Puppen Spielen Im Zug (Herzscheiße)
Als Kreszentia Brandl aus dem Speisewagen zurück kam, war die gepflegte Langeweile im Abteil einer diffusen Bedrohlichkeit gewichen.
Gesprochen hatten die anderen zwei schon vorher nicht viel miteinander – „Brauchst du die Zeitung noch?“ – „Machst du das Fenster wieder zu, bitte?“, mehr nicht. Vorher hatten die beiden also einfach nicht miteinander gesprochen; jetzt schwiegen sie sich an.
Sie saßen einander auch nicht mehr direkt gegenüber, sondern diagonal, weil die eine den gegenüberliegenden Platz für ihre Füße beanspruchte. Die Schuhe hatte sie immerhin ausgezogen, man war nur zu dritt im Abteil - die Brandl beschloss, darüber hinwegzusehen.
Sie setzte ihre Lektüre fort.
Sie kam allerdings nicht umhin, die Mädchen seltsam zu finden. Sie las gerade den Abschnitt über den Spieltrieb der jungen Makaken, da fiel ihr ein, woran das lag: beide hatten etwas Puppenhaftes.
Die am Fenster war die Stoffpuppe. Wie die eine, die Kreszentia Brandl zum Kindergarteneintritt von ihrer Tante bekommen hatte, wie hieß die.. –Linda, genau. Linda mit den leicht schiefen Augen, bei denen sich die Tante nämlich vernäht hatte - nicht einmal raubtierhaft-schief, sondern umgekehrt, sodass die äußeren Augenwinkel nach unten wiesen, das verlieh dieser Puppe trotz ihrer lustigen Grübchen und all ihres Sommers – luftiges Kleidchen, braune Haut, sonnengebleichtes Strohhaar, Kornblumenaugen – und all ihres Lichtes einen Anflug von Traurigkeit.
Bei der anderen war sich Frau Brandl über das Material noch unschlüssig. Etwas – nicht der Teint, der war rosig, eher vielleicht diese strenge Forderung nach Vorsicht, die von der Gestalt ausging – sprach für Porzellan. Aber Frau Brandl entschied sich nach reiflicher Überlegung für Holz, denn sie hatte sie endlich wiedererkannt: Isadora, die Prinzessin vom Marionettentheater, die verwunschene Königstochter, deren Lachen gestohlen wurde - wer den Bann besiegt, bekommt das Königreich und sie zur Frau, doch wer versagt, verliert den Kopf.Isadora. Wahrscheinlich war es der missgestimmte Zug um den Mund, die herabhängenden Mundwinkel, die im ansonsten makellosen Gesicht die Kinnpartie zu stark abgrenzten, was diese Assoziation zu den Marionetten weckte, den Marionetten mit ihren auf- und zu klappbaren Kinnladen.
Die eine lehnte am Seitenpolster und schaute den Wolken nach. Die andere, die mit den hochgelagerten Füßen, die Isadora-Puppe, hatte die Ohren zugestöpselt, schaute ins Leere. Aus den Augenwinkeln warf sie hin- und wieder der Linda-Puppe böse Blicke zu. Deren Körper das sehr wohl bemerkte, denn er zuckte dann zusammen, wetzte hin- und her, und die Linda-Puppe tauchte aus ihrer Versunkenheit auf und schaute mit großen – Angst-geweiteten? mutmaßte Frau Brandl – Augen zu der anderen, wie um sich zu versichern. Aber die war dann wieder ganz Abwesenheit, als wäre nichts gewesen, und dann war auch nichts. So ging das eine Zeit.
Frau Brandl las ihren Artikel und kümmerte sich nicht darum.
Bis es die Linda-Puppe nicht mehr aushielt.
-Was schaust du denn so?
- Was schaust du denn so? – äffte Isadora sie in weinerlichem Tonfall nach. Gar nicht schau ich, du bist paranoid.
Linda hob nur die Augenbraue und lehnte sich wieder zurück.
- Und überhaupt – fing Isadora wieder an – selbst wenn ich geschaut hätte… darf ich leicht nicht?
- Sag mal, hab ich dir was getan?
- Nein, sagte Isadora ruhig. – Hast du nicht.
