Gumminasen und Seifenblasen

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moll

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Gumminasen und Seifenblasen

There is more in life than this.

Es hämmerte an der Tür, dann Gesang „Come on boy, lets sneak out on a party“. Der merkwürdig interpretierte Björk-Song brachte mich zum Lachen und ich machte ihr auf. Wenn sie rein kam schob sie immer ihr Gesicht ganz nah vor meines. Unsere Nasen berührten sich, sie grinste breit, kniff in meinen Bauch, sagte „na Dicker“ und schob sich an mir vorbei in die Wohnung. Luca war laut, wirr, dreist und meistens gut gelaunt.

Luca kenne ich seit dem Abend an dem sie sich ausgesperrt hatte, bei mir klingelte um sich selbst einzuladen, um erstmal bei mir zu bleiben. Wir hatten lange geredet, viel Wein getrunken und uns verstanden. Wir haben an diesem Abend über alles Mögliche geredet, nur nicht über uns selbst, wir tauschten keine müden Kennenlern-Fragen, keine stolzen oder rechtfertigenden Selbstpräsentationen, das gefiel mir. Luca ist damals über Nacht geblieben. Seitdem kam Luca fast jeden Tag, schneite immer irgendwann wie selbstverständlich herein, störte mich, überraschte mich, lachte, sang. Manchmal kam sie spät nachts und ich sagte ihr dann immer wie sehr sie mir auf die Nerven gehen würde, sie legte sich dann zu mir und ich war froh das sie da war. Wir schliefen immer gleich, sie auf der Seite, gegen die Wand, meine Hand auf ihrem Bauch, unsere Beine ineinander.

Luca ging zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier, setzte sich in die Mitte meines Zimmers, trank, viel zu schnell und viel zu hastig, verschluckte sich, hustete, legte sich zurück und streckte die Beine aus. Sie atmete schnell und begann zu reden.
Sie sprach mit stark übertriebenem amerikanischem Akzent, ließ ständig englische Ausdrücke einfließen und verzog bei jedem Wort ihren Mund in die seltsamsten Formen. Ich verdrehte die Augen und musste grinsen. Sie machte das seit vorgestern, hatte sich mit irgendeinem Texaner unterhalten, seitdem. Zum Glück sprach sie kein Kölsch mehr, das konnte sie gar nicht und es war bei weitem nicht so amüsant.
Ich stand noch im Flur, ging dann zu meinem Schreibtisch und setzte mich, den Rücken zu ihr. „What is going on in berlin tonight, honey?“, fragte sie. Ich zog die Schultern hoch. Wieder der Björk Song, „….there is more in life than this“, dann fing sie an zu erzählen.

Alles an Luca war übertrieben. Ihre bunten Kleider, ihre Blicke, ihre Mimik, ihre Worte, alles wirkte gespielt, aufgesetzt, inszeniert. Trotzdem hatte es nichts Abstoßendes, im Gegenteil, es war eine sympathische Gespieltheit, wahrscheinlich weil sie dabei nicht kokettierte, nicht mit irgendwas oder irgendwem.
Luca sprang gekonnt von Szenen zu Szene. Mal zog sie mit Kunststudenten durch Ateliers, Galerien und Ausstellungen, mal mit linken Aktivisten auf Demos, mit konservativen Juristen auf Bälle, mit exzentrischen Regisseuren auf Premieren. Luca stand dabei immer im Mittelpunkt, weil sie laut war und schön, auffällig und lustig. Die Linken und die Juristen wollten mit ihr über Politik reden, die Studenten über Kunst und die Regisseure über sich selbst, aber sie interessierte sich nicht dafür, sie ignorierte einfach alle Gesprächsversuche, sie hatte ihre eigenen Themen. Sie biederte sich nicht an, sie heuchelte kein Interesse. All die Leute mir denen sie los zog merkten das und es gefiel ihnen, aber da war Luca meist schon wieder weiter, etwas Unbekanntes am erkunden. Manchmal glaube ich, dass ich die einzige Konstante in ihrem Leben war.

Hin und wieder nahm sie mich mit auf ihre nächtlichen Streifzüge und ich durfte ihr zusehen, wie sie in den unterschiedlichsten Läden hin und her lief, sich mal gelangweilt, mal hysterisch mit unzähligen flüchtigen Bekannten unterhielt, drei, vier Minuten, zwischendurch immer wieder bei mir vorbeischaute, mich in den Arm nahm, „Alles o.k.?“, und „Amüsierst du dich?“ fragte. Ich amüsierte mich immer, und oft fand ich es sogar spannend mich mit den ganzen Leuten, die sie mir ständig vorstellte, zu unterhalten, mit ihnen über ihre Themen zu reden oder sie über irgendetwas auszufragen.

Luca erzählte, wirr wie immer, von alten amerikanischen Filmen, von Spülbergen in ihrer Küche und von einem zwei Wochen alten Kind, das sie vor Stunden noch im Arm hatte. Selbst das Schreien des Babys gelang ihr mit amerikanischem Akzent. Sie wollte raus heute Abend, mich dabei haben, irgendwo tanzen, sie wüsste schon was.

