Grenzenlose Gerechtigkeit

Sriver

Mitglied
Grenzenlose Gerechtigkeit

Wie jeden Freitag sitzt Konstantin mit Rita im Casa Palermo und genießt einen
gepflegten Weißwein. Mit Sorgenfalten wischt er sich die Käsesahnesoße aus den
Mundwinkeln, nimmt einen wohldosierten Schluck und läßt ihn nachdenklich in seinem
Munde kreisen, um ihn dann nach und nach die Kehle hinuntergleiten zu lassen.
Sein Vortrag,"Die Moral im 21.Jahrhundert", den er am Sonntag vor Gewerkschafts- und
Kirchenvertretern halten soll, bereitet im einiges Kopfzerbrechen.

Wenn doch nur dieser Anschlag nicht passiert wäre. Gedankensplitter jagen ihm durch den Kopf
und zum ersten Mal, seitdem sich die beiden kennen, verschlägt es ihm völlig die Sprache.
Konstantin, der joviale, gebildete und souveräne Meister des gesprochenen Wortes ist nicht
mehr wiederzuerkennen. "Schatz, was ist denn nur mit dir los? Du freust dich ja gar nicht.
Hast du etwa vergessen,daß wir am Montag für zwei Wochen nach Rom fliegen? Sonne, Espresso
und die wunderschönen alten Kirchen. Mensch Konstantin, die Flüge nach Italien sind sicher.
Ich habe noch heute nachmittag beim Auswärtigen Amt und im Reisebüro nachgefragt und beide
haben mir bestätigt, daß es keinerlei Hinweise auf geplante Anschläge gäbe.
Die setzen sogar Soldaten für die Kontrollen ein. Also mach dir mal keine Sorgen.
Du erledigst deinen Vortrag am Sonntag, dann noch Mutters Geburtstag am Abend und danach
packen wir unsere Koffer und treten unseren wohlverdienten Urlaub an."

Mindestens eine Minute vergeht, bis er zu einer Antwort ansetzen kann. Das ist ungewöhnlich.
Sein Blick wirkt leer und entrückt. Kein Flackern in den Augen, keine ausgeglichenen
Gesichtszüge, kein verständnisvolles Lächeln und auch die Hände, die er gerne
gestikulierend bei Antworten einsetzt, bleiben wie zwei gestrandete Schiffe links und
rechts neben seinem Teller liegen. Es erscheint fast so, als ob soeben ein blühender
Garten in eine Steinwüste verwandelt worden wäre. "Sehr schön Rita. Ich erledige also
mal ganz nebenbei diese Kleinigkeiten am Sonntag. Ist dir eigentlich klar, was du da von
dir gibst? Das ist nicht mal soeben aus dem Ärmel zu schütteln. Um die Pastoren und die
Gewerkschaftsdelegierten mache ich mir keine Gedanken, wenn da nicht diese Gastgruppen
aus der Türkei, Eritrea und Afghanistan wären und nun haben sie aus aktuellem Anlass auch
noch eine Gruppe Amerikaner eingeladen. Die kommen aus Frankfurt und sind dort beschäftigt.
Mehr weiß ich nicht. Aber das kann man sich wohl an fünf Fingern abzählen, daß die nicht
im Straßenbau arbeiten. Das werden Bank- und Börsenangestellte sein oder gibt es noch
etwas anderes in Frankfurt? Fehlen nur noch ein paar Army-Leute."

"Ich glaube, du machst dir zuviel Sorgen. Nimm doch wie immer ein paar schöne philisophische
Zitate, am besten eines aus jedem Kulturkreis der Anwesenden, und weise auf das Gemeinsame
aller Menschen hin. Du mußt die Gandhirolle nehmen und ab und zu sagen: Ich habe einen
Traum oder so ähnlich. Niemand kann das besser als du. Du willst doch jetzt nicht anfangen
nach der Wahrheit zu suchen oder sie gar äußern zu wollen? Niemand will die Wahrheit hören
und das weißt du. Wer eindeutig Stellung bezieht, verbrennt sich nur die Finger.
Das sind deine Worte. Und selbst wenn du die Wahrheit sagst, wirst du nichts bewegen.
Gerade eben haben sie noch von Gott gesprochen und vor Liebe
geschluchzt und im nächsten Augenblick jagen sie ihrem Feind ohne mit der Wimper zu
zucken eine Kugel durch den Kopf. Hast du schon die Worte des amerikanischen Präsidenten
vergessen: Entweder sie sind für uns oder für die Terroristen. Und die anderen
schreien in derselben Tonart. Für die sind wir doch alle Ungläubige, die das Böse
und Unreine in sich tragen und mit denen man sich auf gar keinen Fall einlassen darf.
Ich sage nur eines: Steinigung und Scheiterhaufen. Die machen kein langes Federlesen."

