Handzeichen

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ENachtigall

Mitglied
Handzeichen

Ich sehe gern Hände.
Neuerdings sehe ich
alten Händen beim Sprechen zu.
Sie nesteln an Bettdecken, Nachthemden, Schläuchen auch,
am meisten aber an Stoff.
Sie fühlen ihn zwischen zwei, drei Fingerspitzen
wie edle Garne, kostbare Gewebe,
als prüften sie wählerisch die Ware des Tuchhändlers.
Wie mitten im Leben auf dem Markt
an einem Donnerstag.

Die Ruhelosen bewegen sich schneller.
Sie suchen großräumig in Reichweite den Halt.
Meistens finden sie das Bettgitter.
Sie halten sich fest,
wie Schiffsreisende an der Reling.
An Bord. Auf Deck.
Den Blick versteckt in sich selbst.
Noch nicht in die Tiefe fallen.
Ins Fassungslose.
Noch da sein.
Ein bisschen bleiben.
Noch etwas festhalten.
Immer noch stark.

Manchmal sehe ich sie flattern.
Ängstliche kleine Flügelschläge.
Wenn ich sie nehme,
fassen sie beherzt zu,
beruhigen sich still.
Zwei Glieder einer Kette.
Halten.
Einen Moment lang warm verwoben.
Wie ewig.
Wie damals.
Wenn ich vor Angst nicht schlafen konnte.
Darf ich deine Hand?
Sie hat sie mir immer gegeben.
Meine Schwester.
Die, mit der ich immer gezankt habe.
Da hält die Angst nicht mit.
Bei einer handvoll Ruhe
für einen Menschen.


Februar 2006
 
L

Larissa

Gast
Liebe ENachtigall,

was für ein wundervolles Gedicht!Sensibel und einfühlsam geschrieben.
Ich werde gleich noch einmal meine Schwester anrufen, denn viel zu oft vergessen wir, dass wir nur Gast auf Erden sind und es schon morgen vorbei sein kann.
Auch handwerklich gibt es nichts zu meckern. Bravo.

Liebe Grüße

Larissa
 
L

Larissa

Gast
ich muss mich leider korrigieren. Handwerklich sind mir doch noch zwei kleine Rechtschreibfehler aufgefallen: "da sein" und "Hand voll", was aber der Qualität keinen Abbruch tut.

Gute Nacht

Larissa
 
I

inken

Gast
Liebe ENachtigall

Ich vergebe selten eine "10", Gott sei dank, sonst hätte ich hier nicht gewußt, wie ich bewerten soll, da das Gedicht so
ungewöhnlich stark ist. Klasse!
Und ich habe dasselbe gedacht wie Larissa - ich habe auch eine Schwester:)

Gruß Ingrid
 

ENachtigall

Mitglied
ein ganz herzliches Danke

@ BikeXdream, für die Anerkennung.

@ Larissa, für das genaue Lesen, die Gedanken dazu und das Aufspüren der Fehler.
"Dasein" werde ich abändern in "da sein". "Handvoll" möchte ich so stehen lassen, da mir scheint, dass in der Zusammenschreibung beide Begriffe eher verschmelzen, eine Einheit bilden; in der anderen Form empfinde ich es als Nebeneinander. Lese ich z.B. Fuß hoch, denke ich an eine Aufforderung, selbst wenn aus dem Kontext hervorgeht, dass es keine ist.
Schön auch, dass es Dich an Deine Schwester denken ließ!

@ inken, sooo viel Gutes zu "ernten" macht mich fast verlegen. Natürlich freue ich mich - am meisten darüber, wenn jemand etwas Eigenes daraus mitnimmt.

Ganz herzliche Grüße

Elke
 
Wahnsinn, elke,
ein wirklich mehr als gelungenes Werk, gelesen ein Genuss - dieser ganze Fluss der Worte nimmt einen wie ein Gebirgsbach mit.

mit freundl. Grüssen,
Marcus
 
B

bonanza

Gast
an einem donnerstag - immer noch stark - für einen menschen.

ich lese das gedicht später noch mal.

danke
bon.
 

ENachtigall

Mitglied
Danke für das Lesen und Kommentieren,

@ Marcus Richter, den Vergleich habe ich sehr gern gelesen. Das Gedicht entstand nach einer beruflichen Konfliktsituation (mir wurde vorgeworfen, ich nähme mir zu viel Zeit für Patienten). Daher rührt dieser "Fluss der Worte".

