Herr der Trutzburg

Herr der Trutzburg


Interessiert beobachtet Thomas das Heer der roten Waldameisen, die den Käfer gestellt haben und nun zum Angriff übergehen. Durch gezieltes Spucken versucht er, dem Opfer einen Fluchtweg zu öffnen, doch die kleine Sintflut versickert wirkungslos im Staub.
Der siebenjährige Feldherr wuselt die semmelblonden Locken und überlegt, wie er das Kriegsglück zugunsten des Käfers wenden kann. Da wird vom Haus her sein Name gerufen. Verärgert über die Störung beschließt der Junge, die Mutter nicht gehört zu haben. Als sie jedoch ein zweites Mal ruft, sammelt er eine Handvoll Blätter und Zweige und lässt sie als Plage des Himmels auf das Schlachtgetümmel nieder regnen. Dann trottet er zum Haus.
„Thomas, laufe zum Hecksteinhof und besorge Eier und Milch."
„Muss das sein, Mami?“
„Natürlich, du Schlingel, ich will doch Kuchen backen."
„Wenn nun aber der Schreckliche Henri dort ist", fragt der Junge ängstlich und sieht die Mutter bekümmert an.
„Dann beachte ihn einfach nicht, Thomas. Und nun geh schon."
Wenig überzeugt nimmt der Junge die Milchkanne, steckt die Münzen in die Hosentasche und schleicht davon.
Der Weg zum Hof führt über den Bach und steigt sanft an. Vom Hügel aus schaut Thomas in das Tal, wo zwischen wogenden Kornfeldern und grünen Wiesen das alte Anwesen liegt. Wohnhaus, Scheune und Ställe säumen den Innenhof und machen ihn zu einer ringsum geschlossenen Trutzburg.
Und der Herr dieser Trutzburg ist Henri.
Henri nimmt keine Befehle an, schon gar nicht von der kurzsichtigen, fast tauben Magd Hubertine, die zu dieser Stunde alleine auf dem Gutshof weilt und in der Wäschekammer Hemden bügelt.
Mit klopfendem Herzen steht Thomas vor dem Tor, sammelt allen Mut und drückt entschlossen die Eichentür auf. Vorsichtig späht er in den Hof und stellt erleichtert fest, dass vom Schrecklichen Henri weit und breit nicht zu sehen ist. Thomas nimmt die Milchkanne fester in die Hand und eilt auf das Wohnhaus zu.
Fast den halben Weg hat der Junge geschafft, als von der Scheune her ein wütendes Kollern ertönt. Ein abstoßend-hässliches Wesen stürmt auf ihn zu. Der braun gestreifte Körper glänzt wie Bronze und thront auf sehnigen Beinen, die mit furchterregenden Krallen bestückt sind. Hals und Kopf der Spukgestalt funkeln blaurot, Hautlappen mit fleischigen Auswüchsen baumeln wie trunken um den langen Schnabel und bösartige Augen sehen den Jungen zornig an.
Thomas erstarrt. Henri, der schreckliche Truthahn ist also doch hier, hat hinterlistig in der Scheune gewartet. Trotzig stampft der Junge mit dem Fuß auf und versucht, den Angreifer mit der Milchkanne zu verscheuchen.
Henri stutzt einen Augenblick, mustert hasserfüllt die Kanne, senkt den Kopf und startet einen blitzschnellen Angriff auf die nackten Beine des Kleinen. Tränen schießen Thomas in die Augen. In wilder Flucht stürmt er davon, hastet nach draußen und rennt fast seinen Freund Robert um.
Robert ist dort vorbeigekommen und hat durch einen Spalt im Tor den schmählichen Rückzug beobachtet.
„Du bist ein Angsthase", spottet er und schüttelt den Kopf. „Das dämliche Vieh ist nur halb so groß wie du, und vor so etwas rennst du davon."
Thomas wischt die Tränen aus dem Gesicht und stottert: „Das Biest ist gemein-gefährlich, niederträchtig und bösartig dazu. Ein feuerspeiender Drache ist ein Engel gegen diese Satansbrut."
„Feuerspeiender Drache ist gut", brummt Robert und lacht. „Das ist die Idee. Wir machen dem Truthahn ein wenig Feuer unter dem Hintern. Das treibt seine Mucken aus und lehrt ihn, Männer wie uns zu fürchten."
Thomas ist wenig begeistert von dem Vorschlag, doch als sein älterer Freund eine Schachtel Zündhölzer aus der Tasche kramt, kann er nicht mehr kneifen, denn ein zweites Mal will er sich nicht blamieren.
So schleichen die Jungen auf den Hof. Thomas hält jetzt die Streichhölzer in der Hand und Robert trägt eine halb gefüllte Tüte Popcorn, die er aus den unergründlichen Tiefen seiner Taschen hervorgezaubert hat. Vorsichtig umkreisen die Beiden den schrecklichen Henri, der sie misstrauisch beobachtet und kampfbereit den Boden scharrt. Doch als Robert das Futter ausstreut, pickt der Truthahn mit kräftigen Schnabelstößen Krume für Krume auf. Den Feuerteufel in seinem Rücken beachtet er nicht.
Das Zündholz flammt auf und setzt knisternd die Schwanzfedern in Brand. Bestialischer Gestank breitet sich aus. Die Flamme leckt höher, erreicht die Flügelspitzen. Verdutzt hebt der große Vogel den Kopf, dann schießt er wie vom Teufel besessen davon. In seiner Panik hebt er kurz vom Boden ab, taumelt zurück und rast wie eine Rakete in den sicheren Hort der Scheune.
Als wenig später dort schwarze Rauchwolken aufsteigen, flüchten die Freunde und verstecken sich im nahen Kornfeld. Mit heulender Sirene donnert die Feuerwehr heran.
Thomas kauert neben seinem Freund, beobachtet entsetzt die lodernden Flammen und flüstert: „Glaubst du nun, dass der Schreckliche Henri bösartig ist? Das gemeine Biest geht hin und steckt doch glatt die Scheune seines eigenen Herrn in Brand.“
„Du hast recht“, antwortet Robert und schüttelt missbilligend den Kopf. „Es gibt schon unvernünftige Tiere auf dieser Welt.“
 