Zwischen Luca und mir gab es so etwas wie eine unausgesprochene Vereinbarung keine Nachfragen zu stellen. Wir redeten viel, sie erzählte, ich erzählte und das Gesagte blieb unberührt im Raume stehen, ihres neben meinem. Es folgten keine „aha“ Reaktionen, keine „erklär mir das genauer“ Vertiefungen, keine „ich seh das aber anders“ Diskussionen und damit auch keine Konflikte, keine Verletztheiten oder Einsamkeiten. Entweder man verstand den anderen, oder man verstand ihn nicht. Ein tiefes Nicken oder ein kurzes nervöses, ein schüchternes Lächeln, ein warmer Blick in die Augen, mit zur Seite geneigtem Kopf, ein breites, breites Grinsen, ein Augenverdrehen, ein Abwinken, den Blick zum Boden, dabei die Augenbrauen hochgezogen, ein Kopfschütteln, die Augen angestrengt verständnislos klein, alles ohne Worte, so reagierten Luca und ich. Ein bestimmter Gesichtsausdruck, eine bestimmte Geste und alles war klar oder eben nicht. Man ließ den Anderen immer nur so viel erzählen, wie er wirklich wollte, ich empfand das als etwas sehr
Besonderes, als etwas Respektvolles. Ich fragte mich anfangs oft, ob wir es uns so nicht sehr einfach machen würden, weil wir ja allem Komplizierten und Konfliktträchtigen aus dem Weg gingen, aber ich merkte bald wie schwierig es für mich wurde auf das Fragen zu verzichten. Einerseits wusste ich, dass ich ihr alles erzählen konnte, ohne Gefahr zu laufen mich rechtfertigen zu müssen und ohne Angst vor ihren Reaktionen. Andererseits musste ich mich ständig zurücknehmen, meine Neugier im Zaume halten. Vieles von ihr blieb mir verborgen, Geheimnis, so blieb auch unsere Beziehung zueinander immer ungeklärt. Ich hätte gerne etwas über ihre Gefühle zu mir gewusst, aber ich schob diese Fragen beiseite. Keine schweren Gedanken, keine Kompliziertheiten, Verstrickungen, sie hätten nur alles zerstört. Seitdem ich Luca kannte, hatte ich zum ersten Mal in dieser Stadt das Gefühl jemandem wirklich nahe zu sein.

Draußen wimmelte es vor Menschen. Alle hatten unterschiedliche Wege, alle verband das gemeinsame Ziel. Sie wollten sich heute Abend alle kennen lernen und dabei reden, trinken, tanzen, ein bisschen schauen und gesehen werden. Dafür gingen sie, in die Kulturbrauerei, in den Bastard, ins „An einem Sonntag…“ ins „Schwarz Sauer“, ins „San Remo“. Wir fuhren dafür ins Bassy.
Die Wände im Bassy hingen voller Krempel. Alte Filmplakate, Western-, Salon-, Cowboy-Zeug, draußen auf dem Hof brannte ein großes Feuer, Sessel überall, Saddam Hussein überlebensgroß an der Wand. Ich saß vorm Feuer, saß auf etwas Sofamäßigen im Gang zur Toilette, ich stand an der Tanzfläche, dann an der Theke. Hinter der Theke die exzentrische Kellnerin, die stolz war hier zu arbeiten, stolz alle zu kennen, stolz mit dem DJ zusammen zu sein, ein aufregendes Leben zu führen, in Berlin zu sein.

Ich dachte an die letzten Monate mit Luca. Im Frühling wollte sie Berlin neu entdecken. Mit einem Rucksack voller Bierdosen fuhren wir mit der Ringbahn um die Stadt, stiegen an jeder Haltestelle aus, liefen in irgendwelche Straßen, setzten uns, und erzählten uns Geschichten über die jeweils vorbeiziehenden Stadtteilmenschen. Da war Manfred, vierzig, arbeitsloser und geschiedener Industriemechaniker aus Friedrichshain der auf dem Weg zu seinem Bruder war, bei dem seine Ex-Frau mit den Kindern jetzt wohnte, Silke die Traurige Mutter aus Neukölln, Pete der schüchterne Kiffer aus Kreuzberg, in Schöneberg ein Radiomoderator, der in seine Halbschwester verliebt war, der Bayer mit Fernweh in Charlottenburg, der mit der Fensterglasbrille, der seine Freundin vermisste im Prenzlauer Berg. Wir erfanden einfach die Lebensgeschichten zu den vorübergehenden Fassaden. Noch lange nach diesem Tag sprachen wir über sie, wie über alte Bekannte, feilten an ihren Persönlichkeiten, dachten uns aus was sie wohl gerade machten.
Im Sommer beschloss Luca spontan Straßenmusikerin zu werden, was sie so meinte, dass ich in den Straßen Musik machen sollte und sie die Menschen zur Bezahlung auffordern wollte. Im Nachhinein fand ich es ziemlich lustig, wie ich schüchtern, immer mit sicherem Abstand zu den Cafetischen, mit meiner Gitarre am Helmholzplatz stand und „You are wonderful tonight“ von Eric Clapton sang. Schon bevor ich anfing bat sie die in vor den Cafes sitzenden Menschen um Spenden für den jungen, talentierten Musiker. Glücklicherweise stahl sie mir dabei die Show, und ich fiel nicht weiter auf, so wie ich es mir vorher erhofft hatte. Unsere Karriere dauerte so lange wie eine Laune von Luca, einen Abend.
Einmal zogen wir mir Badehose und Campingstuhl nach Mitte, weil sie auf dem kleinen Rasen direkt vor dem Kanzleramt grillen wollte. Wir hatten gerade die Handtücher auf unseren Stühlen ausgebreitet und die Würstchen ausgepackt, als uns die Sicherheitsbeamten uns unser Vorhaben verboten. Luca wurde dabei zum ersten Mal seit ich sie kannte für einen kurzen Moment richtig sauer und schrie das Wachpersonal wütend an.
Als sie am 11.11. früh morgens an meiner Tür klopfte und ihr Gesicht ganz nahe vor meines schob war darin eine dicke, rote Gumminase. Wenige Momente später hatte auch ich so eine dicke, rote Gumminase auf meiner und durch mein Zimmer schwebten riesige Seifenblasen. Sie zeigte mir eine blau orange Plastikdose und sagte „Ein Seifenblasen-Pusteapparat“, hätte sie einem Kind auf dem Flohmarkt abgekauft. Luca wollte zur Eröffnung der Karnevalssaison. Sie hatte keine Ahnung vom Karneval. Wir fuhren ins „Steff“, die ständige Vertretung des Rheinlandes, nach Mitte. Dort war es voll und heiß und laut, die Leute hatten kleine Hüte auf den Köpfen oder Clownsperücken, rote Herzen auf den Wangen, an den Enden gekräuselte Schnurbärte über den Mündern. Tablettes voll mit Kölsch schoben sich durch die engen Gänge, es wurde gesungen, „Alaaf“ gerufen und Alaaf gegrölt. „Bützje“, der kölsche Ausdruck für einen Kuss. Ich hatte ihr das Wort vorher erklärt, sie hatte es für großartig befunden und posaunte es lautstark in die Menge, bis sie merkte, dass die Rheinländer das als direkte Aufforderung verstanden. Luca hatte großen Spaß am Karneval, sie reihte sich ein in die schunkelnden Massen, als ob sie ihr Leben lang Karneval gefeiert hätte, sie tanzte, sang und sah dabei sehr glücklich aus. Wir blieben bis zum Abend, Luca hatte ein Bier nach dem anderen getrunken und ich musste ihr beim Gehen helfen. Als sie nachher bei mir zu Hause auf meiner Matratze lag, setzte ich neben sie und schaute sie noch lange an. Sie phantasierte, hatte die Augen geschlossen sang aufgeschnappte Karnevalslieder, zwischendurch immer wieder „Bützje“, machte dabei einem Kussmund und zog das Wort so in die Länge. Auf jedes „Büüüützzzje“ folgte ein kurzes, kindisches, albernes Lachen ins Kopfkissen.
Ich dachte daran, wie es vor Luca war. Wie wäre heute ein Tag ohne Luca, ohne ihre albernen Worte, ohne ihr Gesicht ganz nah vor meinem. Er wäre nichts.

