Herr L. findet einen Handschuh

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ridding

Mitglied
Herr L. findet einen Handschuh

Eines Tages fand Herr L. beim Spaziergang im Park einen Handschuh. Er nahm ihn auf, setzte sich auf eine Bank und betrachtete das Fundstück nachdenklich. Da kam ein Bekannter vorbei und setzte sich zu ihm. „Da wird jemand einen Handschuh verloren haben, und jetzt hat er bloß noch einen“, meinte der Bekannte. „Ja, vielleicht“, erwiderte L. „Oder ein Einarmiger hat ihn verloren und er hat jetzt gar keinen mehr. Oder nur noch den falschen. Sehen Sie, dies ist ein linker Handschuh. Zu Hause hat er jetzt nur noch den rechten, mit dem er nichts anfangen kann.“ „Wie kommen Sie darauf, dass ein Einarmiger den Handschuh verloren hat?“, ließ sich der Bekannte nicht so leicht überzeugen. „Es ist eine Hypothese, die ich in Erwägung ziehe“, sagte Herr L. Die beiden schwiegen eine Weile, dann meinte Herr L.: „Sie kennen doch sicher von früher noch die Fernsehserie ,Richard Kimble – Auf der Flucht’.“ „Ja“, entgegnete der Bekannte. „Ich habe fast jede Folge gesehen.“ „Ich habe sie nie gesehen“, sagte L. „Ich habe nur darüber gelesen. In dieser Serie gab es doch einen Einarmigen. Sagen Sie doch bitte, welcher Arm ihm gefehlt hat.“ Der Bekannte dachte einen Moment nach und erwiderte dann: „Tut mir leid, ich weiß es nicht.“ „Das ist ärgerlich“, sagte Herr L. „Jetzt werden wir nie erfahren, ob es sein Handschuh ist. Geben Sie demnächst beim Fernsehen besser Acht.“ Und verdrossen stand Herr L. auf, warf den Handschuh in einen Papierkorb und ging davon.
 
S

Sabine.K

Gast
Erinnert an Brecht's Geschichten von Herrn K. und gefällt mir genauso gut.
 
H

Heidrun D.

Gast
Ja,

mir auch.:)

Ich mag Texte, in denen wenig passiert und dennoch alles möglich ist. - Der Leser wird nicht gedrängt, etwas zu fühlen; allenfalls wird ihm ein Pfad gewiesen ...

Liebe Grüße
Heidrun
 

ridding

Mitglied
Bin soeben von 1,73 m auf 1,83 m gewachsen, mit Brecht in einem Atemzug genannt zu werden, kommt natürlich richtig gut.
Aber es stimmt selbstverständlich: Es handelt sich natürlich um eine Art satirischer Annäherung an Herrn Keuner.
Vielen Dank Sabine und Heidrun für die ermutigenden Worte.
ridding
 
B

bluefin

Gast
na, das mit herrn brecht ist schon ein wenig hoch gegriffen, finde ich, und wenn, dann hat sich der gute bertel diese paranoia auch nur vom eulenspiegel oder vom valentin karl abgeguckt. vieleicht einigen wir uns auf letzteren? der hat über hundert monologe und dialoge in dieser machart vom stapel gelassen.

der einarmige bandit in der kimble-serie war übrigens linkshänder: http://images.google.com/imgres?img...icrosoft:*:IE-SearchBox&rlz=1I7ADBS&sa=N&um=1 und bis nach "bill raisch" scrollen.

lebte karl valentin heute noch, lieber @ridding, würde er den handschuh niemals weggeschmissen, sondern nach hause getragen, ihn ins web gestellt und nach richard kimble weitergesucht haben. es hätten sich drei verschiedene kimbles gemeldet: einer aus boston, einer aus bombay und einer aus plattling in niederbayern. sie hätten drei verschiedene armamputierte vorgestellt, zwei links- und einen rechtshänder. valentin hätte den handschuh noch keinem der beiden linkshänder ausgeliefert, weil er zum einen bis dato mit berechnungen beschäftigt wäre, wer den handschuh an welchen tagen wie abwechselnd tragen dürfte, und weil er zum anderen im park nach dem noch fehlenden rechten handschuh suchen müsste.

schade, dass er schon 1948 gestorben ist.

liebe grüße aus münchen

bluefin
 



 
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