Konstantin wird zunehmends bleich im Gesicht. Es scheint ihm Stück für Stück klarer zu
werden, vor welche Aufgabe er gestellt ist." Weißt du was Rita, vielleicht ist jetzt
nicht mehr die Zeit für schlaue, nostalgische Sprüche, die ich mal soeben ganz nach
Bedarf aufwärme und in die große Suppe werfe. Das hat die letzten Jahre hervorragend
funktioniert, gerade weil die Leute nichts von der Wahrheit wissen wollten.
Ich brauchte doch nur die Schallplatte aufzulegen, die sie hören wollten und alles war
in Butter. Die Linken, wie die Rechten wollten immer nur ihre eigenen Lieder hören,
genauso wie die Gewerkschaftler, die Wirtschaftler, die Intellektuellen und die Religiösen.
Kannst du dich noch an die Tutsi und die Hutus erinnern? Hundertmal soviele Opfer wie
jetzt in den USA, ich glaube es waren fünfhunderttausend Menschen, die in dem Gemetzel
umkamen. Und wie waren meine Vorträge damals besucht? Vor fünfzig Leuten habe ich gesprochen
und von denen haben sich die meisten mehr für das kalte Buffee interessiert, weil es das
umsonst gab. Knapp sechzig Mark hatte ich nachher in der Spendendose. Das war nicht mal
die Hälfte des Wertes einer Kravatte, die die Herren Zuhörer trugen. Kein Aufschrei,
keine Angst, kein Interesse. Nichts. Die Lachsbrötchen und der Wein hatten die Leute mehr
in Bewegung versetzt, als die abgeschlachteten Menschen.

Da wurden keine Truppen in Bewegung versetzt , weil die Sache ja nicht von
internationalem Interesse war. Man hat schön zugeschaut. Und jetzt reden sie von
Menschlichkeit, Gott, Gerechtigkeit, Freiheit und das wir, der zivilisierte Teil der
Menschheit die Freiheit verteidigen werden, so wie wir es schon immer getan haben.
Ich erinnere mich noch an den Typen, der während meines Vortrages sein Handy auspackte
und anfing zu telefonieren. Ich hätte ihn rauswerfen sollen, aber stattdessen habe ich
so getan, als ob nichts wäre."
"Schatz, ich glaube du solltest dich jetzt da nicht so hineinsteigern. So ist die Welt und
wir müssen trotzdem weitermachen und unser tägliches Brot verdienen. Du wirst jetzt
niemandem helfen, wenn du auf Konfrontationskurs gehst." "Du meinst also, daß es taktisch
klüger sei, sich mit seinem Wissen und seinen Erfahrungen zurückzuhalten, damit man
niemandem auf die Füße tritt. Kannst du mir bitte mal erklären wie lange man das tun soll?"