Sie fingerte umständlich ihre Kopfhörer, die sich vorhin beim Abnehmen verheddert hatten, auseinander und murmelte etwas in Richtung – Als ob damit alles gut wäre.
- Irgendwas stimmt doch nicht mit dir, beharrte Linda.
- Oh Gott nein, wie kommst du denn da drauf! Ist doch alles super. Best-ens.
- Sag mir bitte, was los ist.
- Ja, genau, lass uns drüber reden! Ein konstruktives Gespräch, ein super-tolles, super-wichtiges, super-scheiß-konstruktives Gespräch. Wir können ja über alles reden, nicht?
- Nicht? – Das bisherige Gespräche war in Zischlauten seitens Isa bzw. sachten Flüstertönen seitens Linda geführt worden – Frau Brandl hatte trotzdem alles mitbekommen, ihr Gehör war durch jahrelanges Schüler beim Einsagen Ertappen-Müssen darauf konditioniert, dieses Zischen und Geflüster wahrzunehmen, das ging ganz von selbst, sie konnte gar nichts dagegen tun – aber das letzte Wort hatte Linda mit höherer, brüchigerer Stimme gesprochen.
– Ich dachte eigentlich schon immer… stammelte sie, - Ich meine, wir haben doch immer…. Bitte sag mir jetzt nicht, dass wir nicht mal mehr miteinander reden können.
- Reden ist nicht das Problem.
- Wenn Reden nicht das Problem ist, was dann? Was, um Himmels willen, ist dein Problem?
- Du, sagte Isadora.
Linda sank zurück.
- Komm schon, das ist nicht lustig, sagte sie.
- So war’s auch nicht gemeint, sagte Isadora. – Wenn du’s genau wissen willst: Ich kann dich nicht mehr sehn. Immer dein Mondgesicht mir gegenüber, da kommt es mir hoch. Ja, und du kannst jetzt heulen, was du willst, so ist es einfach. Du kotzt mich an.
- Gestern beim Fortgehn hast du noch ganz was anderes gesagt, sagte Linda, fast tonlos.
- Na und? Ich war total zu. Alk macht mich sentimental, weißt du doch.
Frau Brandl räusperte sich.
- Warum sagst du so was?, fragte Linda.
- Ja, warum eigentlich?, sinnierte Isadora. – Gott, ich weiß beim besten Willen nicht mehr, warum ich mich überhaupt so lang mit dir abgegeben hab.
- Weil ich so kirschrote Lippen habe, flüsterte Linda. Und kornblumenblaue Augen. Und weil mein Lächeln leuchtet. Und weil du mich liebst.
Stille.
- Hast du mal gesagt.
Immer noch Stille.
Frau Brandl hielt den Atem an.
- Meine Güte, sagte Isa schließlich, dir kann man aber auch jeden Scheiß reindrücken. Kirschrote Lippen! Kornblumenblaue Augen! Da war ich ja nicht sonderlich originell. Merk dir das fürs Leben, Mädchen, das ist der Schleim, den wer absondert, um dich rumzukriegen.
Frau Brandl war inzwischen zu dem Entschluss gekommen, dass das nun wirklich nicht mehr anging. Hatten die Mädchen ihre Anwesenheit vergessen? Natürlich, das Gespräch wurde nach wie vor sehr leise geführt und sie war ja vertieft in den Artikel, aber sie saß doch, bitte, direkt daneben. Direkt daneben! Wahrscheinlich hatten die sie wirklich vergessen. Anders konnte es gar nicht sein.
Man musste sich in Erinnerung rufen.
-Entschuldigen Sie, nutzte Frau Brandl die Gefechtspause, könnten wir bitte das Fenster aufmachen?
- Gute Idee, sagte Isa, ich halt den Gestank eh nicht mehr aus. Wie die stinkt! – und schaute dabei Linda schnurgerade ins Gesicht, und fügte hinzu, diesmal an Frau Brandl gewandt: Finden Sie nicht?
Das war zu viel. Frau Brandl schnappte sich ihr Gepäck und suchte fluchtartig das Weite.
- Ich finde ja, sie hätte dich verteidigen müssen, sagte Isa, kaum dass die Tür hinter ihr zugegangen war. So gemein, wie ich zu dir war.
- Die war viel zu entsetzt, um einzugreifen. Ich glaub, wir haben sie ziemlich verstört, sagte Linda.
