Hackfleischklößchen

eli-fant

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Josephine stand am Herd vor einer Pfanne mit brutzelndem Fett und briet Hackfleischklößchen.
Es waren Gebilde, die die Form von Frikadellen hatten, aber viel kleiner waren - der Durchmesser nur etwa fünfmarkstückgroß.
Eine stattliche Anzahl der fertig gebratenen Klößchen lag bereits auf einer Porzellanplatte. Trotzdem schien die Masse aus rohen Hackfleisch, Ei und Gewürzen, die sich in einer Plastikschüssel neben dem Herd befand, in der vergangenen Stunde kaum weniger geworden zu sein.
Josephine seufzte. Ihr war heiß. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn.
Plötzlich wurde sie von einem leichten Schwindel erfasst. Die Konturen der Bratpfanne verschwammen vor ihren Augen. Sie schaltete die Herdplatte aus, öffnete das Fenster und atmete tief durch.
Den Geruch von gebratenem Hackfleisch hatte sie noch nie ausstehen können.
Dann setzte sie sich an den Küchentisch und starrte auf die zur Hälfte mit Hackfleischklößchen bedeckte Platte.

Auf einmal war ihr, als lägen statt der vermaledeiten Hackfleischgebilde die Tage ihres Lebens vor ihr ausgebreitet: Tadellos aneinandergereiht, einer dem anderen gleichend - wie die Klößchen in ihrer knusprig braunen Hülle.
"Weißt du, ich habe da eine Theorie..." hatte Hartmut, ihr Mann, verkündet, bevor er heute das Haus verlassen hatte. "Bei diesen Klößchen kommt es hauptsächlich auf's Äußere an. Die knusprig gebratene Kruste ist es, die aus kalten Frikadellen etwas Partytaugliches macht."
Ist es nicht auch in ihrem Leben so, daß es hauptsächlich auf's Äußere ankommt? Darauf, daß sie funktioniert - den Haushalt in Schuß hält, das Familienleben organisiert und Gäste bewirtet?
Wie es in ihr aussieht, ist dabei nicht von Interesse.
"...Und weil das mathematische Verhältnis der Oberfläche zum Volumen zunimmt, je kleiner die Klößchen sind, sind kleine Klößchen bedeutend schmackhafter als große." hatte Hartmut seine Ausführungen beendet.

Hartmut war Wissenschaftler. Chemiker. Er hatte für alles eine Theorie.
Auch für Dinge, die nichts mit Chemie zu tun haben.
Eine andere seiner Theorien breitete er gerne vor Kollegen und Freunden aus:
"Es ist nichts als ein dummes Gerücht, daß Frauen anspruchsvoll oder kompliziert seien. Jeder verheiratete Mann kann dafür sorgen, daß er eine zufriedene Ehefrau hat - er braucht nur etwas Geschick walten zu lassen. Ab und zu ein paar anerkennende Worte, ein bißchen Zärtlichkeit im rechten Moment... Ich behaupte, daß es einem Mann mit minimalem Energieaufwand möglich ist, eine Frau glücklich zu machen.
Und sind es nicht wir Männer, die zuallererst davon profitieren, wenn unsere Ehefrauen zufrieden und ausgeglichen sind?"
"Ich freue mich auf die Feier mit meinen Kollegen heute abend." hatte Hartmut, die Aktentasche schon in der Hand, gesagt. "Du auch?"
Josephine hatte nicht geantwortet. Er hatte auch keine Antwort erwartet, sondern "Ich liebe dich." gemurmelt, wobei er einen befriedigten Blick auf die Hackfleischklößchen geworfen hatte.

Um ihren trüben Gedanken zu entfliehen, stand Josephine vom Küchenstuhl auf und ging ins Wohnzimmer.
"Ich werde den Tisch für heute abend vorbereiten und später mit dem Hackfleisch weitermachen." dachte sie.
Als sie aus dem untersten Schrankfach mehrere Päckchen mit Papierservietten hervorholte, fiel etwas zu Boden.
Josephine bückte sich. Es war ein Foto.
Mitten auf einer Wiese, die von rotem Mohn übersät war, stand eine junge Frau.
Es musste auf einer der griechischen Inseln aufgenommen sein, auf Chios vielleicht oder Samos.
Wie alt war sie damals? Achtzehn oder neunzehn?
Mehr als fünfundzwanzig Jahre waren vergangen.
"Bin das wirklich ich?"
Was war aus dem Mädchen geworden, das sich nicht sattsehen konnte an der leuchtenden Farbe des Mohns?
Das so lebenshungrig gewesen war und solch abenteuerlustige Zukunftspläne geschmiedet hatte...