Ärger blitzt in seinen Augen auf und er nimmt noch einen ordentlichen Schluck Wein, der
ihm die zuvor arretierte Zunge mehr und mehr löst. Seine rechte Hand erhebt sich und
fährt den Zeigefinger aus, um den nun folgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen.
"So, so Rita, oder sollte ich besser Frau Dekanin sagen? Wir müssen also weiterhin
unser tägliches Brot verdienen und uns schön anpassen und die Klappe halten.
Weißt du eigentlich, was du da sagst? Soll ich dir mal erklären, was unser tägliches
Brot ist? Jeder von uns fährt ein eigenes Auto, wir leben in einer geräumigen
Vierzimmerwohnung und fahren zweimal im Jahr für ein paar tausend Mark in Urlaub."
"Aber Konstantin, du willst doch jetzt nicht..." "Nein Rita, jetzt hörst du mir zu
und laß deine Schönwettervernunft mal in der Schublade, denn ich bin noch nicht fertig.
Ganz im Gegenteil, ich habe gerade erst angefangen, falls du es nicht bemerkt hast.
Während die Leute in Afghanistan und anderswo sich seit Jahrzehnten von Gras und ein
paar Reiskörnern ernähren müssen, nicht genügend Wasser und kein Dach über dem Kopf
haben, sind wir die Weltmeister im Fleischverzehr, im Biertrinken und im Langzeitduschen.
Abends sitzen wir gemütlich vor dem Fernseher, lassen unser Gehirn zermanschen und
gehen am nächsten Morgen wieder zur Arbeit, um dieses tägliche Brot, wie du sagst, zu
verdienen. Ich will dir mal was sagen, worum es hier geht. Es geht hier nicht um
grenzenlose Gerechtigkeit, sondern um grenzenlose Verlogenheit. Denn in Wahrheit
interessieren wir uns doch nur für uns selbst."
 
R

Rote Socke

Gast
Hallo Sriver,

in Deinem Text gäbe es so einiges zu kritisieren: Zum Beispiel: "Konstantin, der joviale,... ist nicht mehr wiederzuerkennen. "Schatz...""
Hier weiß ich als Leser zunächst nicht: Wer erzählt die Geschichte und warum folgt gleich dieser Satz, offensichtlich von Rita gesprochen, hinter der Einleitung von Konstantin.
Aber ich will da erst mal Deine Meinung zu hören, was Du mit dem Text vor hast, bbevor ich tiefer in die Kritik einsteige.
So gesehen könnte es ja eine Satire werden, weil, auf der einen Seite frönt Konstantin das Schlemmerleben im Restaurant und auf der anderen Seite verdammt er die Ungerechtigkeiten.
Sollte es aber keine Satire sein sondern mehr ein kritischer, ernsthafter Text, dann finde ich, drückst Du zu sehr auf die Moraldrüse. Wer mich bei der LL kennt, weiß, dass ich vielem kritisch gegenüber stehe und auch gerne über solche Themen diskutiere, wie Du sie in diesem Text anschneidest. Aber der Text könnte gestrafft werden und dürfte nicht mit zu vielen Schuldzuweisungen beladen sein, wobei dann auch fundierte Erläuterungen fehlen Von daher gesehen, ist auch der Schlusssatz (die Aussage)nicht ganz korrekt.

Wie gesagt, ich kenne jetzt nicht Deine tiefere Absicht mit dem Text.

(Nur am Rande: Ich war als Nothelfer in Ruannda nach diesem Genozid. Es waren fast 1 Million Opfer zu beklagen. Wobei die offiziellen Angaben bei unter 1 Million lagen und inoffiziell weit darüber.)

Gruss
Volkmar
 

Sriver

Mitglied
Sei gegrüßt Socke,

mein Text war eine spontane Reaktion auf die Ereignisse und die Berichterstattung in den Medien.
Das Ganze auch auf dem Hintergrund jahrelanger Erfahrungen in der Flüchtlingssozialarbeit, wo ich gesellschaftliche, wie persönliche Gegebenheiten und Reaktionen unglaublicher Art erlebt habe.

So litt mit Sicherheit die literarische Form meines Beitrages und da ist auch Deine Kritik in einigen Teilen
voll berechtigt.

Es ging mir nicht um Schuldzuweisung, sondern um eine Beschreibung der verschiedenen Realitäten und die fallen,
vielleicht wirdt Du mir da Recht geben, für ganze Gesellschaftsgruppen und Nationalitäten knüppelhart aus.

Und so steht nicht nur Konstantin vor der schwierigen Frage:
" Wie verhalte ich mich persönlich ?"

Ich weiß nicht, wie Volker mit Erfahrung vor Ort, solche
Berichterstattung und Redensweisen von Politikern et al
empfindet? Der Anschlag mit all seinen Folgen ist für mich
ein wichtiger Grund, um über Verhalten nachzudenken.
 
