Grenzen

muskl

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Grenzen


Das Wasser hatte eine dunkle Farbmischung, es schien sich aus Schwarz, Braun und Grau zusammenzusetzen. Leute die es nicht besser wussten, nannten es Brackwasser oder Brühe, extreme verstiegen sich sogar zu der Aussage Kloake. Die letztgenannten waren entweder Menschen, die noch nie die Nordsee aus der Nähe gesehen haben, oder die nicht näher als 10 Meter an sie heran gekommen waren. Die Ansicht aus der Entfernung wirkt auf viele Menschen abschreckend, sie wirkt nicht nur dunkel, sondern auch kalt und grundlos. Wenn der Sturm peitscht, sprüht die Gischt und schießt kleine Tropfen wie Nägel. Selbst wenn der Wind nur stark weht, rollt sie schwarze Wellen mit kurzer Dünung an das Land. Nur in den Momenten in denen kaum ein Lüftchen wehte oder die Sonne schien, wirkte sie heller, farbiger und friedlich.

Die Menschen die sie kannten hatten nur noch wenig Angst, aber einen großen Respekt vor der selten warmen Nordsee. Die an ihr lebten und auf ihr arbeiteten, wussten was sie anrichten konnte, welche Macht sie hatte und wie es war, sich ihr auszuliefern. Es gehörten Mut dazu sie zu befahren oder sich auf ihrem Grund zu bewegen, was möglich war, wenn die See dem Mond gehorchte und sich für Stunden zurück zog. Vertrauen war nötig um sich ihrem Willen hinzugeben, immer in der Hoffnung, dass sie einen nicht holte.

Sehr gefährlich wurde sie immer, wenn sie ihr Land zurück holen wollte. Die Menschen an der Küste hatten sie über Jahrhunderte immer weiter zurück gedrängt, um dadurch Land zu gewinnen. Sie hatte es ihnen nie leicht gemacht, es waren harte Kämpfe, mit vielen Opfern. Aber eine immer bessere Technik hatte sie immer weiter entfernt. Aber von Zeit zu Zeit kam sie mit Gewalt und forderte ihr Land, auch dabei nahm sie meistens ein paar Menschenleben mit hinaus. Allerdings lernten die Menschen schnell, waren inzwischen in der Lage, sie weitestgehend zurück zu halten. Nur manchmal kam sie zu schnell und überraschend, dann hinterließ sie wieder Opfer und große Schäden.

Am äußersten Zipfel des sogenannten Elbe-Weser-Dreiecks liegt Cuxhaven, eine Stadt zwischen den Mündungen von Elbe und Weser. Von manchen wegen ihres direkten Zugangs zur Nordsee als Tor zur Welt bezeichnet, von manchen jüngeren Einheimischen oft als Ende der Welt. Man hatte es hier nicht einfach, umgeben von Wasser schränkte es die Möglichkeiten ein, eine Arbeit zu finden oder gute Geschäfte zu machen, vor allem bei einem Menschenschlag, dem es noch wichtig war etwas in die Hand zu versprechen und dem anderen dabei in die Augen zu schauen. Die jahrzehntelange Haupteinnahmequelle der Menschen, der Seefischfang, war innerhalb von 2 Jahrzehnten zusammengebrochen, daran erinnerten nur noch die alten Fischhallen. Inzwischen hatte sich die Stadt zu einem Touristenziel gewandelt. Die frische Meeresluft war angenehm, die Unterkünfte waren bezahlbar und es gab verschiedene Strände und Kuranlagen. Selbst die Einheimischen hatten sich an die manchmal merkwürdigen Besucher gewöhnt und sie als Einnahmequelle akzeptiert.

An der Grenze zum Wasser liegt ein kilometerlanger Sandstrand, aber es gibt auch eine Bucht als Grünstrand. Halbreisförmig zieht sie sich über eine Länge von mehreren hundert Metern am Wasser entlang. An ihrer äußeren Grenze zum Land zieht sich der Deich ebenfalls halbkreisförmig dahin. Die Bucht ist wie eine Arena, ein hoher Deich langsam abfallend, davor eine große Fläche Grünland, auf dem im Sommer viele Strandkörbe standen, sich viele Menschen der Sonne und der Salzluft aussetzten. Vor der Wassergrenze gab es ein schmales Band Teerstraße, auf dem es sich gut laufen oder Fahrrad fahren lassen konnte. Danach kamen dann nur noch ein kleiner gemauerter Rand und viele Felsbrocken davor als Wellenbrecher. An einigen Stellen gab es Aussparungen in der Mauer, als Zugang zu einem kleinen Strandabschnitt, ansonsten sind die Steine die Grenze zum Wasser.

Wenn man so nahe dabei stand, dass Wasser über die Felsbrocken laufen sah, erkannte man die wirkliche Klarheit der Nordsee. Die Luft war kalt und feucht, der Wind stark, dass Wasser kam nahe bis an die Grenze zum Übergang. Die kleinen, kurzen Wellen waren wild und brachen sich ungestüm an der Kante. Ein wenig mehr Wind als Energie würde ihnen die Kraft geben, auf das Land zu springen und wieder einen Anfang zur Eroberung zu machen. Die Bucht war im Winter ruhig, zu dieser Zeit waren kaum Menschen unterwegs, nur die es liebten waren unentwegt dabei sich dem Wetter auszusetzen.

Dort stand er schon seit fast einer Stunde an der Schwelle zur Kälte, dicht vermummt, scheinbar bewegungslos. Er hatte schon an Grenzen gestanden, offene, geschlossene und eigene. Eigene Grenzen, wenn es denn körperliche waren, standen permanent offen und luden ständig zum Überschreiten ein, was er dann auch zu oft tat. Die seelischen Grenzen waren, wenn er sie denn kannte, oft verschlossen und auch an diesen Grenzen verausgabte er sich oft. Nur mit dem Unterschied, dass es kein Ergebnis erbrachte, es war wie ein immer währendes Rennen gegen Mauern, nach dem Abprall kam unermüdlich der nächste Anlauf, nur um wieder abzuprallen.

