Hellsicht

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mugwump

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[ 4]Nicht nur der Schlaf macht hellsichtig, es sind vor allem seine nahen Anverwandten, die den Geist zuweilen durchlässig für nie gesehene Gesichte machen: Das Dämmern vor dem Schlafengehen, die Trägheit zu Beginn des Nachmittags, diese schweren Wasser, die durch deine Glieder schwappen, deine von der Müdigkeit kribbelnden Fingerspitzen, die vom Schlaf schwere Brust, das nachlassende Licht, das durch die zu Schlitzen verengten Lider rinnt - ist man auf solche Art nur gerade einen Zentimeter aus dem Wachsein herausgerutscht, liegt der Blick frei auf die unsägliche Mühsal, die in den banalsten Anforderungen des Lebens beschlossen liegt. Welche Mühe, sich aus dem Stuhl nah beim Fenster zu erheben, welche Strapaze, über den Gang in die Küche zu kommen, was für eine Quälerei, essen zu müssen, wie beschwerlich es ist, sich morgens aus den Laken zu winden, und wie unmöglich kommt es dir vor, die Augen auf eine trüber werdende Welt zu öffnen. Die Wände rücken näher an dich heran, Tisch, Stuhl, das weiße Fensterviereck und das Bett mit dem zerwühlten, leeren Laken wandeln sich in Bewohner einer Deliriums-Menagerie, an den Umrissen der Dinge springen die Kanten scharf hervor wie Messer.

[ 4]Es ist Hellsicht, sich gegenüber den Anfeindungen des Tatsächlichen zu schwach zu finden, es ist Klarheit, wenn dich der Wechsel von Tag und Nacht überwältigt. Alles andere, ein ruhiger Sinn, eine wache Wahrnehmung von Gut und Böse, das Vermögen, ein einfaches Wort mit großer Gleichmut hinzunehmen, ist Abstumpfung, getäuschte Sinne, Erkenntnis, von der Gewöhnung bis zum Absterben geschwächt.
 



 
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