Irgendwas was anders an Luca heute Abend. Hin und wieder schaute sie eindringlich zu mir herüber, wirkte dabei nachdenklich, verloren. Normalerweise hätte sie kurz geschaut, gelacht, mir mit heftigen Gesten irgendwelche Zeichen gegeben, oder mit Grimassen ihre Gesprächspartner nachgeäfft. Sie hatte mich schon einmal so angesehen.

Damals sind wir zusammen raus gefahren. Sie hatte mich sonntags morgens herausgeklingelt, „komm, wir machen was los“ gesagt und mich so lange penetriert, bis ich mit ihr in der S-Bahn saß. Das Abteil war menschenleer, Luca saß mir gegenüber, den Kopf an die verkratzte Scheibe gelegt, sie summte irgendein Lied, spielte mit der Hand an einer Haarsträhne, zog sie sich vor die Augen und drehte daran und schaute mich immer wieder lange an. Sie hatte ihre Beine angezogen und ihre Füße auf die Kante der Bank gestellt. Luca hatte krank und müde ausgesehen an diesem Morgen. Sie trug einen schweren, schäbigen Mantel mit Pelzkragen, eine blaue Kordhose und zwei verschiedenfarbene viel zu dünne Converse-Turnschuhe. Ihre Haare hingen schwer und ungeordnet über dem Mantelkragen. Wir fuhren eine halbe Stunde und sprachen nicht. Ich genoss ihr Schweigen. Das Summen war tief und warm, ein wenig heiser. Sie summte Melodien die ich nicht kannte, die sie gerade erfand und mich an Kinderlieder erinnerten. Zwischendurch streute sie „huhu“ und „hehe“ Passagen ein, die ich von ihr kannte, weil sie zu ihrer üblichen Ausdruckweise gehörten. Jetzt kamen sie ganz leise zwischen den gesummten Melodien. „Huhu, hehe“, sie lächelte, ich lächelte auch. Das Scheppern der S-Bahn trat in den Hintergrund, die Landschaft schob sich unbemerkt am Fenster vorbei es gab für Minuten nur das warme Summen und ihre langen Blicke. Ich genoss es sie anzusehen, in ihren schönen, hellen Augen suchen zu können. Ich habe sie nie wieder so ruhig erlebt, und so traurig, wie auf dieser S-Bahnfahrt. Auf dem Stationsschild an der Endhaltestelle stand Lamrich, die ersten Buchstaben waren nur zu erahnen, es hing etwas schief. Luca stand auf, stieg aus der Bahn, ohne etwas zu sagen oder mich anzuschauen, ich ging ihr hinterher. Wir mussten mit dem Bus weiter, sie bezahlte und wir setzten uns nach ganz hinten. Ich fragte sie zum ersten Mal wo wir eigentlich hinfahren.
Der Bus fuhr uns nach Tragow, neben der kleinen Dorfkirche hielt er an und wir stiegen aus. Der Bus fuhr an, verschwand in der Ferne und nahm die Geräusche mit, es wurde merkwürdig, andächtig still. Eine Zeitlang standen wir auf dem kleinen Platz vor der Kirche auf den unregelmäßigen Pflastersteinen und schauten uns um. Tragow schien ein sehr kleiner Ort zu sein. Alles wirkte verlassen, die Häuser standen meist freistehend, verstreut um uns herum. Von den Fassaden die grau, beige und braun waren, bröckelte der Putz herunter. Auch die wenigen frisch renovierter Häuser waren in den gleichen Erdfarben gestrichen worden. Zwischendurch standen ein paar zugenagelte Ruinen. Ich zog meine viel zu dünne Sommerjacke zu, stecke meine Hände in die Hosentaschen. Obwohl ich fror mochte ich diese eiskalte, klare Luft. Luca ging los, drehte sich zu mir, sagte „Komm“. Ich kam nach, wir gingen nebeneinander, langsam. Zwei Straßen weiter blieb sie stehen und schaute auf ein Haus. Es war sehr klein, braun und verfallen. Aus dem Schornstein zogen Rauchschwaden auf. Ich wunderte mich, dass bei diesem dunklen, dämmrigen Himmel kein Licht brannte. Hatte ich in irgendeinem Haus Licht gesehen? Ich erinnerte mich nicht. Ich wollte so vieles fragen, wo wir hier waren, warum sie dieses Haus so anstarrte, warum alles so menschenleer war, aber ich fragte nicht. Sie würde es erzählen, wenn sie wollte. Wir gingen die Straße weiter entlang, das Dorf war bald zu Ende, rechts und links nur noch gefrorene Felder, die Straße jetzt eine Allee. Wir bogen in einen Feldweg ein und gingen auf ein kleines Waldstück zu. Diese flache Landschaft, die Beschränkung des Blicks bis zur nächsten Baumreihe, bis zum Dorf, bis zum Wald, verunsicherte mich. Da wo ich herkam, gab es Berge, flache Berge und weite Täler. In den Tälern konnte man sehr weit auf die sich langsam erhöhenden ringsum liegenden Berge schauen. Jeder Berg hatte einen Namen, eine Form und immer wusste man wo man sich befand. Jeder Punkt war dort entweder höher oder niedriger, man musste einfach herunter oder herauf schauen. Alles war irgendwie überall zu sehen und auf den Anhöhen schaute man kilometerweit in die Täler. Hier gab es keine Übersicht, keine Orientierung, keinen Halt. Blicke nur bis zum nächsten Baum, keine Ahnung was dahinter. Ich wollte ihr gerade meine Gedanken ausbreiten, als wir an eine kleine Kapelle, kurz vor dem Wald kamen und Luca direkt daneben in einen kaum zu erkennenden Weg einbog. Als wir aus den Bäumen rechts hinter der Kapelle herauskamen, standen wir auf einem Friedhof. Luca zögerte kurz, ging dann zielstrebig über den Schotterweg, blieb ganz am hinteren Ende des Friedhofes, wo der Wald begann stehen. Ich stand noch an der Kapelle, und wusste nicht ob ich ihr nachkommen sollte, ging dann doch und blieb einen Schritt schräg hinter ihr stehen. Sie stand ganz still da, summte wieder ein wenig und schien immer noch nichts erzählen zu wollen. Ich versuchte auf dem mit Efeu bewachsenen Grabstein die Inschrift zu erkennen. Luca lehnte sich über das Grab, schob das Efeu rechts und links neben den Stein und schaute mich an. Es standen zwei Namen auf dem Stein: Friedrich Habel und Marcel Habel, hinter jedem Namen ein kleines Kreuz und das Jahr 1986. Habel, der Name auf ihrem Klingelschild. Sie schaute zu mir hoch, ich nickte und sie ließ dem Efeu wieder seinen natürlichen Willen. Luca schaute auf die Uhr, wir sollten gehen.


