Herbstgeschichte

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Svalin

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Überarbeitete Fassung eines Textes vom Vorjahr. Kursiv erscheinende Wörter im Text sind zum besseren Verständnis im Anhang näher erläutert.

Herbstgeschichte

Sie spielte Göttin des Herbstlaubes. Verträumt, vorsichtig, fast schwebend über die ihr zu Füßen liegenden Blätter wandelnd, um dann aus der wahllos dahingewehten Masse das Schönste von allen herauszusammeln. Sie kam mit strahlenden Augen und dem erwählten Erdenkind zurück und sagte vergnügt: "So, jetzt bist du dran!". Für Unsterblichkeit war nämlich ich zuständig. Schaut man sich so ein Blatt lange genug an, wundert man sich, wie kühl und unbewegt es in der Hand liegt. Scheint es doch im Sterben all seine Sommereindrücke in Feuerfarben geradezu herauszuschreien.

Abscission

Wollte ich sterben
- dann wie ein Blatt im Herbst.
Mein rotes Blut
in mildes Sonnenlicht ergießen
vom Wind hinfortgetragen
entschwinden dann
nach Irgendwo.

Mit diesen Worten übergab ich es wieder seiner natürlichen Bestimmung und wir sahen ihm versonnen hinterher, wie es scheinbar übermütig und glücklich hinforttanzte.

"Diese farbenfrohe Agonie des Herbstes" sagtest du nachdenklich. "Es spiegelt sich darin die ganze Unwissenheit und Tragik des Irdischen. All diese Blätter hier in ihrer Erschrockenheit über das kürzer werdende Licht der Tage reagieren völlig suizidal. Und warum? Wofür? Doch nur weil das bisher wärmende Licht der Tage seine Unschuld verliert. Eine Pflanze kann doch gar nicht anders, als glauben, dass ihr Gott - das Licht des Himmels - sie im Stich lässt. Eine ganze Natur in Vorahnung des Schrecklichen folgt seiner Untergangsprogrammierung und der Mensch steht mittendrin und fühlt sich angesichts des Panoramas theatralisch behaucht, wie wohl Nero einst vor dem brennenden Rom."

"Das stimmt. Wäre ich Sonnenlicht im Herbst der Erde - ich würde weinen. Scheine ich doch eigentlich unvermindert gelangweilt in den leeren Raum. Nur weil sich dort eine kleine Kugel partout nicht dafür entscheiden konnte aufrecht zu rotieren, sterben alljährlich Millionen von Wesen weil ich vermeintlich am anderen Ende der Welt scheinen gehe. Kann doch gar nichts dafür, dass deren Evidenz sich an die irdische Beschränktheit knüpft."

"Ich finde, es ist ein recht zweifelhafter Sinn für Ästhetik, den der aufgeklärte Mensch hier hat. Das pflanzliche Siechtum und den Tod - nur weil er farbenfroh ist - für schön zu befinden! Im Grunde ist es sogar pietätlos. Wegen winterlicher Sparmaßnahmen werden Millionen von Blättern nach Monaten der Zwangsarbeit für ihren Vaterbaum kurzerhand entsorgt. Und bevor sie wie Ballast der Vernichtung preisgegeben werden, saugt der Baum noch alles Wertvolle aus ihnen heraus, bis nur noch ein Skelett übrig bleibt."

"Wir wandeln also demnach durch Berge von Leichenteilen und finden nichts dabei. Nicht auszudenken, wenn die Bäume anfangen würden, statt Blättern kleine Katzen zur Photosynthese auszubilden. Das würden wir bestimmt äußerst grausam finden."

Meinen Kommentar quittierte sie mit einem nachsichtigem Kopfschütteln, wusste sie doch um die manchmal recht absonderlichen Wege meiner Phantasie. Die des Parks hatten uns mittlerweile zu dem kleinen See geführt, wo meistens ein paar Schwäne majestätisch elegant, voller Anmut und Sanftheit über das Wasser zogen. Nahezu ein Inbegriff von Harmonie, wenn nicht gerade wieder gedankenlose Menschen mit ein paar Nahrungsresten ihre Vorstellungen von Weltbeglückung umsetzen mussten. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und ich beobachtete die Schwänefütterer, das unschöne Geraufe auf dem Wasser und versuchte, den entscheidenden weltverbessernden Aspekt zu entdecken. Schnabelhiebe, Federlassen, Gekrächze - dafür Gratis-Futter. Faulheit versus Schmerz?

