Herbstblatt

Herbstblatt


Das rötliche Licht fiel vom Himmel, schwebte zur Erde hinab. Langsam, im Tanz des Windes gefangen, schaukelte das Blatt hernieder, legte sich seinem Schöpfer zu Füßen, blieb auf den knorrigen Wurzeln des riesigen Baumes liegen. Aber es war nicht das einzige, noch viele Lichter folgten.
Der Herbst war gekommen, das Laub der Bäume hatte sich verfärbt und begann sich langsam zu lichten. Die goldene Zeit war angebrochen.
Sie blickte auf das Blatt hinab, betrachtete es. Diese blutrote Farbe....sie schauderte, aber dennoch starrte sie es unverwandt an. Wie unter Zwang beugte sie sich zu ihm, nahm es in ihre Hand. Nun benetzte das Blut auch ihre Finger, tränkte sie in ihr tiefes Rot.
Das Mädchen wandte den Blick zum Himmel, schaute zum Wipfel des majestätischen Baumes, der hoch vor ihr aufragte, sah den wilden Tanz, den der Wind mit den Blättern trieb. Lichter, so viele Lichter. Nur einen Augenblick lang leuchteten sie auf, um doch kurz darauf für immer zu erlöschen.
Sie schloß die Augen. Das Blatt glitt aus ihrer Hand, kehrte zur Erde zurück...

Es färbte den Boden, der nun in rötlichem Schein schimmerte. Das Blut rann aus den Wunden des kleinen Jungen, der von den Älteren drangsaliert und geschubst wurde. Einer der Jugendlichen, ein großer blonder mit stechend blauen Augen, schleuderte ihn zu Boden, wo er mit dumpfen Geräusch aufprallte und reglos liegen blieb. Der kleine Körper des kindes, starr und scheinbar leblos, lag auf dem kalten Kopfsteinpflaster.
Sie schrie, schrie aus leibeskräften, versuchte zu dem Jungen zu gelangen, der sich nicht mehr rührte, doch vergeblich. Verzweifelt mußte sie mit ansehen, wie der Blonde ihrem Bruder in die Seite trat und wüste Beschimpfungen losließ, während dessen Freunde sie zurückhielten. Einer schlug sie hart ins Gesicht, so daß sie gestürzt wäre, hätten die anderen sie nicht festgehalten. Kraftlos hing sie in ihren Armen, den Blick auf ihren Bruder gerichtet, der mit ihren Tränen zu verschwinden schien. Ihre Ohren waren taub für die verächtlichen Worte ihrer Peiniger, ihr Körper spürte nicht die Gewalt, die sie ihr antaten. Das einzige, was sie fühlte, war Leere, Leere, die bald gefüllt war mit Schmerz und Angst um ihren kleinen Bruder.
Erneut schluchzte sie, das Weinen schüttelte ihren Körper -oder waren es die groben Schläge? Sie hob den Kopf und sah die Passanten etwas abseits stehen, sah, wie sie herüber blickten.
Mitleid, Schadenfreude, Angst, Unsicherheit...so vieles las sie in den Augen der Leute, so viele Gefühle, und doch -eines fehlte, eines, für das sie alles getan und gegeben hätte: Entschlossenheit. Entschlossenheit für sie und ihren Bruder einzutreten, Entschlossenheit, Courage zu zeigen und zwei Kindern zu helfen, die für diese brutalen Jugendlichen die falsche Hautfarbe hatten, Entschlossenheit, einem schwarzen Geschwisterpaar beizustehen.
"Bitte", flüsterte sie, "bitte." Flehend schaute sie die Menschen an, aber wen ihr Blick auch traf, er wandte sich ab, wich ihrem Blick aus. "Bitte!" Keine Reaktion. "Warum, warum helft ihr uns nicht? Warum?" Das waren ihre letzten Worte, bevor sie in gnädiger Ohnmacht versank. Wie aus weiter Ferne hörte sie noch das Heulen von Polizeisirenen.