Auf dem Rückweg war sie sehr schnell, manchmal rannte sie fast, schaute sich unruhig um. Von weitem war ein Bus zu hören, die Kirchenglocken läuteten, wurden lauter, sie rannte, ich hinterher. Wir stiegen in den Bus, setzten uns. Luca saß am Fenster. Die Messe war zu Ende und viele Menschen schoben sich aus der Kirche. Luca versteckte sich hinter ihren Haaren und schaute durch sie hindurch auf die aus der Kirche kommenden Menschen. „Fahr schon“ murmelte sie.
Als wir wieder in der S-Bahn Richtung Berlin saßen, fing sie an zu erzählen. Sie erzählte und ich merkte, dass sie das nicht oft tat, dass es ihr schwer viel, über ihre Vergangenheit zu reden. Sie hatte keine kompakten „Ich komme aus Tragow“ Geschichten parat, keine schon vorformulierten und in Berliner Kneipen schon oft erzählten Zusammenfassungen und Konzentrierungen auf das Wesentliche. Wahrscheinlich ignorierte sie einfach diese Kennenlern-Fragen, wie wir sie gemeinsam ignorierten, bei unserer ersten Begegnung. Sie erzählte in Bruchstücken, durcheinander. Sie erzählte von der Gans, die sie bei der Tombola auf dem Schützenfest gewonnen hatte und dann tagelang im selbstgebauten Gehege im Wald versteckt hielt, um sie vor dem Metzger zu bewahren. Von ihrer besten Freundin Marianne, die früher in dem kleinen verfallenen Haus wohnte vor dem wir eben noch standen. Von ihrem Bruder, der die merkwürdigsten Streiche anstellte, den sie nie verpetzte und der ihr half wenn die Jungen aus ihrer Klasse sie ärgerten. Von Weihnachten, von ihren Großeltern, von einem Baumhaus und ihrem orangen Fahrrad. Dazwischen, fast beiläufig, erzählte sie von dem Unfall, als sie elf war, wie ihr Vater und Bruder starben, von der Zeit danach und von ihrer Mutter, in einem Berliner Pflegeheim. Sie sagte nichts Genaues, schnitt alles nur an. Das Wichtigste angedeutet, untergemischt, unter viele kleine Geschichten und Erinnerungen. Je näher wir Berlin kamen, desto unbeschwerter wurden ihre Erzählungen, vermischten sich mehr und mehr mit anderen Themen, wie ihrer Abendplanung oder der kultigen Hässlichkeit von Sitzbezügen in S-Bahnen. Aus ihrem Sprechen wurde wieder ein Singsang, aus ihren Bewegungen wieder eine Art Ausdruckstanz, ein paar Mal „huhu“ und „hehe“ und Luca war wieder die alte.

Irgendwann war Luca weg. Ich lief durch den ganzen Laden, fand sie nicht. So war es fast immer, irgendwann war sie weg. Als sie zum ersten Mal auf einer Party einfach verschwunden war, suchte ich sie lange, wartete, ging mit den letzten Gästen, machte mir große Sorgen und klingelte an ihrer Tür. Niemand öffnete. Sie kam erst früh morgens. Ich hatte mich schlafend gestellt und war sauer, sie legte sich zu mir, ich sagte nichts und war froh meinen Kopf in ihre weichen, verrauchten Haare legen zu dürfen. Wenn wir zusammen ausgingen kam sie nachher immer, viel später. Sie wird auch heute kommen dachte ich, trank mein Bier in schnellen Zügen, tauschte ein paar Blicke mit der stolzen Kellnerin und war auch stolz. Dann ging ich zu Fuß nach Hause, schaute in die wenigen noch erleuchteten Wohnungen und freute mich auf sie.
Wir hatten uns geküsst in der Nacht, in der wir uns zum ersten Mal sahen, dann nie wieder. Es waren unbeholfene, gefühllose Küsse und ich hielt es damals für ein unpassendes, unwürdiges Ende einer schönen Nacht. Immer wenn ich später nachts hinter ihr lag, meine Hand auf ihrem Bauch, unsere Beine ineinander, hätte ich sie gerne noch mal geküsst, ich war überzeugt, dass es anders als damals sein würde. Ich tat es nie, aus Angst irgendwas zu zerstören.

