Grabrede eines Erwachten

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HerrK

Mitglied
Wem ich erzählen würde, ich erwachte in ein Gewittern bunter Farben, taumelnd aus dem grauen Schlauch, der unser Leben schluckt, der glaubte nicht, der wollte sich nicht vorstellen, dass es sein könnte, der glaubte nicht. Er würde meinen Verstand anzweiflen. Zweifeln, an mir, zweifeln und zweifeln. Warum glaubte er mir nicht?
Oder sie? Warum glaubten sie mir nicht? Glauben Sie mir nicht, weil Sie Angst haben? Glaubt er mir nicht, weil er beschränkt ist? Glaubt sie mir nicht, weil er sie beschränkt? Glaube ich mir nicht, weil ich Erbauer eben jener Schranke bin, die ich euch so vorwerfe? „Baue auf! Baue auf!“, schallt es laut in meinem Kopf. „Baue auf!“

Ich baue ab!

Ich werde euch verraten, warum ihr mir nicht glauben wollt, könnt, sollt, wollt, was immer. Jeder Mensch erwacht, fast jeden Morgen erwacht er, manchmal mittags, selten abends. Er erwacht immer wieder, erwacht, erwacht, erwacht, wundernd, jedes Mal aufs Neue wundernd. Wundernd, warum er grau ist, graue Haare, grauer Mantel, grauer Herr. Er müsste es nicht sein, und doch ist er es. Ist es, weil er alle Farben hasst, weil er jeden Morgen betet: „Mache jede Farbe blass!“ Er erwacht wundernd. Er erwacht und schält sich aus seinem grau entfärbten Morgenmantel in die blasse Dusche. Er föhnt sich aus der Dusche und bleicht die Zähne, freut sich schon aufs weiße Hemd. Du wunderst dich, dass du keine Farben siehst? Er setzt sich in sein Auto, gast sich zum Büroturm, Waschbeton und Aktenstapel. Mittags matscht du in dich rein was jeder matscht, Motoröl aus totem Tier. Weiter geht es, fleißig bleichen, zwischen Aktenvernichter, Laptop und der grauen Wand. Du hasst mich, weil ich Farben sehe? Du merkst sie auch, die bunten Blitze im Augenwinkel, die Welt, die vor den Akten war. Jedes Mal kniest du dann nieder auf einem Teppich aus Geld, kniest vor Konto, Wagen, Haus. Du kniest und betest voller Angst:

„Mach, dass alles Bunte weicht! Mache jede Farbe blass! Sperr mich ein in meinem Turm, halt sie fern die bunte Welt! Ich bitte dich, beschütze mich vor einem Sein das mehr kennt als die Farben Schwarz und Weiß! Was soll ich anziehen in der Früh, was soll ich denken, ich soll denken?!? Du erzählst mir doch vom Silberglück! Das Glück der Schwarz gedruckten Zahl! Du hast mir doch gezeigt: Der Regenbogen ist für Menschen, die nicht wissen wie man lebt! Du hast ihn mir gezeigt, den Pfad aus heiligem Asphalt! Du hast es mir gezeigt!
Mach, dass jede Farbe weicht!“
 

Wünstler

Mitglied
Hallo HerrK,

die Welt ist manchmal wirklich farblos. Wir leben alle in Einbahnstraßen, ohne viel nach links und rechts zu schauen.
Ich hoffe, hier ist als Alternative nicht die schöne bunte Werbewelt gemeint.

Quote
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Oder sie? Warum glaubten sie mir nicht? Glauben Sie mir nicht, weil Sie Angst haben? Glaubt er mir nicht, weil er beschränkt ist? Glaubt sie mir nicht, weil er sie beschränkt?
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Hier ist es vielleicht wichtig, ob der Leser direkt mit "Sie"
angesprochen wird.

Dein Wünstler
 

HerrK

Mitglied
Lieber Wünstler,

nein, die bunte Werbewelt ist da nun wirklich keine Alternative, da werden Farbenblinden doch nur Farben vorgegaukelt.

Das "Sie" ist absichtlich groß, der Erzähler spricht den Leser direkt an.

Danke für den Kommentar und liebe Grüße
HerrK
 

HerrK

Mitglied
Wem ich erzählen würde, ich erwachte in ein Gewitter bunter Farben, taumelnd aus dem grauen Schlauch, der unser Leben schluckt, der glaubte nicht, der wollte sich nicht vorstellen, dass es sein könnte, der glaubte nicht. Er würde meinen Verstand anzweiflen. Zweifeln, an mir, zweifeln und zweifeln. Warum glaubte er mir nicht?
Oder sie? Warum glaubten sie mir nicht? Glauben Sie mir nicht, weil Sie Angst haben? Glaubt er mir nicht, weil er beschränkt ist? Glaubt sie mir nicht, weil er sie beschränkt? Glaube ich mir nicht, weil ich Erbauer eben jener Schranke bin, die ich euch so vorwerfe? „Baue auf! Baue auf!“, schallt es laut in meinem Kopf. „Baue auf!“

Ich baue ab!

Ich werde euch verraten, warum ihr mir nicht glauben wollt, könnt, sollt, wollt, was immer. Jeder Mensch erwacht, fast jeden Morgen erwacht er, manchmal mittags, selten abends. Er erwacht immer wieder, erwacht, erwacht, erwacht, wundernd, jedes Mal aufs Neue wundernd. Wundernd, warum er grau ist, graue Haare, grauer Mantel, grauer Herr. Er müsste es nicht sein, und doch ist er es. Ist es, weil er alle Farben hasst, weil er jeden Morgen betet: „Mache jede Farbe blass!“ Er erwacht wundernd. Er erwacht und schält sich aus seinem grau entfärbten Morgenmantel in die blasse Dusche. Er föhnt sich aus der Dusche und bleicht die Zähne, freut sich schon aufs weiße Hemd. Du wunderst dich, dass du keine Farben siehst? Er setzt sich in sein Auto, gast sich zum Büroturm, Waschbeton und Aktenstapel. Mittags matscht du in dich rein was jeder matscht, Motoröl aus totem Tier. Weiter geht es, fleißig bleichen, zwischen Aktenvernichter, Laptop und der grauen Wand. Du hasst mich, weil ich Farben sehe? Du merkst sie auch, die bunten Blitze im Augenwinkel, die Welt, die vor den Akten war. Jedes Mal kniest du dann nieder auf einem Teppich aus Geld, kniest vor Konto, Wagen, Haus. Du kniest und betest voller Angst:

„Mach, dass alles Bunte weicht! Mache jede Farbe blass! Sperr mich ein in meinem Turm, halt sie fern die bunte Welt! Ich bitte dich, beschütze mich vor einem Sein das mehr kennt als die Farben Schwarz und Weiß! Was soll ich anziehen in der Früh, was soll ich denken, ich soll denken?!? Du erzählst mir doch vom Silberglück! Das Glück der Schwarz gedruckten Zahl! Du hast mir doch gezeigt: Der Regenbogen ist für Menschen, die nicht wissen wie man lebt! Du hast ihn mir gezeigt, den Pfad aus heiligem Asphalt! Du hast es mir gezeigt!
Mach, dass jede Farbe weicht!“
 



 
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