Hemmungslos gehemmt

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Herbert Hastelik nickt vor sich hin. Ja, er hat in seinem Leben viel erlebt. Peinliches, weniger Peinliches, Erfreuliches und äußerst Erfreuliches. Doch bei allem sind ihm vor allem ein paar lästige Ängste geblieben, die ihn daran hindern, unbeschwert zu leben.
Dabei geht es für ihn rasant auf sein Ende zu. Immerhin hat er bereits über sieben Lebensjahrzehnte hinter sich. Und in den letzten Wochen spürte er immer wieder verdächtige Schmerzen in der Herzgegend.
Vor einigen Jahre gewöhnte er sich an, in drei Zeitungen täglich an jedem Tag beinahe ausschließlich und aufmerksam die Todesanzeigen zu lesen. Dabei interessieren ihn weniger Namen und Alter der Verstorbenen. Vielmehr liest er konzentriert und amüsiert Sprüche, mit denen trauernde Hinterbliebene das Leben ihrer Verstorbenen mit zumeist wenigen, aber ehrenden Worten zu beschreiben versuchen.
Manchmal lassen die sich zu holprigen oder auch gekonnten Reimen hinreißen. Selbst Goethe und Schiller werden nicht selten zitiert. Und sogar antike griechische Philosophen kommen zu dieser letzten Ehrerbietung.
Ansonsten sterben nahezu ausnahmslos geliebte und innig geliebte Menschen.
Bei einer Achtzig-Jährigen las er sogar, sie habe hemmungslos geliebt. Und als Beweis zierte die Anzeige ein großes Jugendfoto einer prallen, tief dekolletierten Schönheit.
Wahrheiten sind in Todesanzeigen offenbar, bis auf die Tatsache, dass jemand starb, vor allem relativ. Nicht selten muss Herbert schmunzeln, als lese er die Witzseite, die es in den Zeitungen, die er in letzter Zeit liest, leider nicht mehr gibt.
Herbert Hastelik hatte nur noch einen Sohn, der in den USA lebt und einen Schwager. Seine Schwester und seine Frau waren vor drei Jahren in der gleichen Woche gestorben. Wenn er seine wenigen zukünftigen Hinterbliebenen zwingen könnte, auf Zeitungsseiten, die sich in der Regel dem Sportteil anschließen, die Wahrheit über ihn schwarz eingerahmt anzuzeigen, stünde dort: Er war ein hemmungslos Gehemmter. Und ein Foto würde schon gar nicht dazu passen, da er – gehemmt wie er war - sein Leben lang die Öffentlichkeit mied.
Verließ er die Wohnung, öffnete er zunächst die Tür, lauschte in das Treppenhaus, um zu hören, ob Begegnungen mit Nachbarn zu befürchten seien. Hinaus ging er erst, wenn er längere Zeit nichts und niemanden hörte.
Dennoch wird auch ihm vermutlich ein unrealistisch freundlichen Nachruf gewidmet werden. Seine Gehemmtheit wird als besondere Bescheidenheit eines geliebten Mannes, Vaters und Großvaters vorsichtig angedeutet werden. Vielleicht wird noch ein „Er war stets ausschließlich für andere Menschen da“ nachgeschoben. Naja, und vor den Seinen hatte er wirklich selten Hemmungen.
Allenfalls in geselliger Runde werden die wenigen, die ihn wirklich kannten, nach dem Genuss von reichlich Alkohol laut feixend davon erzählen, was ihm zu Lebzeiten so ungeheuer peinlich war.
Als Toter muss ihm das zum Glück nicht mehr unangenehm sein.
Als Lebender wäre er in seinen letzten Jahren dennoch gern etwas hemmungsloser geworden.
Ohne Not wollte er auf Menschen zugehen können. Einfach so und ohne sich zu fragen, ob er es denn wert sei, von seinen Zeitgenossen eine freundliche Antwort oder Zusage zu bekommen. Einfach so, da er eigentlich unglaublich sympathisch daherkommen konnte. Einfach so.
Im Grunde hat er auch besonders nette Nachbarn. Vor allem Annelore van Hagen. Sie wohnt unter seiner Senioren-Wohnung in einem Single-Appartement. Ist gut dreissig Jahre jünger als er. Und sieht aus, als wäre sie noch einmal zehn Jahre jünger.
Nein. Ein Verhältnis wollte er mit ihr nicht mehr beginnen. Aber sie hat ihn vor einigen Wochen einmal freundlich angesprochen. Und plötzlich konnte er ihr ganz unbefangen antworten, dass es ihm ein wenig schwer falle, auf fremde Menschen zuzugehen. Angst habe er. Angst, zurückgewiesen zu werden.
Sie lächelte, nickte auffordernd und versicherte ihm, sich gern einmal länger mit ihm zu unterhalten.
„Das freut mich“, ließ Herbert Hastelik sie wissen und wünschte ihr einen besonders schönen Tag.
Den hätte er selbstverständlich gern mit ihr verlebt. Doch das verriet er ihr nicht.
Als sie sich einige Tage später wieder sahen und schon fast einen Termin für ihr Treffen aushandelten, behauptete er hastig, er habe zu dem möglichen Zeitpunkt immer seinen wöchentlichen Freitagseinkauf bei ALDI zu absolvieren. Und den könne er wirklich nicht verschieben.
Als er endlich an der Kasse dran war, packte er – wie gewohnt – die Ware vom Band in den Einkaufswagen und versuchte, als er beim Bezahlen mit der Karte warten musste, für ihn vollkommen ungewohnt, mit der Kassiererin zu plaudern.
Die hatte offenbar keine Lust, sich bei ihrem Gespräch mit der Kollegin an der Nachbarkasse unterbrechen zu lassen. Hastig wünschte sie ihm, als sie die Karte zurückgab, in geschäftigstem Tonfall „einen guten Tag“ und schob seinen Einkaufswagen zur Seite, damit der nächste Kunde, ein durchaus ansehnlicher junger Mann seinen Wagen vor das Ende des Laufbandes schieben konnte.
Die Kassiererin meinte lachend zu ihrer Kollegin, heute mache ihr die Arbeit irgendwie richtig Spaß. Aber einige Kunden, die würden einfach nur stören.
Natürlich weiß Herbert Hastelik, dass er auf lieblose Abfertigung und ironische Bemerkungen besonders empfindlich reagiert. Aber was nützt ihm diese Selbsterkenntnis. Wird er doch danach wieder niemanden ansprechen, um sich weitere Abfuhren zu ersparen.