"Reicht es eigentlich ein paar Sonnensysteme in den leeren Raum zu werfen, um ein Schöpfer zu sein? Damit hast du vielleicht deine Gesellenprüfung in Himmelsmechanik abgelegt, aber für göttliche Verhältnisse wäre das doch ziemlich dürftig, oder?"

Das Repertoire ihrer Gedankenhandtasche, aus der sie unvermittelt solch philosophische Schwergewichte kramte und mir an den Kopf warf, schien oft unermesslich. Mit einem spitzbübischen Gesichtsausdruck hatte sie sich mir zugewandt, um sich über die spontan erwachsene Beule zu freuen. Davon trugen wir beide reichlich und man konnte nur froh sein, dass Denken nicht wirklich weh tut.

"Eigentlich ist es noch banaler. Seitdem man weiß, dass all jenes was Masse besitzt über die ihm innewohnenden Naturgesetze einer interaktiven Selbstorganisation zustrebt, müsste es eigentlich ausreichen, eine Handvoll Sternenstaub gedankenlos wie Konfetti in das schwerelose Nichts zu streuen und schon hast du ein mehr oder weniger stabiles Universum. Das müsste also jeder halbwegs professionelle Schwänefütterer hinbekommen. Vielleicht sind das dort die Götter von morgen!" Sie mochte es überhaupt nicht, wenn ich durch die irdischen Kellerfenster auf den von ihr aufgetanen strahlenden Gedankenhimmel blickte. Und tatsächlich deutete sich in ihren sich zusammenziehenden Augenbrauen und Pupillen eine Art intellektuelles Grummeln an. Einlenkend fügte ich schnell hinzu: "Natürlich ist es alles andere als einfach, ein Universum wie unseres zu erschaffen. Denn es wird nicht geworfen sondern lebt wie ein unschuldiges Wesen - es atmet: dehnt sich aus, schrumpft dann wieder zusammen, um vielleicht einen weiteren Atemzug zu tun. Mit diesem Pulsieren ist es vielleicht nur eine Art Leuchtturm in den unendlichen Ozeanen der Schwärze."

"Dann liegt darin aber auch eine unendliche Tragik. Der plötzliche Verlust der Urzärtlichkeit, wo alles noch in einer winzigsten Energieblüte von 10 hoch Minus 33 Zentimeter Ausdehnung im Zustand höchstmöglichem Kuschelns versammelt war, muss absolut traumatisch sein und das explosionsartige Auseinangeschleudertwerden geradezu herzzerreißend. Vielleicht ist das, was Astronomen als Hintergrundstrahlung messen nur der andauernde Schmerz dieses Wesens, das Trauern, am Ende gar Heimweh?"

Dieser Gedanke ließ winzige Spuren von Feuchtigkeit in ihren Augenrändern aufleuchten. Frauen können sich in vielen Dingen nicht ganz gefühlsmäßig von der Bilderwelt ihres Erlebens abkoppeln. Da wir uns in allem gut ergänzten, kam mir offenbar wieder diese Aufgabe zu: "Vielleicht auch nicht. Angesichts der mit-, an- und ineinandertobenden Energien könnte es auch der ultimative, der kosmische Orgasmus gewesen sein. Und nun braucht es erstmal ein paar Milliarden Jahre der Abkühlung um sich zu erholen."

"Typisch Mann. Ultimativer Orgasmus? Dieser kollektive Orgasmus hätte eigentlich nur eine Tausendstel Sekunde dauern dürfen. Dann hätte sich alle Materie und Antimaterie in einem gewaltigen Blitz wieder zu Nichts zerstrahlt. Es ist also ein eindeutiges Indiz dafür, dass wir das Universum einem eher weiblichem Prinzip zu verdanken haben."