Sie wußte nicht, wie lange die Bewußtlosigkeit andauerte, aber irgendwann lichtete sich die Schwärze und die gnädige Ruhe, die ihr die Ohnmacht verliehen hatte, war vorbei. Sie schlug die Augen auf, um sie gleich darauf auch wieder zu schließen. Nach der wohligen Schwärze, die sie umfangen hatte, trieb die ihr entgegenstrahlende Helligkeit die Tränen in die Augen.
Blinzelnd, die Tränen fortwischend, erkannte sie, daß sie wohl in einem Krankenhaus lag und daß dieses blendende Weiß von der Einrichtung des Zimmers herrührte.
Nur- was hatte sie hier zu suchen? -Ihr Bruder! Mit einem Schlag fiel ihr alles wieder ein. Sie sprang auf. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, eine junge Krankenschwester trat herein, freundlich lächelnd: "Bist du wieder aufgewacht? Fühlst du dich gut?" Ihre Stimme klang angenehm, hell und wohlklingend und stand im krassen Gegensatz zu ihrer eigenen, als sie schrill die Worte ausstieß:"Mein Bruder! Was ist mit meinem Bruder?"
Die so freundlich lächelnden Augen der Schwester verdunkelten sich. Von den Worten, die sie nur zögernd und kaum verständlich sprach, verstand sie nur: "Dein Bruder ist..er hat nicht...jede Hilfe zu spät..." Sie verstummte.
Nein. Das konnte nicht sein. In ihrem Kopf wirbelte es nur so von wirren Gedanken. Das war ein Irrtum, es war alles nicht wahr. Alles nur ein böser Scherz. Ja genau, ein Scherz, es war ein Scherz, man wollte sie hier zum Narren halten. Er lag bestimmt in einem anderen Zimmer und wartete nur darauf, daß sie endlich zu ihm kam. Ein Scherz.
"Es tut mir leid." Die Schwester trat auf sie zu, wollte ihre Hand auf ihre Schulter legen, aber sie zuckte zurück. "Nein!" schrie sie. "Nein!"
Sie wollte zu ihrem Bruder, sofort, auf der Stelle. "Wo ist mein Bruder, wo habt ihr ihn hingebracht?"
Die Schwester ergriff sie an ihren Schultern. "Hör mal.." Sie riß sich los. "Es ist nur eine Lüge, ich weiß es, ihr seid alle Lügner! Wo ist er?"
Sie rannte hinaus. Ein schier endloser Gang erstreckte sich vor ihr. Leer und kahl schien er ihre Seele widerzuspiegeln. "Wo ist mein Bruder?" Schreiend, schluchzend, verzweifelt brach sie zusammen. Sie schlug sich die Hände vor das Gesicht, wiegte sich im Takt einer imaginären Melodie hin und her.
"Wo ist er, wo ist mein Bruder? Wir haben doch nichts getan. Warum haben sie das gemacht? Es ist alles nicht wahr, nicht wahr!" Die Tränen rannen ihr unaufhörlich über die Wangen, wollten nie enden, vermischten sich mit dem Blut der aufgeplatzten Wunde an ihrer Schläfe.
"Warum? Warum?" Leiser und leiser, aber immer wieder dieses eine Wort: warum! Sie fühlte wie das Weinen ihren Körper schüttelte, schwächer wurde, die Tränen versiegten und in ihr sich eine Leere ausbreitete, die alles zu verschlingen schien.
Nur noch das Blut benetzte nun noch ihre Haut, nachdem die Tränen zum Stillstand gekommen waren. Sie sah, wie ein kleiner Blutstropfen fiel, den weißen Boden färbte...

Das Blatt lag unbeweglich auf den Wurzeln des Baumes, tränkte sie in ihr Rot. Ein neues Leben war erloschen. Der goldene Herbst war verschwunden, zurück blieb der Tod.
Selbst nach all den vergangenen Jahren kehrte er immer wieder zurück, der Tod, und noch immer wartete sie auf das Leben, das wiederkommen sollte. Trauriger Herbst, tödliche Zeit.
Sie hob den Kopf zum Himmel, wandte ihr gesicht der Sonne zu.
Rote Lichter, die verglühen sollten, fielen herab. Leben, so viele Leben.

Sie schloß die Augen. Im Licht der Sonne glitzerten Tränen auf ihrer Wange.
 
S

Sohn des Rhein

Gast
Hallo Engel des Lichts,

Sehr, sehr gut, Dein Text. Sehr schön das Bild mit dem Herbstblatt, sehr eindringlich die Gefühle geschildert. Hat mich wirklich beeindruckt, mach weiter so!

Grüsse,
Sohn des Rhein
 

Der Denker

Mitglied
Kann mich nur meinem Vorredner anschließen.
Ein sehr trauriges und düsteres Kapitel der Menscheit.
Bis jetzt war ich noch nie in der Situation und ich hoffe, falls es jemals eintritt, ich werde anders handeln, als die Menschen in deiner Geschichte.


Liebe Grüße,

dede
 
hallo dede!

Schön, daß dir die Story gefällt trotz dieses ernsten Themas. Und doch ist es etwas über das geschrieben werden sollte, finde ich zumindest. Nur zu oft liest und sieht man solche Fälle. Mag sein, daß manche glauben, daß die Medien das zu sehr hochspielen, doch damit stimme ich nicht überein. Auf jeden Fall danke für deinen Kommentar :)

Deine Chrissi
 



 
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