Die Wassergrenze war leicht zu überschreiten, er musste bloß den ersten Schritt machen, sich vor wagen. Mit dem "vor wagen" hatte er schon immer Probleme gehabt, nicht das er Feige war, nur vorsichtig, oft zu vorsichtig. In seinen persönlichen Beziehungen war es, zu seiner Verblüffung, immer schnell erkannt und wurde als "Hintertürchen" benannt, bisher mit einer Übereinstimmung die ihn immer wieder aufhorchen ließ. Wie hatte er sich über das ständige Gerede vom "Hintertürchen" aufgeregt, sich heiß geredet um davon zu überzeugen, das es sie für ihn nicht gab. Für ihn war es immer eine Entscheidung zur Sicherheit gewesen, mit einem Bein in einer Beziehung zu stehen, aber mit dem anderen draußen. Das erlaubte ihn, seiner Meinung nach, die Beziehung auch als Außenstehender zu betrachten, also mit einer gewissen Distanz. Wenn Partner Probleme hatten, suchten sie Hilfe bei einem Außenstehenden mit Distanz zur Beziehung, das war oft die einzige Rettung. Wenn er mit einem Bein draußen blieb konnte es nur gut sein, zumindest hatte er dann noch einen gewissen Überblick und eine scheinbare Kontrolle über die komplizierten Vorgänge innerhalb seiner Beziehungen.

Einen weiteren Vorteil hatte diese Art der Beziehung, indem er nicht ganz drinstand, konnte er auch nicht ungeschützt und ungestützt herauskippen. Er erhielt sich immer eine Chance sich leicht zurück ziehen zu können, das mit möglichst wenig Schmerz und ohne große Umstände. Ein Bein heraus zu ziehen hatte er oft geschafft, aber das zweite herein zu bringen war ihm nie möglich gewesen. Er hatte sich nie ganz gewagt, nur das Bein gezeigt, welches er für das Beste hielt und was ihm richtig schien. Dabei kam es ihm nie als ein Fehler vor, er zeigte doch alles von dem Bein, selbst die hässlichen Stellen mit den Narben und den unschönen Flecken. Mit dem Bein war er offen und ehrlich, da gab es eine oft auch schockierende Wahrheit die überzeugte. Das andere Bein war seine Sache, gehörte zu seiner Freiheit und Freiheit schätzte er über alles.

Es gab viele Möglichkeiten das Bein zurück zu ziehen, zum einen die selbstschädigende Variante, wenn er Selbst die Folgen trug, zum anderen die Schädigende, wobei es nicht selten vorkam, dass sich beide ergänzten. Bestimmend für beide Varianten war die Angst. Die Angst zuviel von sich zeigen zu müssen, die Angst das jemand sehen würde wie wertlos er sich fühlte. Das er nicht wertlos war wusste er, er Begriff aber nicht woher das Gefühl kam und wieso es immer wieder siegte und zerstörte. Das verstand auch keiner der die Folgen mittragen musste, einerseits das Gefühl inniger Nähe, aber dann ein rücksichtsloses Fortstoßen wie ein seelischer Befreiungsschlag, kaum war eine undefinierbare Grenze überschritten.

Hier an der Wassergrenze wurde ihm klar, er musste nicht die Grenze überschreiten, er musste sie öffnen, damit sich die Gefühle ihr Land zurückholen konnten, dass er über eine lange Zeit immer weiter ausgegrenzt hatte. Er durfte seine Seele mit keinem Deich schützen, Gefühle waren zwar manchmal verletzend und forderten Opfer, aber ob sie tödlich waren, kam auf seinen Umgang mit ihnen an. Seine Seele hatte durch die Trockenlegung gelitten. Er würde den Deich vorsichtig öffnen müssen, damit die Gefühle ihr altes Land wieder versorgen konnten und zu der ursprünglichen Natürlichkeit zurück kehrten. Wenn es sich selbst reguliert hatte, brauchte er nicht mehr die völlige Kontrolle, dann konnte er es fließen lassen und die Schönheit der Natur genießen.

In der Phantasie sah er seine Seelenwiese blühen, voller Leben, ohne einfachen Weg, aber immer mit seinem eigenen. Er würde vorsichtig über diese Wiese gehen müssen, um nicht zu stolpern und nichts wachsendes zu zertreten, vielleicht wäre es besser, jemand würde ihn begleiten. Wenn er seine schöne Wiese offen zeigte, dürfte es kein Problem sein, jemanden zu finden der mit ihm ging. Er brauchte eine Schleuse und die würde er nicht alleine bauen, vielleicht reichte ja schon das Versprechen auf eine schöne Wiese.

Mit diesen Gedanken kehrte er dem Wasser den Rücken zu und lief zu seiner Wohnung, selbst warme Gedanken schützen an der Nordsee nicht vorm frieren.

2001 / Michael
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
donnerwetter,

hier hast du zwei geschichten sehr geschickt zu einer verwoben. alles recht plastisch, man riecht die nordsee förmlich und deinem protagonisten möchte man von ganzem herzen alles gute wünschen. so wie dir. ganz lieb grüßt
 

muskl

Mitglied
liebe grüße zurück. Mein Vorteil bei dieser Geschichte ist, ich habe die köstlich riechende Nordsee direkt vor der Tür und auch in dieser Bucht habe ich schon oft gestanden. Deshalb freut es mich natürlich doppelt, dass Du die Nordsee spüren kannst.

Lieben Gruss
muskl
 



 
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