"Ja, da stimme ich dir sogar zu. Weil es auf irgendeiner Schussligkeit beruhen muss, dass es überhaupt Hinterbliebene dieser großen Paarung gegeben hat. Gut möglich, dass von einer Milliarde Quarks eins so damit beschäftigt, in seiner Handtasche zu kramen, dass es völlig vergaß, was um es herum geschah. Wir haben es also gar nicht zwingend mit einem göttlichen, sondern nur mit einem ganz banalen Prinzip von Orientierungslosigkeit zu tun. Klingt für mich in jedem Fall interessanter als der übliche astronomische Schöpfungsnihilismus. Oder wolltest du existieren, nur weil es zu einer Störung in der perfekten Symmetrie eines primordialen Quantenvakuums kam? Das ist doch etwas albern. Soll ich mal zu den Schwänen rüberhüpfen und ihnen sagen: Huhu Schwäne! Wir dürfen leben, weil es einst eine primordiale Quantenvakuumfluktuation gab? Die lachen mich doch aus."

"Wenn du ihnen Brot gibst, nicht. Dann wärst du ihr Gott." sagte sie lächelnd und knuffte mich in die Seite. "Du bist süß, weißt du das?"

"Woher weißt du, dass es genau das ist, was du spürst?"

"Ich weiß es einfach. Es ist so intensiv fühlbar, dass es nicht wegzuleugnen ist. Und es fühlt sich anders an als Schmerz, Ärger, Zorn oder Trauer. Ich kann aus irgendeinem Grund benennen, was da in mir in diesem Moment lebt."

"Also ist es wirklich da?"

"Ja, würde ich sagen. Es ist zwar subjektiv, aber existiert ohne jeden Zweifel."

"Ist nicht alles anzweifelbar?"

"Eigentlich schon. Aber welchen Sinn sollte es haben, meine Gefühle anzuzweifeln?"

"Weil es vielleicht gar nicht deine Gefühle sind?"

"Wie meinst du das?"

"Es könnte auch nur ein oberflächlicher Anschein von Gewissheit sein. Vielleicht ist unser Fühlen, wie beim Plattenspieler, nur eine Abtastung des inneren Wellenspiels eines unergründlichen Meeres. Wir kennen die kleinsten Kräuselungen und die größten Wogen, vielleicht auch die Reflektionen des Lichts - diese ganze Wunderwelt, die gedämpft in unser Bewusstsein dringt; wissen, dass wir traurig sind, verliebt, glücklich. Hast du dich nie gefragt, wer oder was diese Wellen macht?"

"Es muss irgendein Teil von uns selbst sein, in unergründlichen Tiefen verborgen. Und ich will gar nicht wissen, warum es so ist, wie es ist. Es muss einfach letzte Geheimnisse geben...."

"Für die Stabilität von Illusionen?"

"Wenn du so willst, ja! Solange wir diesen Schleier nicht lüften, der über unseren letzten Wahrheiten, der Quelle unseres Fühlens liegt, wird sich auch nichts als Illusion erweisen."

"Die Forschung zupft aber schon heftig an diesem Schleier. Deutet man die Ergebnisse, könnte unser Fühlen auch nur ein komplexer Fließzustand psychohormoneller Fluktuationen sein: Das Glücklichsein an sich nur 10 Milligramm Serotonin und eine wenig Oxytocin im Körper. Das sexuelle Verlangen nur DARPP-32 und die Liebe letztlich nur eine PEA-Affirmation."