La Luna

Mitglied
Hallo lieber Willi,

was soll ich noch sagen?

Du bist ein Meister der Erzählkunst.
Man glaubt beim Lesen dabei zu sein....als stiller Beobachter.

Schon toll! :eek:)


Liebe Grüße
Julia
 
Liebe Julia

vielen, vielen Dank für das Kompliment. Darüber freue ich mich sehr, eben weil es aus berufenem Mund kommt.
Liebe Grüße
Willi
 
L

leonie

Gast
hallo willi

schön tiefsinnig, und ohne erhobenen zeigefinger, aber doch die gefahr aufzeigend, wenn kinder mit feuer spielen und sich keiner schuld bewußt sind. hat mir sehr gut gefallen.
liebe grüße eine beeindruckte leonie
 
J

josipeters

Gast
diese Truthähne

sind schon schreckliche Biester, sehen sofort rot und gehen gleich zum Angriff über.
 
Liebe leonie

du hast mit feinem Gespür genau das herausgelesen, was ich mit dieser Geschichte vermitteln wollte. Kompliment.
Es grüßt dich ganz lieb
Willi
 
Hallo Josi

vielen Dank für dein Interesse.
Ja,Truthähne sind schon bedrohliche Wesen für kleine Jungen. Habe es selbst erfahren müssen.
Lieb grüßt dich
Willi
 
L

leonie

Gast
hey willi

ich mag geschichten, wo man auch mal zwischen den zeilen lesen muss, und wo ich mir sagen kann, genau so ist das. außerdem, ist mein sohn selbst in einem alter, wo ich alles verstecken muss was feuerzeug oder streichhölzer heißt.
liebe grüße eine etwas müde leonie
 

Svalin

Mitglied
Hi Willi

kam nicht umhin, deinem Querverweis zu folgen ;-) Hier verstehe ich so langsam, was es wirklich bedeutet, zu erzählen. Auch wenn es in der Natur von Kurzgeschichten liegt, den Rahmen etwas skizzenhaft anzudeuten, verliert man sich bei dir ohne weiteres in einer fast vertrauten Welt. Eine Offenheit, an der ich wohl noch zu arbeiten habe, um meine Leser nicht unnötig zu verwirren ;-) Kompliment!

