Gottes Wege sind unergründlich

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Kojiro

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Gottes Wege sind unergründlich

Mit Herrn Dinkel ging es bergab: Kein Geld, Alkoholiker und Streit in der Familie.
Mit seinen 40 Jahren sollte er sich so leer, erschöpft und des Lebens müde fühlen, dass er mehrere Selbstmordversuche durchlebte – allerdings blieb es bei den Versuchen.
Die Nacht war jung, Dinkel alt und besoffen. Seiner Trunksucht nachgebend schwankte er durch die dunklen Gassen der Stadt, verlor sich in den schwarzen Häuserschluchten, fand sich wieder auf menschenleeren Plätze, verirrte sich in den schmalen Straßen, alles lief im Kreis, alles drehte sich; In den Wirren der Trunkenheit erschien ihm die Welt verwinkelter, eckiger, jede Berührung mit einem Gegenstand jeglicher Art rief höllische Schmerzen hervor, ihm kam alles so spitz und rau vor, als ob er an einen Ort gelangt sei, wo er nicht hingehörte und wo man ihm dies auch zu erkennen gab.
Die Flasche hatte er in der Rechten fest umklammert, die Tüte mit Nachschub in der Linken. Er stolperte, fiel auf den steinigen Grund, kroch weiter, richtete sich mit großer Mühe wieder auf, stolperte, fiel, kroch, stand auf, fiel wieder. Wenn man ihn gefragt hätte, wohin er des Weges wäre, hätte er selber keine Antwort auf diese Frage gehabt. Gepeitscht vom Alkohol suchte er sich instinktiv ein warmes Nest in der Schwärze der Nacht, um sich im Mantel der Dunkelheit vor der ganzen Zivilisation zu verbergen.
Irgendwann, nachdem er unzählige Straßen, Laternen, Häuser doppelt gesehen hatte, sackte er in sich zusammen und blieb auf dem steinigen Grund liegen.
Die Welt drehte sich weiter. Die Lichter von Neonreklamen und Laternen tanzten.
Er starrte in das Licht, welches die Laterne über ihn warf, als plötzlich das Gesicht einer Frau in sein Blickfeld geriet. Dinkel erstarrte. Die Frau lächelte und richtete Dinkel auf, so dass er sich mit den Rücken an einer nahe liegenden Hauswand lehnen konnte. Dinkel wäre gerne davon gelaufen, allerdings entzog sich sein Körper mittlerweile seiner eigenen Autorität.
Die Frau war schlank, hatte eine dunkle Hautfarbe und trug weite Kleider, so dass man ihre äußerst hübsche Figur nur erahnen konnte. Sie hatte langes schwarzes Haar und einen sonderbaren Blick, den zwei scharfe braune Augen entsandten.
„Bläst Du mir einen für 100$?“, fragte Dinkel, mehr stotternd als redend. Er könnte eine Nummer im „Bett“ mal wieder gebrauchen.
„Nein, aber für 50$ sage ich dir deine Zukunft voraus.“, sagte die Frau ausdruckslos.
Dinkel musste lachen. Welche Zukunft? Er war gestern Abend gefeuert worden, hatte fast sein ganzes Geld versoffen und seine Frau war auf dem besten Weg ihn zu verlassen.
„Wahrscheinlich zweifeln Sie an meinen Qualitäten. Das tun alle. Doch bisher sind alle Dinge so eingetroffen, wie ich sie vorhergesagt habe. Sie brauchen mir nicht glauben, Sie werden es ja erfahren.“, hier musste sie leise kichern, „Doch Vorsicht ist geboten: Mit der Zukunft ist nicht zu spaßen, sie mag grausam aussehen, doch wenn Sie versuchen Ihrem Schicksal zu entrinnen, laufen Sie diesem direkt in die Arme. Versuchen Sie auch nicht, Ihr Schicksal in Kraft treten zu lassen – das Schicksal sucht und findet Sie, nicht umgekehrt.“, sprach die Frau leise. Ihr Ton war kalt und berechnend – sie beschränkte ihr Denken anscheinend auf das Geschäftliche.
Was soll’s, dachte Dinkel, er hatte eh nichts mehr zu verlieren, die paar Kröten machen’s auch nicht mehr. Er machte das Geld locker und war gespannt, was sich die Frau für eine Zukunft ausdenken würde. Ein kleines Grinsen konnte er sich nicht verkneifen.
Die Frau zauberte aus der Innentasche ihres weiten Mantels eine Glaskugel hervor.
„Ich sehe eine glückliche Frau. Es ist Ihre Frau. Sie hat eine sehr kleine Nase und große Ohren.“
Dies stimmte. Seine Frau hatte wirklich eine ausgesprochen kleine Nase und dies im hässlichen Kontrast mit den äußerst großen Ohren.
„Ich sehe drei glückliche Kinder in einem saftig grünen Garten tollen.“
Dinkel wurde stutzig – er hatte nämlich exakt drei Kinder.
„Ich sehe im Hintergrund ein großes Haus mit strahlend weißen Wänden, davor steht Ihre Frau und schaut Ihren Kindern zu.“
Grüner Garten und riesiges Haus? Komisch, er wohnte mit seiner Familie eigentlich in einem Mehrfamilienhaus im 13. Stock.
„Ich sehe, wie einen roter Sportwagen in die Einfahrt des Hauses fährt.“
Roter Sportwagen? Dinkel fuhr einen alten VW.

Erwartungsvoll schaute Dinkel drein – mochte auf ihn doch eine lebenswerte Zukunft warten?
Wie aus allen Irrationalen Dingen schöpfte Dinkel daraus Hoffnungen und fand Zuflucht im Aberglauben.

Am nächsten Tag plante Dinkel sein Leben umzukrempeln: Er bewarb sich bei vielen Arbeitgebern, machte seiner Frau mit einem Essen eine Freude, nahm sich vor, nicht mehr zur Flasche zu greifen, rasierte und wusch sich. Er wurde erfüllt vom neuen Lebensmut, erhielt bald eine Arbeitsstelle und begann sein Vermögen kontinuierlich aufzubauen und freute sich auf ein wohlhabendes Leben.
Das Glück gestattete es ihm sogar nach Tokio zu reisen – er musste geschäftlich dorthin fliegen und wurde vom Chef als der Richtige auserkoren.
Noch bevor Dinkel in das Flugzeug stieg, faltete er seine Hände, sah zum Himmel empor und dankte Gott vom ganzen Herzen für dieses Leben.
Doch das Flugzeug, in dem Dinkel reiste, verunglückte; er starb noch am selbigen Tag.
Seine Frau heiratete einen reichen Mann. Sie kauften sich ein riesiges Haus mit strahlend weißen Wänden und einem saftig grünen Garten, in dem die Kinder spielten. Ihr neuer Mann kam jeden Tag mit einem roten Sportwagen zurück von der Arbeit.
 



 
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