Grenzen

nachtfalter

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Ich besitze einen österreichischen Reisepaß, darüber kann ich doch froh sein oder nicht? Keine besonderen Kennzeichen sind darin vermerkt, darüber bin ich auch froh. Frabe der Augen:grün, ich aber sagte:braun und dem Beamten war es egal, er schaute mir nicht in die Augen, obwohl ich damals jung war. Haarfarbe schwarz, Körpergröße 160cm, wobei ich geschummelt und einige Zentimeter mehr angegeben habe, denn wer will schon gar so klein sein, ich meine schriftlich schwarz auf weiß. Als ich sicher war, daß der Beamte ohne Umschweife alle Angaben einzutragen gewillt war, fügte ich gleich hinzu: ohne besondere Kennzeichen. Natürlich hatte ich eines , ein sichtbares, aber gerade von dem spreche ich nie. Ich wollte keine Kennzeichen haben, schon gar keine besonderen.
Im alten Reisepaß, der 10 Jahre lang gültig gewesen ist und einmal verlängert werden mußte, war der Beruf angegeben und es fanden sich viele Stempel über Aus- und Einreise darin.
Im neuen EU-Paß, für den wieder ein Formular auszufüllen gewesen ist und Fotos beigebracht werden mußten, Stempelgebühren, die damals noch in Form von hauchdünnen Marken, welche man in Ermangelung von Schwämmel mit Speichel abgeschleckt hat.
Die Landschaft selber verläuft unbeeindruckt von politischen Grenzen. Sehr sanft im Burgenland setzt sie sich weiter sanft, flach fort nach Ungarn. Doch das Klima wechselt mit der Grenze, kaum daß man sie passiert hat, ist es in der großen Tiefebeneim Winter kälter als in der kleinen. Das politische Klima verhält sich momentan fast umgekehrt und das, wenn man bedenkt, was die Ungarn alles hinter sich haben. Zum Beispiel Partnerschaften zwischen Frauen und Frauen, Männern und Männern, sehr modern. Diesbezüglich leben wir sowieso im Hinterwald.
Früher war diese Grenze quasi ein "toter Winkel" und jetzt ist alles sehr geschäftig.
Aber man hat doch in Österreich damit begonnen, die österreichische Grenze von Soldaten bewachen zu lassen, die grünen und berüchtigten Wachtürme der Ungarn von früher,
die jetzt verfallen, haben ein Pendant auf der österr. Seite bekommen. Es mag sicherer sein so, meinen die Anwohner und Bewohner. Naja. Aber wovor? Vor den unwillkomenen Besitzlosen. Ja, ganz Europa hat sich auf Verteidigung eingestellt. Die Besitzer von Macht und Geld, also nicht so viele werden verdienen und retten, was zu retten ist und die Entsolidarisierung der Gesellschaft und deren Verfall in Kauf nehmen und wir sollen zahlen, mehr als wir haben, aus "Solidarität" wie manch ein Politiker sagte, sagt. Einige Mächtige werden den Zerfall der Gesellschaft in Kauf nehmen und das womöglich um den Preis eines neuen Totalitaismus?
Schreiben Sie etwas über die Seele der EU, hieß es wo. Aber hat diese Gemeinschaft eine Seele?
In den neuen EU-Pässen sind keine Berufe vermerkt, keine Adresse. Dafür werden wir noch viel gläserner werden, das Format ist eben anders.

Sch.
 

sohalt

Mitglied
Hat diese Gemeinschaft eine Seele? Interessante Frage. Interessanter Text.

Als ich in Brüssel war, hatten sie mitten in einem Kreisverkehr ein großes Zirkuszelt aufgestellt, da lief eine Ausstellung zum Thema "Europa". Hauptsächlich hübsche, bunte Bildtafeln, ein äußerer Kreis mit Bildtafeln, auf denen die Mitgliedsstaaten vorgestellen wurden, ein innerer Kreis mit Bildtafeln zur Geschichte Europas. Ich mokierte mich über die die größwahnsinnigen Großmachtphantasien auf der Bildtafel zum Thema Zukunftsvisionen, über eine goldene Gestalt, die auch rumstand, die ein bisschen aussah wie der Mostdipf (kennt wieder keiner; = Maskottchen der hiesigen Regionalzeitung, bierbäuchiger Stammtischbruder), sehr verstörend wirkte (groteske Grimasse) und von der sich nicht eruieren ließ, wen sie darstellen sollte (Gründungsvater? prototypischer EU-Bürger?), darüber und über einen Eintrag irgendeines Eurokraten im Gästebuch, von wegen die Ausstellung sei "jung, frisch und sexy". Ich mokierte mich gründlich.

Und abgesehen davon hatte ich feuchte Augen und einen Kloß im Hals, denn die Geschichtebildtafeln hatten mich voll erwischt. Mehr als 2000 Jahre menschliches Streben, und so grausam vergeblich zeitweise, und doch - welche Wirkung! 2000 Jahre Glanz und Glorie, Blut, Schweiß und Tränen. Was haben "wir" doch alles "miteinander" (und durcheinander) durchgemacht, dachte ich, ja tatsächlich, und ich dachte in diesem Moment das wir und das miteinander, ist es zu glauben? - ohne Anführungszeichen.

Lieder mit Chor und mit Soli, die erwischen mich jedes Mal, d.h. einen sehr kleinen, sehr gut und zu Recht sehr gut verborgenen Teil von mir - auch wenn sie musikalisch der reinste Schrott sind, die erwischen mich.

Ich finde Europa großartig, (zugegeben aus dem ziemlich egoistischen Motiv, dass mir die EU damals in der Unterstufe einen sehr wunderbaren Schüleraustausch mit Portugal beschert hat und letzten Sommer einen sehr wunderbaren Ferialjob in Brüssel) aber es wir nie funktionieren, wenn alle auf Einzelinteressen bestehen.

Wieder gefällt mir der erste Teil, der persönliche, viel besser als die allgemeinen Bemerkungen zum Schluß.

Ich kann aber die Skepsis nachvollziehen, sie wird auch ganz gut nachfühlbar gemacht in dem Text und ich finde die leise Skepsis auch so viel besser als als die Anschuldigungen.
Sowas wie "Einige Mächtige werden den Zerfall der Gesellschaft in Kauf nehmen und das womöglich um den Preis eines neuen Totalitaismus?" - das ist (mir) zu heftig, um es einfach so in den Raum zu knallen. So ein Statement solltest du besser fundieren.

lg
sohalt
 



 
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