Heimlich mithören

Damals in Amsterdam ... Es war eines der alten Häuser an der Warmoesstraat; ich kann mir nicht vorstellen, dass es heute noch steht. Schon damals blühte schwärzlich der Schimmel in den Ecken des alten Gemäuers. Ich glaube, mein Zimmer lag nur knapp über dem Wasserspiegel des Damrak, auf den die Rückfront der Absteige ging. Der Wirt erzählte gern, was die Altstadtbewohner alles aus ihren Häusern ins Wasser warfen, sogar ausgediente Waschmaschinen waren darunter. Und am gegenüberliegenden Ufer bestiegen arglose Touristen die Boote der Grachtenrundfahrten. Davon sah ich nichts, denn mein Zimmer lag an einem dunklen Kellergang und war selbst fensterlos. Wer einmal Hans-Henny Jahnns "Die Nacht aus Blei" gelesen hat, kann sich die Atmosphäre dort unten vorstellen. Es gab da Insekten, die ganz ohne Tageslicht auskamen.

Die Belüftung des Zimmers erfolgte über einen kleinen Luftschacht, dessen Schieber per Hand verstellbar war. War er offen, hörte ich viele Geräusche aus den Räumen über mir: Türenschlagen, Wasserrauschen, Gemurmel, Flüche, Stöhnen. Auf die Dauer wirkte es monoton, einschläfernd.

Einmal wurde dort oben, in der Beletage, über mich gesprochen, und diesmal verstand ich jedes Wort. Ich hatte die beiden Hamburger beim Frühstück und an der Rezeption gesehen, doch bisher kein Wort mit ihnen gewechselt. Sie waren mir bieder und unscheinbar vorgekommen.

"Hast du bemerkt, dieser Berliner (das war ich) - dieser Berliner hat immer ein Buch dabei." Das stimmte nur zum Teil, oft war es stattdessen auch eine Zeitung. Doch wollte ich gerade jetzt nichts richtigstellen.

"Ja, ist mir auch schon aufgefallen", sagte der andere, "du, ich glaube, der will - - - "

Es spielt keine Rolle, um welches Detail aus der Psychopathia sexualis es sich handelte. Jedenfalls wusste ich mich frei von solchen Wünschen. Wie kam er zu dieser Vermutung? Hatte er vielleicht seine eigenen Wünsche auf mich projiziert? Mit angehaltenem Atem horchte ich weiter, doch sie wechselten leider schon das Thema.

Selten habe ich so krass empfunden, wie wenig unser eigenes Bild von uns sich mit dem der anderen deckt. Wir werden permanent verkannt und falsch eingeschätzt. Andererseits: Wer kennt sich selbst und seine geheimsten Wünsche tatsächlich? War vielleicht doch etwas dran? Lassen wir es offen.
 

NewDawnK

Mitglied
"Ja, ist mir auch schon aufgefallen", sagte der andere, "du, ich glaube, der will - - - "

Es spielt keine Rolle, um welches Detail aus der Psychopathia sexualis es sich handelte. Jedenfalls wusste ich mich frei von solchen Wünschen.
Hallo Arno Abendschön,

ich vermute, „- - -“ soll andeuten, dass diese Stelle im Text für Deine Leser zensiert wurde.
Dass jemand ein offenbar aufwühlendes Erlebnis in (s)ein Tagebuch schreibt und den Schlüssel zum Verständnis anschließend „schwärzt“, ist jedenfalls nicht alltäglich.

Wir werden permanent verkannt und falsch eingeschätzt. Andererseits: Wer kennt sich selbst und seine geheimsten Wünsche tatsächlich?
... ist ohne Frage ein interessanter Denkanstoß. Sowohl Fremdeinschätzung als auch geheimste Wünsche wurden im konkreten Fall allerdings verschwiegen.

Als Leserin fühle ich mich leicht veräppelt, denn es bleiben als Leseeindruck nur Fragezeichen:
Worum geht es hier eigentlich? Was will der Autor bezwecken? Will er die Tagebuchleser in ihrer Neugier vorführen? Geht es ihm darum, eine Alltagsphilosophie in den (öffentlichen) Raum zu stellen?
Oder ist der Text ein Auszug aus einem größeren Werk, das all meine Fragen beantworten würde?

Nachdenkliche Grüße

NDK
 
Danke für die Reaktionen. An sich sollte das Auslassen der vermuteten Neigungen die Phantasie des Lesers / der Leserin anregen. Um die Einbildungskraft, falls nötig, zu fördern, teile ich jetzt noch mit: Es ging um extreme sadomasochistische Praktiken.

Stimmt, im Tagebuch, das man für sich selbst führt, unterdrückt man nichts. Der vorliegende literarische Text ist jedoch geschrieben, um veröffentlicht zu werden. Er könnte auch in andere LL-Rubriken eingeordnet werden.

Mir fällt immer wieder auf, wie sehr einige hier die Frage interessiert: Ist der Text in der richtigen Schublade gelandet? Dieses Kästchendenken bleibt mir fremd.

Arno Abendschön
 

NewDawnK

Mitglied
Mir fällt immer wieder auf, wie sehr einige hier die Frage interessiert: Ist der Text in der richtigen Schublade gelandet? Dieses Kästchendenken bleibt mir fremd.
Auch in jeder anderen "Schublade" hätte mich das "- - -" befremdet.
Dein Text ist übrigens bis zu dieser Stelle recht gut geschrieben.

Viele Grüße

NDK
 



 
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