Zu Hause ließ ich die Wohnungstür angelehnt, rauchte Zigaretten, machte den Computer an und wieder aus, spielte ein paar Akkorde auf der Gitarre und dachte dabei an Luca. Als ich aufwachte dämmerte es schon, der Radiowecker, der noch auf wochentags eingestellt war, plärrte „Easy like Sunday morning“ in der „Faith no more“ Version. In meinen Armen lag noch die Gitarre, der Fernseher tauchte das Zimmer in Blautöne und ließ Decke und Wände hektisch flimmern. Luca war noch immer nicht da. Ich ließ es plärren und flimmern, flüchtete auf den Balkon und rauchte. Über den Häuserdächern, hinter den blattlosen Baumkronen erhellte sich der Himmel. Es war still, nur das leise, entfernte Rauschen einer Stadt. Ich überlegte wie sich dieses ständige nächtliche Stadtgeräusch zusammensetzte. Fügten sich sämtliche Einzelgeräusche zu diesem immer gleichen, fast beruhigenden Grundton zusammen? Abbremsende S-Bahnen, das Gekläffe eines Hundes, herunterfallende Rollläden, das Zusammenprallen zweier Autos, ein Husten im Schlaf, die Schaltrufe betrunkener Fußballfans, Lionel Richie Cover aus plärrenden Radioweckern? All das hörte man und hörte es nicht. Wahrscheinlich war es so, all das waren Bestandteile des Stadtgeräuschs. Alles was laut war in einer Stadt, vom Wind ins Unkenntliche durchmischt wieder zusammengefügt und verteilt. Da wo ich aufgewachsen bin, auf dem Lande, gibt es dieses Geräuschgemisch nicht. Die Geräusche einer Nacht sind zuzuordnen. Ein Lastwagen bremst vor der Ampel auf der Bundesstrasse, ein Zug rast durchs Nachbartal, Musik aus der offenen Tür der einzigen Kneipe, dazwischen nichts.
Der Moderator im Zimmer hinter mir hatte sich in den Kopf gesetzt alle ihm bekannten Cover-Versionen von „Easy like Sunday morning“ hintereinander zu spielen, um den Hörer dann später von der Qualität des Originals zu überzeugen.
Ich schaute am Haus herunter, Lucas Wohnung, Licht.
Ich lief die Treppe herunter, zu ihrer Wohnung und klingelte. Die Tür ging auf und ich sah weiße, mit Sommersprossen übersäte Haut, ein rosa Handtuch. Vor mir stand ein großer, nackter Mann und stellte mir englisch fluchend Fragen, die ich nicht verstand. Ich ging an ihm vorbei in die Wohnung. Auf dem Küchenboden saß Luca im weißen Bademantel und rauchte. Als sie mich sah, stand sie auf, stocherte hektisch im Aschenbecher, wischte sich die Asche an ihren Fingern am Bademantel ab und schaute dabei aus dem Küchenfenster. Ich ging zu ihr, drehte sie zu mir, und schob mein Gesicht ganz nah vor ihres. Ich wollte irgendetwas sagen, einen passenden Satz, ich wollte weinen, wollte herumschreien, aber ich brachte nichts heraus. Wir standen einfach nur da, schauten uns an, atmeten schnell und schwiegen. Das ist Mike, sagte Luca nach einer Weile und zeigte auf den großen Nackten, der in die Küche kam und versöhnlich grinste. Ich beschloss die Situation zu beenden. Im Hinausgehen drehte ich mich noch mal zu ihr um und sah wie sie diesem Mike mit hilflosen, großen Augen ansah.
In meiner Wohnung zog ich die Tür hinter mir zu, legte mich in mein Bett, auf meine Seite. Aus dem Radiowecker jetzt die Originalversion von Lionel Richie, „I wanna be high, so high, I wanna be free, so free”. Ich wollte weinen, ich wollte laut schreien, aber blieb still, auch später.

Im Februar hörte ich zum letzen mal etwas von Luca. Auf der Postkarte waren drei Ansichten von San Fransisco zu sehen. Die Golden Gate Bridge vor der untergehenden Sonne, ein mit Leuchtreklamen überladener Straßenzug bei Nacht, ein Traumstrand mit Palme und Bikinimädchen.

Viele Grüße und tausend Küsse aus San Fransisco. War erst in Texas bei Mike, lief nicht so gut, wurde mir alles zu viel, bin deshalb jetzt hier. Mal sehn was so geht.
Deine Luca.
 

tsunami

Mitglied
so, das muss mal gesagt werden...

lieber moll,
hm, eigentlich ist das ja furchtbar langweilíg - nämlich einfach nur zu sagen, dass ich sie sehr schön finde, deine geschichte. aber das soll auch erlaubt sein, solch ein yes - da kommt etwas rüber, da kommt mir etwas sehr nahe. das ist dir gelungen, mit deiner sehr schönen sprache (verdammt zum zweiten mal das wort "schön", muss was dran sein) oder eben der sehr liebevollen, genauen und gleichzeitig leichten beschreibung dieser so eigenartigen beziehung. aber eh ich mich jetzt hier noch in analysen ergehe, die ich so gar nicht machen wollte, sage ich einfach nur noch ganz schnell, dass ein paar kleine flüchtigkeitsfehler noch auszubessern wären. (ich weiß, ist ein sehr profaner abschluss - sorry)
trotzdem allerbeste grüße von
tsunami

achja, eines noch. ich finde zur poesie deines textes den titel nicht so hervorragend. er reduziert das ganze so auf ein amüsantes entweder-oder. gumminasen, spaß und karneval und heiße luft. eine seifenblase kann zwar sehr schön und schillernd sein, eben nur für einen kurzen moment anwesend (schon klar) aber ist als bild fast ein bißchen zu abgegriffen für diese geschichte.
 

GabiSils

Mitglied
Hallo moll,

mir gefällt die Erzählung ausgesprochen gut; trotzdem solltest du vielleicht einige Längen herausnehmen, ich denke, man könnte hier und da kürzen, ohne der Geschichte etwas zu nehmen.

Ich habe einige Korrekturen und Vorschläge eingearbeitet, als Anregung; es wäre schön, wenn du noch weiter an dem Text arbeitest, es lohnt sich!
Den letzten Teil habe ich nicht mehr bearbeitet, kann ich aber gerne nachholen, wenn du möchtest.