Josephine ließ Servietten und Foto auf dem Wohnzimmertisch liegen und ging zurück in die Küche.
Sie schaltete die Herdplatte an. Als das Fett heiß war, warf sie einen prüfenden Blick in die Schüssel mit rohem Hackfleisch .
Vierzig Klößchen - schätzte sie.
Dann kippte sie die ganze Masse auf einmal in die Pfanne. Eine Art Fladen entstand. Sie ließ ihn kurz anbraten und wendete ihn. Dann legte sie einen Deckel auf die Pfanne, schaltete die Herdplatte aus und verließ die Wohnung.


Da war er plötzlich wieder, dieser Schwindel.
Vor einem Blumengeschäft zwang er Josephine, stehenzubleiben. Sie ließ ihren Blick wie haltsuchend in die Auslagen schweifen.
Es war ein exklusives Geschäft.
Vor Jahren hatte sie darin einmal einen Strauß für eine Bekannte erstanden - eine alte Dame, die im Altenheim ihren 85. Geburtstag gefeiert hatte.
Hartmut war damals nicht begeistert gewesen von der unnötigen Ausgabe.
"Für die Hälfte des Geldes hättest du eine schöne Schachtel Pralinen bekommen." hatte er erklärt. "Pralinen sind doch etwas, was Frauen mögen. - Was auch 85-jährige Frauen noch mögen!" hatte er hinzugefügt und geschmunzelt wegen seines Scherzes.
Josephine hatte das Blumengeschäft seither nicht mehr betreten.

In der Mitte des Schaufensters stand eine Vase mit roten Rosen.
Josephine hätte nicht sagen können, warum sich ihre Augen plötzlich mit Tränen füllten. Durch den Tränenschleier hindurch hatten die Rosen Ähnlichkeit mit rotem Mohn.
Josephine putzte sich die Nase, hielt eine Moment inne und trat dann kurz entschlossen durch die Ladentür.
"Ich möchte gerne Rosen." sagte sie zur Verkäuferin. "Die roten im Schaufenster."
Die Verkäuferin lächelte freundlich. "Wieviele dürfen es sein?"
Josephines Blick fiel auf das Preisschild. Die Rosen waren teuer.
"Ich möchte alle." sagte sie nach einer kurzen Pause.
"Siebenunddreißig sind es." zählt die Verkäuferin. "Ich binde ihnen einen schönen Strauß mit ein bißchen Grün drin. - Ein Geschenk zu einem besonderen Anlaß?" fragte sie noch.
"Ja." sagte Josephine. "Sie sind für jemanden, den ich lange vernachlässigt habe."

Als Hartmut zwei Stunden später nach Hause kam, betrat er erwartungsvoll die Küche.
Sein Blick fiel auf die zur Hälfte mit Hackfleischklößchen bedeckte Platte. Ein zweiter Blick auf einen Teller, auf dem sich etwas ihm Unbekanntes türmte. Bei näherer Betrachtung entpuppte es sich als in kleine Würfel geschnittener Hackbraten.
Er rümpfte die Nase.
Gleich darauf öffnete er die Wohnzimmertür.
"Josephi- " Ihr Name blieb ihm im Hals stecken.
Seine Frau saß im Schaukelstuhl vor dem Fenster inmitten einer Flut roter Rosen.
Neben sich eine halbleere Tasse Kaffee, blätterte sie in einem Reisebüro-Katalog, auf dessen Umschlag "Ionische Inseln" zu lesen war. Ein anderer mit der Aufschrift "Peloponnes" lag auf dem Boden.
Sie sah ihn an.
"Mir war schwindlig, da bin ich spazierengegangen. Und als ich zurückkam, dachte ich, ich hätte für heute genug gearbeitet. Ich hatte einfach keine Lust mehr, verstehst du?"
Zum ersten Mal seit neunzehn Ehejahren war Hartmut für einige Augenblicke sprachlos.
 



 
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