Grüße an den Oberstaatsanwalt

Der Postbote klingelt. Er bringt ein Päckchen für den Oberstaatsanwalt. Da Klaus Weikert unterwegs zum Gericht ist, nimmt seine Frau das Paket an und legt es auf den Schreibtisch. Draußen scheppert der Müllwagen. Karin Weikert schließt das Fenster, streicht das Haar aus dem Gesicht und überlegt, wer der anonyme Anrufer sein könnte, der vorhin wilde Morddrohungen gegen ihren Mann in den Hörer gebrüllt hatte.
Die Müllwerker sind weitergezogen, die Stille kehrt zurück in das schmucke Haus am Fichtenweg. Und jetzt erst hört die junge Frau das leise Ticken, das monoton und bedrohlich aus dem Päckchen kommt. ‚Eine Zeitbombe‘ flüstert Karin entsetzt und glaubt plötzlich auch zu wissen, warum auf dem kleinen Paket der Absender fehlt. In wilder Panik verlässt sie das Haus, hastet über die Kreuzung, stürmt in die Telefonzelle und alarmiert die Polizei.
Minuten später treffen die ersten Streifenwagen ein. Die Beamten sperren weiträumig die Straße ab. Dann fahren die Männer vom Landeskriminalamt vor und bringen ihren Sprengstoffexperten mit. Als kurz darauf Klaus Weikert mit seinem Auto ankommt, ist der Experte schon in die Wohnung geeilt. Das nervtötende Warten beginnt. Nur mühsam verbirgt der Oberstaatsanwalt seine Anspannung und ist unendlich erleichtert, als der Bombenspezialist nach einer halben Stunde den Ort der Angst wieder verlässt. Der Mann hält das nun offene Päckchen in der Hand, kommt herbei und reicht Weikert einen Brief. Weikert setzt die Brille auf, glättet den Bogen Papier und liest:
Hallo Oberstaatsanwalt, nun musst du die gleichen Qualen erdulden, die mich Nacht für Nacht gepeinigt haben. Stelle dir das Übel bildhaft vor, male es in den abgründigsten Farben der Hölle aus, dieses menschenverachtende Grauen, dem ich jahrelang schutzlos ausgeliefert war. Jede Faser meines Körpers zitterte vor dieser Ausgeburt der Unterwelt, die mich quälte und boshaft auf den Tagesanbruch lauerte. Unzählige Stunden lag ich wach, schlief endlich ein und durfte von den Schönheiten der Welt träumen, von seligen Kindertagen, wo Mutterhände mir traute Geborgenheit gaben. Und immer, wenn der Traum am schönsten war, brüllte mich dieser vermaledeite Teufel an und forderte mich auf, dem Grauenhaften ins Auge zu schauen.
Gestern konnte ich dem Gefängnis endlich entfliehen. Heute bin ich ein freier Mann. Und nun bist du an der Reihe, Oberstaatsanwalt. Du hast es dir selbst zuzuschreiben, hast es nicht anders gewollt. Jetzt lauert der Alptraum in deinem Haus und wird dich körperlich und seelisch zermürben. Ich ziehe mich zurück aus dem Geschäft und züchte nur noch Angorakaninchen. Der böse Tyrannen ist nun dein Eigentum. Hoffentlich bereitet er dir weniger Kummer als mir - unser guter alter Familienwecker. Schöne Grüße, Dein Onkel Franz.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
köstliche

pointe. daß eine uhr zum vorschein kommen würde, war schon klar, aber vom onkel, der gefängnisaufseher war - das ist der knaller. gut geschrieben , gut erzählt - mach weiter so! ganz lieb grüßt
 
Hallo oldicke

Danke für das Lob. Ich war einige Tage in Brüssel, werde nun aber wieder fleißig die Leselupe besuchen und hoffentlich auch neue Sachen von Dir finden.
Liebe Grüße
Willi
 



 
Oben Unten