R

Rote Socke

Gast
Hi,

danke für die rasche Erklärung. Ich werde noch näher darauf eingehen. Ich muss nochmal in Ruhe Deinen Text durchlesen.

Gruss
Volkmar
 
R

Rote Socke

Gast
Hi Sriver,

ich hätte da vielleicht eine Idee, falls sie Dir zusagt:

Du könntest den Inhalt des Textes im großen und ganzen so belassen. Natürlich musst Du die Dialoge vom übrigen Text klar trennen. Mutters Geburtstag würde ich rauswerfen, das treibt die Story nicht voran.
Du solltest zunächst mehr den Konflikt von Konstantin beleuchten, in welchem er sich befindet. Gehe doch einfach ans Ende und schreibe weiter, wie Konstantin plötzlich die Nerven verliert, weil er Angst bekommt, weil er nicht mehr weiter weiß: Er stellt fest, dass er in einem schönen Restaurant schlemmert, dass er nach Rom fliegen will, dass er ganz schön viel Kohle hat, und in anderen Teilen der Welt sterben die Menschen wie die Fliegen an Hunger und Krieg. Dies ist zunächst ein starker Konflikt für Konstantin, der Leser will erfahren, wie Konstantin den Konflikt löst. Verstehst Du Sriver, damit hälst Du nicht einfach pauschal die "Wahrheitsparolen" vor die Augen des Lesers. Der Leser kann sich ja seine Gedanken machen, aber er hat so auch die Möglichkeit zu sagen, ok, das ist Konstantins Problem, es ist sein Konflikt, es sind seine Thesen, ich der Leser sehe das anders...etc. etc.
Aber so erreichst Du, dass der Leser sich überhaupt Gedanken macht.
Außerdem baust Du so einen Spannungsbogen auf, weil der Leser wissen will wie Konstantin den Konflikt löst. Für die Lösung gibt es auch wieder mehrere Möglichkeiten. Du könntest den Ausgang offen lassen, Du könntest auch Rita dazu bringen für Konstantins Konflikt eine Lösung vorzuschlagen.

Wie auch immer. So wie der Text jetzt ist, wird ihn kaum jemand lesen wollen, weil Du den Konflikt nicht Konstantin aufdiktierst sondern dem Leser.
Am Sprachstil gäbe es auch noch ein wenig zu feilen, auch an den Dialogen. Teilweise klingt manches zu naiv, was Du sicher nicht wolltest.

Gruss
Volkmar
 

Sriver

Mitglied
Hallo Volkmar,
danke für Deine konstruktive Kritik. Beim nächsten mal gebe ich mir etwas mehr Mühe.

Du hast schon recht, ich bürde dem Leser da ne dicke Last auf, die ihn leicht erdrücken kann.
Was so ein Attentat nicht alles auslöst, ein Überschwang der Gefühle, bei dem zwangsläufig die Distanz leidet.

Was die Lösungen jedoch anbetrifft, tja, da müßte die Geschichte noch weitergehen. Ich sah selbst keine für diesen
Konflikt, also gab es keine.
In meinen Augen soll der Leser sich selbst Lösungen verschaffen. Angesichts der komplexen Dramatik mancher
Ereignisse ist es nicht mein Ding, irgendeine Lösung aus dem Hut zu zaubern...

An der intellektuellen Distanz und ihrem Wert zweifel ich
hingegen sehr. Das liegt in der Problematik, das Chaos mit Konstrukten verbinden zu wollen.

Meine Sprache zielt somit mehr auf Direktheit.
Was ihre Ausformulierung und den Aufbau anbetrifft, mein Gott, da stecke ich noch in den Kinderschuhen, aber es geht weiter.

Merci, Sriver
 
R

Rote Socke

Gast
Hallo Sriver,

ist ja auch in Ordnung so. Aber am Text solltest Du weiter feilen, denn dafür steht er ja in der Werkstatt. Ich würde mich über eine Überarbeitung freuen und sie wieder lesen.
Gruss
Volkmar
 



 
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