Herbst, Winter und . . .

Fredy Daxboeck

Mitglied
Ängstlich betrat ich das Zimmer der sterbenden Jessica das sie seit letzten Herbst nicht mehr verlassen konnte, und sah auf den großen, bunten Kalender mit den vielen Pferden. 15. Februar 1980. Ein Monat vor ihrem Geburtstag. Noch ein Monat vor ihrem großen Ziel, ihren zwanzigsten Geburtstag zu erleben. Schnell riss ich das oberste Blatt ab und zerknüllte es. Wut, Trotz und ein übergroßer, hilfloser Schmerz brannte in meiner Brust. Ich ging zum Fenster, lehnte mich an das kühle Glas, betrachtete den verschneiten Garten und versuchte meine innere Ruhe wiederzufinden.
"Welches Datum haben wir?" Jessica hob den Kopf und sah mit unnatürlich glänzenden Augen im Zimmer herum. Ihr Blick hatte etwas eigentümlich Wildes an sich.
"Heute ist der fünfzehnte ... März, mein Schatz." Mit ein paar schnellen Schritten war ich bei ihr, beugte mich über sie, nahm ihr Gesicht in meine rauen Hände und küsste sie sanft auf die Augen, die Nase und den Mund. Tränen tropften auf ihre bleiche Haut und bildeten dort glänzende schmale Spuren. "In ein paar Tagen haben wir Ostern."
"Ich werde heute zwanzig" flüsterte Jessica mit schwacher Stimme und ihr Gesicht zeigte ein blasses Strahlen. Ihre Züge, in die der Schmerz seine tiefen Furchen gegraben hatte, wurden für einen kurzen Augenblick weich und sie sah wieder aus wie der Engel, den ich vor zu kurzer Zeit, wie mir schien, kennengelernt hatte.
"Ja, ich weiß. Du bist heute zwanzig, mein Liebling." erwiderte ich und würgte an meinen Worten. "Ich weiß", meine Stimme versagte den Dienst.
"Ich muss Dir etwas gestehen", wisperte Jessica. Sie sog scharf die Luft ein, als eine neue Woge des Schmerzes sie überrollte. "Du sollst wissen, dass ich gedacht habe, ich werde nie so alt, weil ich den Krebs . . . vielleicht doch nicht besiegen kann, und nun ...?" Ihre Hände tasteten wie zwei müde kleine Spinnen über die Bettdecke und berührten mich zart. "Ich freue mich auf den Frühling, wenn es nicht mehr so kalt ist, und wir wieder gemeinsam reiten werden."
"Du hast es geschafft. Du bist nun doch ein großes Mädchen geworden und wir werden noch viele gemeinsame Ritte unternehmen." beeilte ich mich ihr zu versichern. Ich lächelte so gut ich es vermochte, doch die Tränen liefen unaufhörlich über meine Wangen.
"Ja, jetzt habe ich auch wieder eine ganz kleine Hoffnung. Es wird alles gut, nicht wahr?" Jessicas Stimme wurde leiser und flacher. Ich musste mich nach vor beugen und mein Ohr an ihren Mund legen, um ihre verstummenden Worte zu verstehen.
"Ja, es gibt immer eine Hoffnung." Jessicas Züge wurden weich und sanft. Sie hatte das Gefühl, ein erstes Mal in ihrem Leben wirklich gewonnen zu haben. Ihr Brustkorb hob sich noch einmal in einer Welle des Schmerzes und sie gab ein rasselndes Geräusch von sich. In dem Schweigen, das folgte, wurde sie vor dem weinroten Hintergrund ihres Lakens immer blasser. Ohne es zu merken klammerte ich mich an sie, als ob ich dadurch ihr Leben am Entschwinden hindern könnte. Aber es war wohl zu spät. Als die Nacht dem Ende zuging, wurde ihr schönes Gesicht reglos und schlaff. Und dann, nur Augenblicke, bevor der Himmel im Osten hell wurde, spürte ich plötzlich die Stille im Raum und wusste, dass Jessica ihren ohnehin aussichtslosen Kampf endgültig verloren hatte.
 
E

ElsaLaska

Gast
heult rotz und wasser,....

und besonders schön, der augenblick der stille im zimmer der sterbenden/nun schon toten jessica...
empfehle dir das "tibetische buch vom leben und sterben" von sogyal rinpoche, lieber fredy, es hilft! (ist an keine weltanschauung gebunden, sondern für alle geschrieben, die sterbenden beistehen müssen), gerade auch für die, die glauben, dass sie ohnmächtig zurückbleiben, lege es dir umso dringender ans herz, als ich glaube, dass dies eine sehr persönliche geschichte war. wofür ich mich gleichzeitig auch irgendwie entschuldige (für den buchtipp natürlich), da ich mir dabei auch noch aufdringlich vorkomme....
es drückt dich
elsa
 

Fredy Daxboeck

Mitglied
*21 jahre . . . und doch wird mich ihre liebe immer begleiten . . . *

hallo liebe elsa

du bist nicht aufdringlich, nein. in keiner weise. danke für den buchtipp . . . und für´s drücken.
ich habe diese zeilen heuer anlässlich ihres geburtstages geschrieben und später gepostet, weil sie mir heuer besonders fehlte.
sie war das mädchen das mir die hand reichte, als es niemand sonst mehr tat. sie war das mädchen das mir schenkte, was ich nie zuvor kannte . . . liebe und freiheit.

liebe grüße

fredy
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sie war mein engel im leben . . . und ist es jetzt erst recht . . .
und irgendwann werden wir uns wiedersehen . . . in einem anderen leben
 
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ElsaLaska

Gast
.......

Unser ganzes Dasein ist flüchtig
wie Wolken im Herbst
Geburt und Tod der Wesen
erscheinen wie Bewegungen im Tanz.
Ein Leben gleicht dem Blitz am Himmel
es rauscht vorbei
wie ein Sturzbach den Berg hinab.

Buddha Shakyamuni.
 

Fredy Daxboeck

Mitglied
*so trägt wohl jeder sein päckchen mit sich rum . . .

ich hab´sie mit fünfzehn kennengelernt. ich war wieder mal aus dem heim abgehauen, sie war ihren pflegeeltern entwischt. wir haben uns mit gelegenheitsjobs auf bauernhöfen und in reitställen durchgeschlagen, und sind durch´s land gezogen. drei lange jahre.
im frühjahr ´79 haben wir uns getrennt . . . und im herbst wieder gefunden.
sie war damals schon krank.
ich hab´ ein jahr lang tag und nacht gearbeitet . . . bis ich wusste, ich muss mich auf ein pferd setzen und weg. nach vierzehn monaten bin ich zurückgekommen . . . irgendwann auf meinem trip hab´ ich kapiert, dass sie mich in wahrheit nie verlassen hat. dass sie immer bei mir sein wird.

viele liebe grüße

fredy
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und doch fehlt sie mir manchmal mehr als alles andere . . . aber das ist schon in ordnung so
 
E

ElsaLaska

Gast
vielen dank lieber fredy,

für diese beiden geschichten.
ich bin froh, dass du Herbst, Winter und.. in die anthologie stellen möchtest. ein guter gedanke....
noch ganz benommen über soviel schicksal
deine elsa
 



 
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