Hank schläft nicht

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ohrengold

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Hank schläft nicht

Kreuzberger Nächte sind lang, heißt es, und eine solche Nacht schien es zu werden für den armen Zeitungsschreiber Hank.
Hank, dem das Leben gerne Kiesel an die Fersen band und in die offenen Augen spuckte. Und wieder hatte es zugeschlagen und Hank war früh ins Bett gegangen um dem Miesepeter ein Schnippchen zu schlagen, doch waren seine Gedanken gereizt und seine Seele voller Magenbitter, Zweifel am Leben, an Geld, am Sinn und an Gott. Kurzum, er konnte nicht schlafen.
Sein Arbeitgeber hatte einen Termin verpasst, für Hank einen sehr wichtigen Termin - es handelte sich um die fällige Lohnzahlung - für den Arbeitgeber ein lästiges Muss. Nun war aus dem Muss ein muss nicht geworden, vielleicht gar ein gemeines habe keine Lust, denn es war Ostern und an Ostern ruhen die Geschäfte. Hank wälzte sich in seinem Bett nach links, nach rechts, dann diagonal und kalter Schweiß und die Zeit ließen Laken, Hank und Leinendecke zu einem großen Klumpen verschmelzen, der sich sichtlich unwohl fühlte. Der Vollmond schien von Quer zum Fenster hinein - hier möchte ich dem Vollmond keine Absicht unterstellen - und gab dem blassen Zeitungsschreiber das Antlitz einer aufgebahrten Leiche, ölig und kalt wie Kerzenwachs, und hinter den Lidern offenbarten sich in manchem Augenblick zwei tiefe schwarze Tümpel, in denen sich der Vollmond spiegelte, vermengt mit existenzieller Furcht. Diese Furcht war von solcher Art, wie sie unstete Seelen am liebsten frisst.
Ich weiß nicht, was ein Psychologe in solchen Fällen zu sagen pflegt. Vielleicht, dass Hank an seine Rücklagen denken soll, dass er einer kleinen Verzögerung Opfer sei, nicht mehr. Vielleicht, er solle seine finanzielle Situation überdenken. "Macht 200 Euro," sagt der Psychologe zum Ende hin und gibt durch diesen deutlichen Wink mit den zweihundert Zaunpfählen zu verstehen, galant, wie es sich gehört, was auch Sie verstanden haben sollten, werter Leser, und somit keiner weiteren Worte meinerseits bedarf. Ein Zeitungsschreiber hingegen sollte in jeder Situation genügend unpassende Worte in der Westentasche haben - besser noch: im Überfluss - nur hatte Hank sie eben nicht und auch ein Psychologe war nicht aufzutreiben. So drehte und drehte sich die Spirale, die eine Kette war, geschlungen um Hanks Verstand und dieses eine unsinnige Thema. Weiße Blitze marterten sein Gehirn, Kontostände donnerten durch sein Bewusstsein, rot und groß und ewig wie die Täler dieser Welt, Szenarien der Armut fielen bleiern auf ihn nieder und der kalte Mond drängte sich durchs Fenster, bis er groß und rund im Zimmer stand.
"Dein Leben ist lang," sprach der Mond.
"Ist es das?" erwiderte die lebende Leiche und lächelte. "Ist es das wert, so ein langes Leben?"
"Jeder Tag ist ein Geschenk, das weißt du doch." Auch der Mond lächelte, seine Intention war jedoch eine andere.
"Meine Mutter hat es mir gesagt," knirschte es hinter den zusammengepressten Zähnen der lebenden Leiche hervor. Die Worte wurden nur zum Teil von seinem Atem transportiert, die tieferen Frequenzen kamen mit dem Speichel um die Backenzähne, so dass man meinen konnte, der Mond unterhielte sich nicht mit Hank, dem Zeitungsschreiber, sondern - und diese Vorstellung scheint mir fast absurd - mit den Verwesungssäften seines menschlichen Kadavers.
"Je..." Der Mond stutzte. Lange dachte er darüber nach, vergaß Essen und Trinken und legte sich nur noch am Tage schlafen. Täglich nahm er ab, war er anfangs noch bei Hank im Zimmer voll und rund gewesen, fehlte ihm nur eine Woche später ein gutes Viertel, nach zwei Wochen die Hälfte, drei Viertel nach der dritten Woche, und dann - ja, so viel hatte er nachgedacht - war der Mond verschwunden.
 



 
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