Gruß,
Gabi

Als sie am 11.11. früh morgens an meiner Tür klopfte und ihr Gesicht ganz nahe vor meines schob Komma war darin eine dicke, rote Gumminase. Wenige Momente später hatte auch ich so eine dicke, rote Gumminase auf meiner und durch mein Zimmer schwebten riesige Seifenblasen. Sie zeigte mir eine blau orange Plastikdose und sagte „Ein Seifenblasen-Pusteapparat“, hätte sie einem Kind auf dem Flohmarkt abgekauft. Luca wollte zur Eröffnung der Karnevalssaison. Sie hatte keine Ahnung vom Karneval. Wir fuhren ins „Steff“, die ständige Vertretung des Rheinlandes, nach Mitte. Dort war es voll und heiß und laut, die Leute hatten kleine Hüte auf den Köpfen oder Clownsperücken, rote Herzen auf den Wangen, an den Enden gekräuselte Schnurbärte über den Mündern. Tablett[strike] [red] e [/red][/strike]s voll mit Kölsch schoben sich durch die engen Gänge , (wie? Von allein?) es wurde gesungen, „Alaaf“ gerufen und Alaaf gegrölt. „Bützje“, der kölsche Ausdruck für einen Kuss. Ich hatte ihr das Wort vorher erklärt, sie hatte es für großartig befunden und posaunte es lautstark in die Menge, bis sie merkte, dass die Rheinländer das als direkte Aufforderung verstanden. Luca hatte großen Spaß am Karneval, sie reihte sich ein in die schunkelnden Massen, als ob sie ihr Leben lang Karneval gefeiert hätte, sie tanzte, sang und sah dabei sehr glücklich aus. Wir blieben bis zum Abend, Luca hatte ein Bier nach dem anderen getrunken und ich musste ihr beim Gehen helfen. Als sie nachher bei mir zu Hause auf meiner Matratze lag, setzte ich neben sie und schaute sie noch lange an. Sie phantasierte, hatte die Augen geschlossen Komma sang aufgeschnappte Karnevalslieder, zwischendurch immer wieder „Bützje“, machte dabei einem Kussmund und zog das Wort so in die Länge. Auf jedes „Büüüützzzje“ folgte ein kurzes, kindisches, albernes Lachen ins Kopfkissen.
Ich dachte daran, wie es vor Luca war. Wie wäre heute ein Tag ohne Luca, ohne ihre albernen Worte, ohne ihr Gesicht ganz nah vor meinem. Er wäre nichts.

Irgendwas was anders an Luca heute Abend. Hin und wieder schaute sie eindringlich zu mir herüber, wirkte dabei nachdenklich, verloren. Normalerweise hätte sie kurz geschaut, gelacht, mir mit heftigen Gesten irgendwelche Zeichen gegeben, oder mit Grimassen ihre Gesprächspartner nachgeäfft. Sie hatte mich schon einmal so angesehen.

Damals sind wir zusammen raus gefahren. Sie hatte mich sonntags morgens herausgeklingelt, „komm, wir machen was los“ gesagt und mich so lange penetriert, (möchtest du da nicht doch lieber „gelöchert“ schreiben?) bis ich mit ihr in der S-Bahn saß. Das Abteil war menschenleer, Luca saß mir gegenüber, den Kopf an die verkratzte Scheibe gelegt, sie summte [blue] irgend[/blue]ein Lied, spielte mit der Hand an einer Haarsträhne, zog sie sich vor die Augen und drehte daran und schaute mich immer wieder lange an. Sie hatte ihre Beine angezogen und ihre Füße auf die Kante der Bank gestellt. Luca hatte krank und müde ausgesehen an diesem Morgen. Sie trug einen schweren, schäbigen Mantel mit Pelzkragen, eine blaue Kordhose und zwei verschiedenfarbene viel zu dünne Converse-Turnschuhe. Ihre Haare hingen schwer und ungeordnet über dem Mantelkragen. Wir fuhren eine halbe Stunde und sprachen nicht. Ich genoss ihr Schweigen. Das Summen war tief und warm, ein wenig heiser. Sie summte Melodien Komma die ich nicht kannte, die sie gerade erfand und mich an Kinderlieder erinnerten. Zwischendurch streute sie „huhu“ und „hehe“ Passagen ein, die ich von ihr kannte, weil sie zu ihrer üblichen Ausdruckweise gehörten. Jetzt kamen sie ganz leise zwischen den gesummten Melodien. „Huhu, hehe“, sie lächelte, ich lächelte auch. Das Scheppern der S-Bahn trat in den Hintergrund, die Landschaft schob sich unbemerkt am Fenster vorbei es gab für Minuten nur das warme Summen und ihre langen Blicke. Ich genoss es sie anzusehen, in ihren schönen, hellen Augen suchen zu können. Ich habe sie nie wieder so ruhig erlebt, und so traurig, wie auf dieser S-Bahnfahrt. Auf dem Stationsschild an der Endhaltestelle stand Lamrich, die ersten Buchstaben waren nur zu erahnen, es hing etwas schief. Luca stand auf, stieg aus der Bahn, ohne etwas zu sagen oder mich anzuschauen, ich ging ihr hinterher. Wir mussten mit dem Bus weiter, sie bezahlte und wir setzten uns nach ganz hinten. Ich fragte sie zum ersten Mal wo wir eigentlich hinf[red] u[/red]hren.
Der Bus fuhr uns nach Tragow, neben der kleinen Dorfkirche hielt er an und wir stiegen aus. Der Bus fuhr an, verschwand in der Ferne und nahm die Geräusche mit, es wurde merkwürdig, andächtig still. Eine Zeitlang standen wir auf dem kleinen Platz vor der Kirche auf den unregelmäßigen Pflastersteinen und schauten uns um. Tragow schien ein sehr kleiner Ort zu sein. Alles wirkte verlassen, die Häuser [strike] standen [/strike]meist freistehend, verstreut um uns herum. Von den Fassaden [blue] die grau, beige und braun waren[/blue] (wie wäre „in tristen Erdfarben“?), bröckelte der Putz herunter. Auch die wenigen frisch renovierte[red] n[/red] Häuser waren in den gleichen [strike] Erd[/strike]farben gestrichen worden. [blue] Zwischendurch [/blue] Dazwischen standen ein paar zugenagelte Ruinen. Ich zog meine viel zu dünne Sommerjacke zu, steck[red] t[/red]e meine Hände in die Hosentaschen. Obwohl ich fror Komma mochte ich diese eiskalte, klare Luft. Luca ging los, drehte sich zu mir, sagte „Komm“. [strike] Ich kam nach,[/strike]Wir gingen nebeneinander, langsam. Zwei Straßen weiter blieb sie stehen und schaute auf ein Haus. Es war sehr klein, braun und verfallen. Aus dem Schornstein zogen Rauchschwaden auf. Ich wunderte mich, dass bei diesem dunklen, dämmrigen Himmel kein Licht brannte. Hatte ich in irgendeinem Haus Licht gesehen? Ich erinnerte mich nicht. Ich wollte so vieles fragen, wo wir hier waren, warum sie dieses Haus so anstarrte, warum alles so menschenleer war, aber ich fragte nicht. Sie würde es erzählen, wenn sie wollte. Wir gingen die Straße weiter entlang, das Dorf war bald zu Ende, rechts und links nur noch gefrorene Felder, die Straße jetzt eine Allee. Wir bogen in einen Feldweg ein und gingen auf ein kleines Waldstück zu. Diese flache Landschaft, die Beschränkung des Blicks bis zur nächsten Baumreihe, bis zum Dorf, bis zum Wald, verunsicherte mich. Da wo ich herkam, gab es Berge, flache Berge und weite Täler. In den Tälern konnte man sehr weit auf die sich langsam erhöhenden ringsum liegenden Berge schauen. Jeder Berg hatte einen Namen, eine Form und immer wusste man wo man sich befand. Jeder Punkt war dort entweder höher oder niedriger, man musste einfach [red] herunter oder herauf [/red] (hinunter oder hinauf) schauen. Alles war [blue] irgendwie [/blue]überall zu sehen und auf den Anhöhen schaute man kilometerweit in die Täler. Hier gab es keine Übersicht, keine Orientierung, keinen Halt. Blicke nur bis zum nächsten Baum, keine Ahnung was dahinter[blue] war [/blue]. Ich wollte ihr gerade meine Gedanken ausbreiten, als wir an eine kleine Kapelle, kurz vor dem Wald kamen und Luca direkt daneben in einen kaum zu erkennenden Weg einbog. Als wir aus den Bäumen rechts hinter der Kapelle herauskamen, standen wir auf einem Friedhof. Luca zögerte kurz, ging dann zielstrebig über den Schotterweg, blieb ganz am hinteren Ende des Friedhofes, wo der Wald begann stehen. Ich stand noch an der Kapelle, und wusste nicht ob ich ihr nachkommen sollte, ging dann doch und blieb einen Schritt schräg hinter ihr stehen. Sie stand ganz still da, summte wieder ein wenig und schien immer noch nichts erzählen zu wollen. Ich versuchte auf dem mit Efeu bewachsenen Grabstein die Inschrift zu erkennen. Luca lehnte sich über das Grab, schob das Efeu rechts und links neben den Stein und schaute mich an. Es standen zwei Namen auf dem Stein: Friedrich Habel und Marcel Habel, hinter jedem Namen ein kleines Kreuz und das Jahr 1986. Habel, der Name auf ihrem Klingelschild. Sie schaute zu mir hoch, ich nickte und sie ließ dem Efeu wieder seinen natürlichen Willen. Luca schaute auf die Uhr, wir sollten gehen.