@ bonanza, Dein Kommentar, in Form einer Collage aus den letzten Zeilen der Strophen beweist einen "kreativen Blick". Danke auch dafür.

@ Prosaiker, Du weißt, der Geschmack ... zudem haben wir alle unsere Phasen, mal mehr oder weniger zugängliche Texte zu schreiben.

Euch allen einen lieben Gruß.

Elke
 

ENachtigall

Mitglied
Hallo Heike,

auch für Deinen Kommentar zu dem Gedicht bedanke ich mich herzlich. Schön, dass Dich der Abschluss, wie Du sagst, bewegt hast. Ein gutes Gefühl ist es, Menschen zu "erreichen". Oder sogar das beste.

Lieben Gruß
Elke
 

Zarathustra

Mitglied
Du hast ein wunderbares Gedicht geschieben.

Diese Hände, dieses Zittern,
diese Berührungen..

sie werden mich noch lange begleiten..

Liebe Grüsse
Hans
 

rosste

Mitglied
Das ist ein schönes Gedicht und ein starkes. Und es setzt Zeichen - nicht mit dem Zeigefinger oder dem hellen Geist - sondern mit dem Herzen und dem Bauch...und den Händen.
Du gibst die Hand dem anderen und der greift zu. Du gibst und bekommst und mir fiel dabei ein: Wer behandelt hier eigentlich wen?
"Wie mitten im Leben auf dem Markt
an einem Donnerstag"
ist heute.
Heute ist Donnerstag.
Morgen auch.
Prima.
 

Vera-Lena

Mitglied
"Eine handvoll Ruhe", wunderbar! Oft, oft habe ich das erleben dürfen in allen Kreislaufzusammenbrüchen, und ich war immer wieder erstaunt, dass das möglich ist.

Liebe Grüße von Vera-Lena
 
S

Saurau

Gast
halten sich fest finden das Bettgitter noch da in Reichweite schneller immer noch stark fassen sie beherzt zu einen Moment lang hält die Angst Ruhe
hält deine Hand?

Da ich nichts anzumerken habe, was nicht schon da steht, versuche ich meine Gefühle auf diesem Weg auszudrücken.
Wunderschön, dein Gedicht, wie ich finde.

Danke, Daniel
 

ENachtigall

Mitglied
für das Interesse an diesem Gedicht

...möchte ich noch einmal allen danken, die es gelesen, nachempfunden, so großzügig bewertet haben, ganz besonders aber denjenigen, die ihre Anerkennung in Kommentaren zum Ausdruck brachten.

@HFleiss: Hanna, Dir, für´s Mitfühlen.

Zarathustra: Hans, das Thema "Berührungen" beschäftigt mich schon eine geraume Zeit. Das Handhalten begleitet uns im Optimalfall vom ersten Lebenstag, wenn die Babyhand sich im Reflex um den gereichten Finger schließt, bis zum letzten Atemzug. Es überzeugt mich, ob der Leichtigkeit der Geste, die so unkompliziert verbindet, dass es oft mehr nicht bedarf.

@rosste: Stephan, es freut mich, dass Du die Herzlichkeit ansprichst und auch die Gegenseitigkeit, die in jeder ehrlich gelebten Nähe den Prozess von Geben und Nehmen rund macht.

@Vera-Lena: schön, dass Du es auch schon so erlebt hast. Es ist auch wichtig, sich gut aufgehoben wissen zu können, für den Fall einer Schwäche oder Krankheit.

@Saurau: Daniel, mir gefällt Deine Art, spielerisch mit dem Text umzugehen. Steckt in dem Fragezeichen ein Gefühl des Zweifels oder der Unsicherheit, frage ich mich...oder einfaches Wundern?

Liebe Grüße an euch alle und ein behagliches Wochenende.

Elke
 

Rhea_Gift

Mitglied
Das ist einfach der Hammer! Beredte Hände, tolles Bild, geht unter die Haut steckt alles drin, kein Wort zuviel oder zu wenig - da stimmt alles.

Beeindruckte Grüße! Rhea
 

ENachtigall

Mitglied
Lieben Dank, Rhea_Gift,

dein Kommentar freut mich sehr!

Wenn ich das Gedicht heute lese, denke ich daran, wie sensibel ich mich damals durch eine echte Krise gekämpft habe. Schreiben ist einfach eine großartige Leidenschaft!

Grüße von Elke
 



 
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