zu haben, und ohne die Hilfe eines Reiseleiters von Neckermann in Anspruch zu nehmen. Auch unsere Brieftauben finden sich zurecht. Diese Tatsachen versetzen uns Menschen leicht in Erstaunen, denn den Tierchen fehlt ja in ihrer Ausstattung jegliches geistige Selbstbewusstsein, wie es unsere Population ziert.

Wäre es voreilig, den Schluss zu ziehen, was für den gemeinen Strandfloh gilt, wäre auch für den Menschen denkbar? Anhand des Flohverhaltens erkennen wir ja, dass eine äußerst zweckbezogene Handlung auch ohne geistiges Selbstbewusstsein zustande kommt. Also, wir würden dennoch unseren Mercedes finden, unseren Sonntagsanzug, und bestimmt auch den Knopf für die Atombombe. Die Frage stellt sich nun, warum wir trotzdem ein Selbstbewusstsein haben. Es gibt unzählige Leute, die Unsinn treiben, was Tiere nicht tun. Ist es ein Beweis dafür, dass das geistige Selbstbewusstsein etwa ein zum Unsinn prädestiniertes Organ darstellt? Das Ärgste ist, dass jene Leute sich auch noch bei ihrem Unsinn vor Stolz in Affenmanier auf die Brust schlagen.

Die Galaxien rotierten, Mutter Erde rotierte und die Waschtrommeln im Waschsalon. Während ich meine Wäsche beobachtete, wie sie in den Maschinen kreiste, kam mir Gott in den Sinn, was immer es auch sein mag. Im Waschsalon hat man auch die Muße dazu, und wird nicht durch Musik und Werbung abgelenkt. Im Waschsalon über Gott nachzudenken, ist so, als wenn man an einem kalten Ofen sitzend über dessen Funktionsweise reflektieren würde, und sich so an ihm wärmen könnte (wie klimaschonend das doch wäre!). Die nüchterne Atmosphäre des Waschsalons bot mir eine konkrete Versuchung Gott näher zu kommen.

Und der Gang in den Waschsalon ersparte mir zudem den in die Kirche. Die Moralpredigten dort bringen einen auch mehr den Menschen mit ihren mehr oder wenigeren Defiziten in diesem Bereich näher als Gott. Und dann soll Gott uns nach seinem Bild geschaffen haben. Dort vor dem Trockner hatte jemand einen Socken liegen lassen. Einen Socken stricken, der ja auch nach unserem Bild entsteht, aber eben kein Bild von uns ist. Würden fremde Wesen eine derartige Fußbekleidung von uns untersuchen, könnten sie wohl kaum anhand derer eine annähernd genaue Phantomzeichnung von uns anfertigen. Selbst ein Kunstwerk, das seinen Produzenten sofort verrät, kann keinen algorithmisch präzisen Aufschluss über diesen wiedergeben. Und Gott lässt sich nicht in ein Denkschema eines Kausalitätsprinzips einordnen, denn wenn wir durch ihn entstanden sind, woher stammt dann Gott. Als Kind musste man sich ja schon mal anhören: „Von nichts kommt nichts!“, fühlte sich zu Unrecht von der Mutter angefrotzt, lag dann nach dem Gute-Nacht-Gebet in seinem Bettchen und befreite sich mit dem Gedanken: Der liebe Gott hat alles gemacht. Er selbst kann aber nur von Nichts stammen; kommt also doch was von nichts – bäh!

Könnte er nicht durch sich selbst zustande gekommen sein. Aber dieser Gedanke ist so, als wenn man über die fünfte Dimension redet, ohne sich die vierte vorstellen zu können. Trotzdem fühle ich dabei eine Gottnähe, weil ich dank meiner Phantasie überhaupt so etwas annehmen kann, und es mich über unsere reale Welt erhebt, deren physikalische Funktionsweise dieser Vision zuwiderläuft, und ich spüre dankbar jene Befeiung in mir. Sie verleiht mir eine eigenartige Würde, die ich als Teilmenge meiner kosmischen Religiosität empfinde.

Diese Würde entsprach nicht der jener Blondgelockten mir gegenüber sitzend, deren einstig seelenvoller, stolzer Blick mich verwirrte. Sie war mit einem Alkoholiker verheiratet, der seinen ganzen Unrat menschlicher Enttäuschung von sich und der Welt über seine Frau ausgeschüttet hatte, unter dem ihre Würde zu ersticken drohte. Sie bäumte sich auf, kämpfte, erlebte ihre Menschenwürde als was Kostbares und ihr inneres Bewusstsein prägte ihre Physis. Die Körperhaltung erschien straff und stolz. Doch das Erleben einer sinnlosen, gottverlassenen Existenz teilte sie mit ihrem Mann gleichermaßen, und in ihnen spukte ständig das Gespenst von Langeweile. Aber ihr Mann war mit seinem Alkoholleiden gewissermaßen von ihr abhängig, wimmerte oft wie ein Kleinkind. Das gab ihr Stärke. Die Nachbarn bedauerten sie, wenn ihr Mann mal wieder volltrunken heimkam, doch ihr Selbstwertgefühl wurde nur noch gesteigert.