Sie sah mich mit ernsten Augen an. "Es scheinen uns unsere letzten Gewissheiten entrissen zu werden. Wenn alles Dasein keine zwingende Notwendigkeit besitzt, alles Fühlen nur Suggestion sein kann und alles Sehen nur Wahrnehmungsbeschränkheit, wenn es vielleicht keine einzige beständige Wahrheit gibt, dann will ich dich lieben, weil du der einzige wirkliche Bezugspunkt in diesem auseinanderdriftenden Universum bist. Ohne Pathos und Sentimentalität, denn wir sind weder verloren, allein oder determiniert, wir sind einfach nur da. Im selben kurzen Moment des Funkenspiels Leben aufgeblitzt und ein winziger Teil der Idee vom Feuer, die sich seit Jahrtausenden glimmend gegen das Verlöschen stemmt. Lass uns atmen, uns berühren, immer wieder, um zu begreifen, dass es wirklich so ist. Mit allen Fasern unserer unvollkommenen Körper genießen, was uns damit möglich ist. Lass uns wie verspielte Glühwürmchen die Nacht durchschweben, egal wie dunkel, kalt und endlos sie sein mag."

Wir gingen nach Hause und liebten uns 3 Lichtjahre lang.

_________________
Glossar:
Abscission: (Botanik) das Abwerfen von Blüten, Früchten und Blättern
Affirmation: Bejahung, Behauptung; Bekräftigung
DARPP32: körpereigenes Protein, das an der Steuerung des Dopamin-Haushalts im Gehirn beteiligt ist [1]
PEA: Phenylethylamin - körpereigenes Hormon mit euphorisierender Wirkung [2]
primordial: ursprünglich (seiend), von erster Ordnung, uranfänglich
Serotonin/ Oxytocin: Neurotransmitter/ -hormon, steuern neben anderen das Gefühls(er)leben [3]
Quarks/ Quantenvakuum/ Hintergrundstrahlung
 
E

ElsaLaska

Gast
FUUUUUUUURCHTTTTTBAAAAR

kopflastig, aber SCHÖÖÖÖÖÖÖÖÖÖN :D.

Am Anfang haperte der Einstieg, ich würde folgende Kleinigkeiten verändern:

Für Unsterblichkeit war [strike]ich nämlich [/strike]nämlich ich (bessere Betonung dadurch) zuständig.

Schaut man sich so ein Blatt lang[blue]e[/blue] genug an, wundert man sich, wie kühl und unbewegt es in der Hand liegt. Scheint es doch im Sterben [blue] all[/blue] seine [strike]gesammelten[/strike] Sommereindrücke in Feuerfarben geradezu herauszuschreien.

Genialer Schluß:)

LG
Elsa
PS: Glossar, grossartige Idee!
 

Svalin

Mitglied
Hallo Elsa

Vielen Dank für deine Anmerkungen. Ich habe sie sogleich übernommen. Klingt wirklich besser ;-)

Es stimmt leider, dass diese Geschichte sehr kopflastig und damit eine Zumutung für den Leser ist ;-) Geschrieben habe ich sie eigentlich nur, weil ich die darin anklingenden Aspekte so interessant fand und diesen ganzen Berg von Gedanken nie in Gedichtform aufarbeiten konnte. Es ist also eine "Restegeschichte", in der alles Übriggebliebene zusammengeworfen wurde ;-) Dass dieser "Eintopf" überhaupt genießbar ist, freut (und wundert) mich. Kann ich also nach bestandener Kochprüfung beruhigt meinen Abschied von der Prosaküche nehmen. Die hier verwendeten Gefäße sind mir irgendwie zu groß - sie zu füllen, wirklich Schwerstarbeit. In der Lyrik hat man es da irgendwie einfacher: Man braucht den Leuten nur die Gewürze in die Augen zu streuen :D

Liebe Grüße
Martin
 
E

ElsaLaska

Gast
Hallo Svalin,

"In der Lyrik hat man es da irgendwie einfacher: Man braucht den Leuten nur die Gewürze in die Augen zu streuen "

WEM sagst Du das:)

Im übrigen wird hier derartig viel "aus dem Bauch" heraus geschrieben, dass ein wenig Kopflastigkeit schon wieder ganz erfrischend wirken kann und auch keine Zumutung darstellt.

Freut mich, dass Du mit den Verbesserungen was anfangen konntest.

Lieben Gruß
Elsa
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hm,

da bin ick hin und weg. das is kein text zum rasch mal vorlesen, das is was, wo man sitzt und staunt und genießt. feine sache, martin! ganz lieb grüßt
 



 
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