Liebe Grüße
Martin

P.S.: der arme Käfer :-(
 

Marc Mx

Mitglied
Der Anfang ist sehr gut, aber dann!!!

Hallo Willi,

gewiß, Du erweist Dich hier wieder mal als begabter Erzähler, doch "zum Glück" finde ich auch diesmal etwas zum "Meckern":
1. "... der Schreckliche Henri..."
Das klingt in meinen Ohren reichlich teatralisch. Das hat die Geschichte wirklich nicht nötig. Das klingt so, als würde hier jemand mit dem Zaunpfahl winken!
2. "...und bösartige Augen..."
Auch das klingt nicht überzeugend. Der Rest drum herum aber schon! - Reicht das nicht?
3. "... mustert hasserfüllt die Kanne..."
Der Erzähler erlaubt sich hier, seine Erzählposition zu verlassen. Wenn Du willst, daß der Truthahn hasserfüllt die Kanne mustert, dann mußt Du es "zeigen". Jeder Lektor, jeder Redakteur wird diese Stelle anstreichen (wenn er seinen Job erst nimmt)...
4. "...Ein feuerspeiender Drache ist ein Engel gegen diese Satansbrut..."
Redet so ein siebenjähriger Junge??? Also in meiner Erzieherkarriere ist mir soetwas noch nicht untergekommen!
5. "...Thomas ist wenig begeistert von dem Vorschlag, doch als sein älterer Freund eine Schachtel Zündhölzer aus der Tasche kramt, kann er nicht mehr kneifen, denn ein zweites Mal will er sich nicht blamieren..."
Ab dieser Stelle überzeugt mich die Geschichte nicht mehr! Hier wird erzählt, vom Erzähler. Vorher wurde die Geschichte "gezeigt". Sie spielte sich vor meinem inneren Auge ab, wie ein Film!
6. "...Bestialischer Gestank breitet sich aus..."
Klingt auch nicht überzeugend, weil sich der Gestank an der frischen Luft sehr schnell verflüchtigt. Da müßte schon der ganz Truthahn brennen.
7. "...Als wenig später dort schwarze Rauchwolken aufsteigen, flüchten die Freunde und verstecken sich im nahen Kornfeld. Mit heulender Sirene donnert die Feuerwehr heran..."
Hier hattest Du wohl keine Lust mehr, die Story richtig zuende zu erzählen. *schmunzel* - das passiert mir auch ganz oft!

Insgesamt finde ich die Geschichte aber trotzdem gut. Kennst Du das Buch "Peter und der Büffel Boni"? Damit haben mir meine Eltern beigebracht, wie gefährlich Feuer ist. Ich bin nämlich auch auf dem Land groß geworden.
Peters bester Freund ist das Kälbchen Boni. Mit seinen Freunden spielt Peter oft Indianer und das Kälbchen ist dann ein Büffel. Naja, irgendwann machen sie ein Feuer, das sie nicht mehr löschen können... Die Kühe verbrennen aLLe im Kuhstall. Die Geschichte ist furchtbar traurig. Aber es war trotzdem immer eines meiner Lieblingsbücher und ich selbst habe nie irgendwen mit Feuer in Gefahr gebracht...