Vor einem halben Jahr war ihr Mann gestorben. Seitdem hatten ihre Augen einen gleichgültigen, traurigen Ausdruck, ihr Körper war wabbelig und träge geworden, eine Batterie ohne Spannung. Ihre Würde hatte die Frau kläglich eingebüßt. Mit schlabberigem Pullover, in sich zusammengesunken, saß sie auf der harten Holzbank, einsam und leer, ein Nichts in der riesigen Stadt. Bäume, die Unwettern ausgesetzt sind, werden halt stärker, prägnanter, als die, welche im Schutz des Waldes vor sich hinvegetieren.

In diesem Augenblick war Heidi in den Waschsalon gekommen. Eine „Reaktionäre“ dachte ich anfangs, weil sie das Aussehen und Gebaren eines Modells hatte. Doch ich kam mit ihr ins Gespräch, und meine Vorstellung ihr gegenüber entpuppte sich als Vorurteil. Sie arbeitete bei einem Kreditinstitut im Kundenservice und man verlangte nun mal von ihr ein derartig angepasstes Outfit. Sie träumte von einer brüderlichen Gesellschaft und hätte sich gerne ihrer Einstellung und ihrem Geschmack gemäß gestylt und bedauerte, dass die Kollegen sie dann bekämpfen würden wie einen Albino in einem Starenschwarm von seinen konform schwarzen Artgenossen. Heidi meinte, ihr Mimikry schütze sie, die Schizophrenie hatte sich damit gleichzeitig manifestiert.

Ich fragte Heidi nach Gott, ob sie sich seine Anwesenheit im Waschsalon vorstellen könne. Nun, meinte sie, Gott ist in den Köpfen der Leute gespeichert, wie ein Teil von einem Computerprogramm, man bräuchte es nur aktivieren. So ist am Feierabend der Waschsalon eine gottfreie Zone, denn mit dem letzten Kunden ist auch Gott verschwunden.

Eine korpulente Dame war gerade vorbeistolziert, und plötzlich verlor sie eine schwarze Strapse aus ihrer Plastiktasche. Ich machte sie darauf aufmerksam. Geschwind steckte sie das Teil mit ihren fleischig-patschigen Händen wieder ein, mit vor Scham errötetem Gesicht. Ja, ja, die verlogene Doppelmoral und ihr gesellschaftlicher Sittenkodex und diese kleine Dickmadam als ein Opfer. Von mir aus bräuchte sie sich doch nicht zu schämen. Ich mag Dicke. Und ich stellte mir vor, es wäre plötzlich eine Methode da, Menschenkörper nach dem Ideal umstrukturieren zu können. Oh, Gott, was würde dann mit unserem molligen Bäcker Herr Mertens am Ende unserer Gasse und seiner dürren Bohnenstange von Frau geschehen, befänden sie sich auf einmal in diesen Superkörpern. Wir liebten Herrn Mertens drollige Glatze und seine gutmütigen Augen, auch wenn seine Ehefrau behauptete, er wäre ein arger Choleriker. Man hörte sie ab und zu mit ihrer schrillen Stimme schimpfen und er dackelte mit gesenktem Haupt und vorgeschobener Wampe hinterdrein. Wenn sie jetzt mit diesen gestählten schönen Körpern daher kommen sollten, ginge alle diese spießbürgerliche Herzigkeit, alle Sympathie, die wir in ihnen erblickten, verloren. Eine scheußliche Vorstellung. Da war ich froh über diese nudeldicke Dame mit Strapse.

Erstaunlich diese vielfältige Palette von Klamotten, zweckmäßiger Berufskleidung gleichermaßen wie verspielten, irgendwie neckisch anmutende Sachen, welche die Schrullen und Eitelkeiten ihrer Besitzer unbewusst offenbarten. Ich überlegte, ob unser Schöpfer in den Kleidungsstücken erkennbar wird, sind wir doch vielleicht ein Abdruck, wenn auch nur eine winzige Facette seiner selbst. Ich glaube nicht. Gott hat die Evolution ausgelöst, sie am Anfang mit einigen Prämissen als Weichenstellung versehen, und einen ungewiss verlaufenden Automatismus als schöpferisches Element gewollt, und so wird jede einzelne Kreatur eigenständig und frei von ihm (und Gott weniger einsam).

So sehe ich meine von mir entworfene und gestaltete Seidenbluse als von Gott unmanipulierte eigene Erfindung an, die ausschließlich etwas von mir widerspiegelt. Sicher hätte Gott eine Welt kreieren können, in der es keine Blusen geben könnte. Und dann kommt mir der Gedanke, gibt es überhaupt Blusen. Real, so wie wir täglich mit ihnen Umgang pflegen, gewiss nicht. So gaukeln uns bestimmte Lichtwellen eine farbige Scheinwelt vor. Die Körper und Stoffe sind physikalisch gesehen strömende Energie, Bestandteile von Atomen mit Protonen als Kerne, um die negativ-geladene Elektronen kreisen (einfachstes Modell). Das Wissen darum aber ist der Freude an meinem inneren Bild von meiner Bluse nicht abträglich. Im Gegenteil macht sich ein Knistern beim Nachdenken über die verborgenen Dinge dieser Welt und bei dessen Annäherung in mir breit, bedeutet mehr Transparenz meines Selbst zu Gott. Diese Transparenz in uns ist jederzeit abrufbar, ist in uns bewusst zu machen, und lässt uns sogar in einem Waschsalon einen Hauch göttlich werden.

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