„Haben Sie aber einen unfreundlichen Tag…!“ murmelte er. Und das vorsorglich so leise, dass die Kassierin, die inzwischen mit dem jungen Nachfolgekunden plauderte, es nicht hören konnte.
Beim Rückweg vom ALDI lauschte er aus unerfindlichen Gründen nicht erst vorsorglich ins Treppenhaus. So traf er auf der Treppe zwischen dem ersten und zweiten Stock die wie immer lächelnde Annelore van Hagen.
Sie blieb mitten auf der Treppe stehen und hinderte ihn, sich an ihr vorbeizudrücken.
„Haben Sie gut eingekauft?“
Herbert Hastelik nickte und blickte auf die Treppenstufe, auf der die Nachbarin mit ihren ungewöhnlich eleganten Schuhen stand.
„Ich habe sogar…,“ sprach es zunächst leise aus ihm, „…mit der Kassierin geschäkert.“
Jetzt grinste die Nachbarin. „Hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.“
„Ich war früher mal fast so was wie ein Don Juan!“
Die Nachbarin grinste breiter.
„Naja, ich habe wohl eher davon geträumt, einer zu sein.“
Jetzt lächelte Annelore von Hagen wieder. „Wissen Sie, was ich an Ihnen mag?“
Herbert Hastelik zuckte mit den Schultern.
„Na, ihre Ehrlichkeit. Kommen Sie doch heute Abend vorbei. Ich koche uns was. Und Sie bringen einen trockenen Rotwein mit. Den mag ich am liebsten.“
„Ich auch.“ Herbert griff in seine Einkaufstasche und zog eine Flasche Merlot heraus.
„Oh ja, genau den…“ Er ließ die Flasche zurückgleiten.
Annelore ging zur Seite. Herbert ging zögernd vorbei und roch ihr unaufdringliches Parfüm.
In der Wohnung hängte er hastig seinen Mantel an die Garderobe, räumte die eingekauften Speisen und Getränke bis auf den Rotwein in den Kühlschrank und setzte sich an seinen Schreibtisch vor dem Fenster.
Die grüne Merlot-Flasche stellt er vor sich auf die Schreibtischplatte.
Sturm lässt Regentropfen gegen die Scheiben prasseln. Die Schmerzen auf der linken Seite im Brustkorb sind einigermaßen erträglich.
Er grübelt. Sturm und Regen lassen nicht nach. Steigern sich.
Merlot scheint tatsächlich ihr Lieblingswein zu sein.
Neben der Schreibunterlage liegt eine Spruchkarte, die ihm Werner, sein verstorbener Freund schenkte.
Steht dir jemand im Weg, könntest du es selbst sein. Herbert Hastelik nickt.
Eine erneute Windböe lässt Regentropfen auf der Fensterscheibe zerplatzen.
Herbert nimmt einen unbeschriebenen Bogen Papier aus der Schreibtischschublade. Langsam malt er in großen etwas zittrigen Buchstaben „Todesanzeige“ auf den oberen Rand. Macht eine Pause. Schreibt weiter. „Er hat es versucht“. Wieder eine Pause. „Aber nicht mehr geschafft.“
Darunter setzt er seinen Namen, sein Geburtsdatum und als Sterbetag den heutigen Montag.
Auf den unteren Rand notiert er: „Wir werden ihn kaum vermissen.“
 
K

koollook

Gast
Mir gefällt es, wie du schreibst. Der Text ist flüssig und strukturiert, alles hat seinen Platz und folgt dem, wie ich finde, langsamen aber soliden Tempo.

Ich bin ehrlich und muss gestehen, dass ich nicht den gesamten Text gelesen habe, deswegen könnte meine Meinung nicht objektiv, oder subjektiv genug sein, aber ich tue sie hier trotzdem mal kund.
Das Bild von einem alten Mann, der sich auf seinen Tod vorbereitet indem er Todesanzeigen liest und sich überlegt, wie seine eigene aussehen könnte, ist keine langweilige Idee aber auch keine Knaller. Das Ende kommt mir etwas melodramatisch vor, obwohl es zur Geschichte passt, hätte ich mir eine Überraschung gewünscht.

Aber die Geschichte ist allein schon wegen dem Schreibstil lesenswert.
 
Lieber Koollook,
deine Kritik kann ich verstehen. Aber ich schreibe nun einmal keine Knallergeschichten, zumal die m.E. auch nicht zum Protagonisten passen würde. Einsamkeit im Alter ist ein zunehmendes Phänomen, um das es mir hier (trotz aller Berater-Bücher-Anleitungen und großartiger Biografien) hier geht.
Herzliche Grüße
Karl
 



 
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