Auf dem Rückweg war sie sehr schnell, manchmal rannte sie fast, schaute sich unruhig um. Von weitem war ein Bus zu hören, die Kirchenglocken läuteten, wurden lauter, sie rannte, ich hinterher. Wir stiegen in den Bus, setzten uns. Luca saß am Fenster. Die Messe war zu Ende und viele Menschen schoben sich aus der Kirche. Luca versteckte sich hinter ihren Haaren und schaute durch sie hindurch auf die aus der Kirche kommenden Menschen. „Fahr schon“ murmelte sie.
Als wir wieder in der S-Bahn Richtung Berlin saßen, fing sie an zu erzählen. Sie erzählte und ich merkte, dass sie das nicht oft tat, dass es ihr schwer [red] f[/red]iel, über ihre Vergangenheit zu reden. Sie hatte keine kompakten „Ich komme aus Tragow“ Geschichten parat, keine schon vorformulierten und in Berliner Kneipen schon oft erzählten Zusammenfassungen und Konzentrierungen auf das Wesentliche. Wahrscheinlich ignorierte sie einfach diese Kennenlern-Fragen, wie wir sie gemeinsam ignorierten, bei unserer ersten Begegnung. Sie erzählte in Bruchstücken, durcheinander. Sie erzählte von der Gans, die sie bei der Tombola auf dem Schützenfest gewonnen hatte und dann tagelang im selbstgebauten Gehege im Wald versteckt hielt, um sie vor dem Metzger zu bewahren. Von ihrer besten Freundin Marianne, die früher in dem kleinen verfallenen Haus wohnte vor dem wir eben noch standen. Von ihrem Bruder, der die merkwürdigsten Streiche anstellte, den sie nie verpetzte und der ihr half wenn die Jungen aus ihrer Klasse sie ärgerten. Von Weihnachten, von ihren Großeltern, von einem Baumhaus und ihrem orangen Fahrrad. Dazwischen, fast beiläufig, erzählte sie von dem Unfall, als sie elf war, wie ihr Vater und Bruder starben, von der Zeit danach und von ihrer Mutter, in einem Berliner Pflegeheim. Sie sagte nichts Genaues, schnitt alles nur an. Das Wichtigste angedeutet, untergemischt, unter viele kleine Geschichten und Erinnerungen. Je näher wir Berlin kamen, desto unbeschwerter wurden ihre Erzählungen, vermischten sich mehr und mehr mit anderen Themen, wie ihrer Abendplanung oder der kultigen Hässlichkeit von Sitzbezügen in S-Bahnen. Aus ihrem Sprechen wurde wieder ein Singsang, aus ihren Bewegungen wieder eine Art Ausdruckstanz, ein paar Mal „huhu“ und „hehe“ und Luca war wieder die alte.

