Harmlos gelogen

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Eigentlich sah ich es dem Blick seiner Augen bereits an. Warum ich mich dennoch zu ihm setzte, weiß ich nicht, zumal er ganz allein im vorderen Teil der U-Bahn saß und ich eigentlich dazu neige, mir freie Sitzbänke zu suchen.
Manchmal nehme ich, da ich mit neunundsechzig Lebensjahren ansonsten kaum noch in den Genuss ihrer Nähe komme, auch gezielt neben einer jungen wohl riechenden weiblichen Schönheit Platz. Mein künftiger Sitznachbar war jedoch weder besonders jung und weiblich noch war er schön. Zudem roch er nach Zigarettenrauch und Schnellimbiss. Unter einer Haartolle blickten beiderseits einer äußerst krummen Nase je ein ungewöhnlich großes braunes Augen zu mir auf, so, als fürchte ihr Besitzer umgehend einen Angriff. Der Mann rückte zum Fenster und raffte hastig seinen dünnen grauen Mantel zusammen, beobachtete mich ununterbrochen von der Seite, räusperte sich und meinte schließlich, er betreibe es als Sport, das Lügen. Wahrheit sei ihm viel zu aggressiv.
Als ich ihn anblickte, streckte er mir sofort abwehrend seine zitternde rechte Hand entgegen. Vorsichtig schüttelte ich den Kopf und versuchte zu lächeln. „Ich werde Ihnen nichts tun. Bin vollkommen harmlos, glauben Sie mir.“
„Wie gut, dass Sie mich auch belügen!“ Seine Stimme vibrierte. „Wir Beide könnten uns deswegen bestens verstehen.“ Er versuchte noch weiter von mir abzurücken, kicherte in sich hinein und hörte mit der Kicherei nicht mehr auf.
Als ich Anstalten machte aufzustehen, legte er mir besänftigend die zitternde Hand auf den Schenkel. „Kichern ist doch in U-Bahnen nicht verboten? Und Sie sehen aus, als hätten Sie viel Humor.“
Es kostete mich Mühe zu lachen, zumal ich ohnehin kaum mitlache, wenn Leute sich über irgendwelche Albernheiten schier totlachen.
Die U-Bahn hielt. Der Mann sprang auf, stand breitbeinig vor mir, rammte mir seine rechte Faust in den Magen, die linke ins Gesicht, hastete zum Ausgang und schrie: „Er hat gelacht. Er wollt mir in die Fresse haun. Er wollt mir in die Fresse haun!“
Bevor ich richtig zu mir kam, fuhr die Bahn wieder. Fahrgäste in meiner Nähe sahen sich verstohlen nach mir um, standen auf und suchten sich im hinteren Teil der Bahn neue Plätze.
Eine Frau mit grauem strähnigen Haar kam an mir vorbei, hielt sich ihre lederne Einkaufstasche wie ein Schild vor das Gesicht, beugte sich zu mir herab und fragte murmelnd, was ich dem armen Mann denn getan habe.
„Nichts!“ fuhr ich sie an. „Gar nichts!“ Und es standen noch einige auf und gingen in den hinteren Teil.
 

petrasmiles

Mitglied
Ganz schön verstörend, diese Geschichte. Alle Achtung. Und kommt dabei so 'harmlos' daher.
Solch eine Begegnung wünscht man seinem ärgsten Feind nicht.
Rund und gut!

Liebe Grüße
Petra
 
Liebe Petra,
über deine positive Rückmeldung habe ich mich sehr gefreut. Angst ist m. E. immer verstörend und Verstörungen erzeugen immer Angst.

Liebe Grüße
Karl
 



 
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