Viele Grüße und schreib weiter!
MarcPlanet.de
 
Hallo Marc,

vielen Dank für das aufmerksame Lesen und für die sinnvollen Anregungen. Genau das ist der Grund, warum ich fast schon fertige Texte in die LL stelle. Selbst der kleinste Hinweis hilft mir ja weiter.
Und du hast dir nun wirkliche Mühe gegeben.
Im Einzelnen:
Punkt 1 möchte ich wegen der Spannung unverändert lassen, weil an dieser Stelle noch offen bleibt, wer das „Schreckgespenst“ ist.
Beim 2. Punkt streiche ich den letzten Teil des Satzes, bei Punkt 3 das „hasserfüllt“.
Am 4. Punkt bastele ich noch, muss kindgerechter werden, wie du richtig sagst. Das „feuerspeiende“ darf aber wegen dem Übergang nicht fehlen, oder?
Den Rest der Geschichte werde ich auf jeden Fall überarbeiten, wobei wir aber kurz über den Schluss sprechen sollten: Ich hatte sehr wohl Lust, die Erzählung richtig zum Abschluss zu bringen, durfte jedoch wegen dem Abdruck in einer Literaturzeitschrift die vorgegebene Länge nicht überschreiten. Als ich das versäumte später nachholen wollte, meinten viele: „Nein, nein, die Moral von der Geschicht kommt klar genug herüber.“
Was hältst du davon, Marc? Wie gesagt, jeder Tipp ist wertvoll, denn ich will ja keinesfalls unfertige Sachen an die Verlage schicken.
Es grüßt dich lieb
Willi
 

Kyra

Mitglied
Hallo Willi

die Unschuld tut manchmal die schlimmsten Dinge..., in aller Unschuld!
Schön geschildert!

Grüße

Kyra
 
Hallo Kyra,

schön formuliert, der Satz mit der Unschuld.
Kommt in meine Sammlung Schreibhilfen und Redewendungen.
Liebe Grüße sendet dir
Willi
 

Auryn

Mitglied
Hallo Willi

Köstliche Geschichte :)

Ich sach nur:
Die Weisheit der Kinder ist
unerschöpflich!"

Gruß Auryn
 
Hallo Auryn,

„Die Weisheit der Kinder ist unerschöpflich.“
Was für eine humorvolle Umschreibung für die Logik der beiden Lausbuben.
Find ich köstlich
sagt Willi
 
Liebe Sanne,

vielen Dank für das schöne Kompliment.
Zu deinen Vorschlägen: Das Wort ‘schlurfen‘ passt besser zu älteren Personen, denke ich, oder was meinst du? Kleine Brücke aber ist gut, ebenso wie Korn für Korn. Kommt beides in die Endfassung. Der letzte Satz muss jedoch stehen bleiben, weil gerade durch den Begriff ‘unvernünftige Tiere‘ die seltsame Logik der Jungen deutlich wird.
Mache bitte weiterhin Vorschläge, wenn dir etwas einfällt. Bin immer offen für jeden Tipp.
Lieb grüßt dich
Willi
 
Liebe Sanne,

deine Anmerkungen zu...schleicht davon...beschäftigen mich immer noch. Das Wort ‘schleicht‘ drückt ja wirklich nicht genau das aus, was ich sagen will.
Was hältst du davon, wenn ich...trabt davon...schreibe?
Diese Formulierung berücksichtigt das Drängen der Mutter, deutet aber auch das Zögern des Jungen an. Richtig gedacht so?
Liebe Grüße von
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
lieber

willi, ich hatte deine geschichte in der schule gelesen und mir notizen gemacht, weil ich von dort nicht antworten konnte. wie das mit zetteln so ist, weißt du, daher meine sehr verspätete meinung zu deiner geschichte: sie ist absolut super! die 2 oder 3 tippfehler beseitigen und dann zeig mir mal den verlag, der das nicht drucken will, der kann aber was erleben! ganz lieb grüßt
 
Liebe oldicke,

ich bedanke mich ganz herzlich für dein Kompliment.
Na ja, werde versuchen, den Verleger zu überzeugen.
Bin froh, dass du nun wieder in der LL aktiv bist. Habe dich vermisst.
Ganz lieb grüßt
Willi
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
ja,

lieber willi, wenn auch kaum mit neuen texten von mir zu rechnen ist, an der diskussion beteilige ich mich gern. lg
 



 
Oben Unten