Irgendwann war Luca weg. Ich lief durch den ganzen Laden, fand sie nicht. So war es fast immer, irgendwann war sie weg. Als sie zum ersten Mal auf einer Party einfach verschwunden war, suchte ich sie lange, wartete, ging mit den letzten Gästen, machte mir große Sorgen und klingelte an ihrer Tür. Niemand öffnete. Sie kam erst früh morgens. Ich hatte mich schlafend gestellt und war sauer, sie legte sich zu mir, ich sagte nichts und war froh meinen Kopf in ihre weichen, verrauchten Haare legen zu dürfen. Wenn wir zusammen ausgingen kam sie nachher immer, viel später. Sie wird auch heute kommen dachte ich, trank mein Bier in schnellen Zügen, tauschte ein paar Blicke mit der stolzen Kellnerin und war auch stolz. Dann ging ich zu Fuß nach Hause, schaute in die wenigen noch erleuchteten Wohnungen und freute mich auf sie.
Wir hatten uns geküsst in der Nacht, in der wir uns zum ersten Mal sahen, dann nie wieder. Es waren unbeholfene, gefühllose Küsse und ich hielt es damals für ein unpassendes, unwürdiges Ende einer schönen Nacht. Immer wenn ich später nachts hinter ihr lag, meine Hand auf ihrem Bauch, unsere Beine ineinander, hätte ich sie gerne noch mal geküsst, ich war überzeugt, dass es anders als damals sein würde. Ich tat es nie, aus Angst irgendwas zu zerstören.

Zu Hause ließ ich die Wohnungstür angelehnt, rauchte Zigaretten, machte den Computer an und wieder aus, spielte ein paar Akkorde auf der Gitarre und dachte dabei an Luca. Als ich aufwachte dämmerte es schon, der Radiowecker, der noch auf wochentags eingestellt war, plärrte „Easy like Sunday morning“ in der „Faith no more“ Version. In meinen Armen lag noch die Gitarre, der Fernseher tauchte das Zimmer in Blautöne und ließ Decke und Wände hektisch flimmern. Luca war noch immer nicht da. Ich ließ es plärren und flimmern, flüchtete auf den Balkon und rauchte. Über den Häuserdächern, hinter den blattlosen Baumkronen erhellte sich der Himmel. Es war still, nur das leise, entfernte Rauschen einer Stadt. Ich überlegte wie sich dieses ständige nächtliche Stadtgeräusch zusammensetzte. Fügten sich sämtliche Einzelgeräusche zu diesem immer gleichen, fast beruhigenden Grundton zusammen? Abbremsende S-Bahnen, das Gekläffe eines Hundes, herunterfallende Rollläden, das Zusammenprallen zweier Autos, ein Husten im Schlaf, die Schaltrufe betrunkener Fußballfans, Lionel Richie Cover aus plärrenden Radioweckern? All das hörte man und hörte es nicht. Wahrscheinlich war es so, all das waren Bestandteile des Stadtgeräuschs. Alles was laut war in einer Stadt, vom Wind ins Unkenntliche durchmischt wieder zusammengefügt und verteilt. Da wo ich aufgewachsen bin, auf dem Lande, gibt es dieses Geräuschgemisch nicht. Die Geräusche einer Nacht sind zuzuordnen. Ein Lastwagen bremst vor der Ampel auf der Bundesstrasse, ein Zug rast durchs Nachbartal, Musik aus der offenen Tür der einzigen Kneipe, dazwischen nichts.
Der Moderator im Zimmer hinter mir hatte sich in den Kopf gesetzt alle ihm bekannten Cover-Versionen von „Easy like Sunday morning“ hintereinander zu spielen, um den Hörer dann später von der Qualität des Originals zu überzeugen.
Ich schaute am Haus herunter, Lucas Wohnung, Licht.
Ich lief die Treppe herunter, zu ihrer Wohnung und klingelte. Die Tür ging auf und ich sah weiße, mit Sommersprossen übersäte Haut, ein rosa Handtuch. Vor mir stand ein großer, nackter Mann und stellte mir englisch fluchend Fragen, die ich nicht verstand. Ich ging an ihm vorbei in die Wohnung. Auf dem Küchenboden saß Luca im weißen Bademantel und rauchte. Als sie mich sah, stand sie auf, stocherte hektisch im Aschenbecher, wischte sich die Asche an ihren Fingern am Bademantel ab und schaute dabei aus dem Küchenfenster. Ich ging zu ihr, drehte sie zu mir, und schob mein Gesicht ganz nah vor ihres. Ich wollte irgendetwas sagen, einen passenden Satz, ich wollte weinen, wollte herumschreien, aber ich brachte nichts heraus. Wir standen einfach nur da, schauten uns an, atmeten schnell und schwiegen. Das ist Mike, sagte Luca nach einer Weile und zeigte auf den großen Nackten, der in die Küche kam und versöhnlich grinste. Ich beschloss die Situation zu beenden. Im Hinausgehen drehte ich mich noch mal zu ihr um und sah wie sie diesem Mike mit hilflosen, großen Augen ansah.
In meiner Wohnung zog ich die Tür hinter mir zu, legte mich in mein Bett, auf meine Seite. Aus dem Radiowecker jetzt die Originalversion von Lionel Richie, „I wanna be high, so high, I wanna be free, so free”. Ich wollte weinen, ich wollte laut schreien, aber blieb still, auch später.

Im Februar hörte ich zum letzen mal etwas von Luca. Auf der Postkarte waren drei Ansichten von San Fransisco zu sehen. Die Golden Gate Bridge vor der untergehenden Sonne, ein mit Leuchtreklamen überladener Straßenzug bei Nacht, ein Traumstrand mit Palme und Bikinimädchen.

Viele Grüße und tausend Küsse aus San Fransisco. War erst in Texas bei Mike, lief nicht so gut, wurde mir alles zu viel, bin deshalb jetzt hier. Mal sehn was so geht.
Deine Luca.
 

moll

Mitglied
Danke für Eure Reaktionen,
freut mich, wenn Euch die Geschichte gefällt.

Hallo tsunami,
Über den Titel werde ich noch einmal nachdenken…

Hallo Gabi Sils,
vielen Dank für die Vorschläge und Korrekturen, die meisten
kann ich nachvollziehen und werde sie einarbeiten. Den Text
hatte vorher noch niemand „gegengelesen“ und ich sehe, es gibt noch einiges zu tun...

Viele Grüße,
moll
 



 
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