Isa grinste breit. – Wir sind ganz schon fies, weißt du das? Manipulative Biester. Obwohl, mit dem „Lesbisch“ hättest mich kurz mal fast draus gebracht. Ich dachte, wir machen einfach nur normal auf beste Freundinnen.
- Immerhin, sie hat’s geglaubt.
- Das allerdings. Wer weiß, sagte Linda und hängte den Blick wieder an die Wolken, vielleicht haben wir sie heute geprägt fürs Leben.
-Ich stelle mir vor, sagte Linda, sie war gerade auf dem Weg zum Maturajubiläum, zum 20. sagen wir, was meinst du?
- Zwanzigstes dürfte hinkommen, meinte Isa.
- Gut, 20. Maturajubiläum also. Und dort wird sie ihren Oberstufenschwarm wieder treffen, 3 Jahre war sie ärgstens in ihn verknallt. Aber ach, sie hat ihm nie etwas gesagt, es war von Anfang an eine unstillbare Sehnsucht, denn, wie es nun mal so geht im Leben: Sie war die fade, brave Streberin und er der lässige, rebellische Repetent. Er war sehr hübsch und sie… na ja. Sie hat ihm also nie etwas gesagt und ihn nach der Matura nie wieder gesehen. Bis heute.
- Und sie hat natürlich nie wieder einen Mann so geliebt wie ihn und heute hätte sie ihm dann endlich ihre Liebe gestanden und sie wären in Leidenschaft zueinander entbrannt und das wäre dann die große Liebe, oder wie? – spann Isa belustigt den Faden weiter.
- Das vielleicht nicht, aber so nebenbei einfließen lassen hätte sie es schon, ganz beiläufig. Denn sie hat ihn tatsächlich überwunden, sie sieht jetzt ganz genau, wie sie sein Bild damals verklärt hat und sie sieht auch ihn jetzt ganz genau, zum ersten Mal wirklich, und stellt fest, dass er immer noch gut aussieht. Sie hat ja auch tatsächlich nachher nie wieder einen Mann so geliebt wie ihn, klar, sie hatte ein, zwei Affären, mit einem Studien- später mit einem Arbeitskollegen, aber das waren halbherzige Sachen, von beiden Seiten, weil halt manchmal irgendwas doch besser ist als nix.
- Und er kommt plötzlich drauf, dass nur die inneren Werte zählen und verwandelt das hässliche Entlein in den schönen Schwan?
- Er hat das mit den schönen Frauen schon ein bisschen hinter sich, weißt du. Er hat genug gehabt, in diesen 20 Jahren, schöne, dramatische, aufregende Frauen, sehr, sehr aufregende Frauen, ein bisschen zu aufregend vielleicht sogar. Die erste hat ihm das Geschirr zertrümmert, die zweite den Fernseher, die dritte das Auto, die vierte die Wohnung und die Fünfte das Ego. Fad klingt jetzt plötzlich gar nicht mehr so schlecht für ihn. Und sie hat er eigentlich damals schon gut leiden können, sie haben gut miteinander reden können, über Gott und die Welt, nur begehrenswert hätt er sie halt im Traum nicht gefunden. Aber das Alter hat ihr nicht geschadet, im Gegenteil, weil sie nie besonders schön war, hat es ihr auch nicht viel nehmen können. Die Jahre haben die Kluft gefüllt zwischen ihnen. Und sie würden dann gelegentlich miteinander ausgehen, sie würden es anfangs nicht ernstnehmen, weil sie es auf die Nostalgie schieben würden, aber was zuerst aussehen würde wie ein naheliegender Kompromiss, würde sich dann als die ideale Lösung entpuppen. Er würde sie aufblühen lassen, sie würde ihm Stabilität geben. Und sie würden zusammenbleiben, bis dass der Tod sie scheidet, sie wären das rührende alte Pärchen im Park, das immer noch Händchen hält und uns den Glauben an die Liebe wiedergibt, wenn wir wieder mal tränenblind aus der Wohnung unseres neuesten Ex-Freundes stürmen. Nur, dass das alles jetzt nicht geschehen wird. Weil wir nämlich heute ihren Glauben an die Liebe zerstört haben.
- Klar. Sie kriegt zufällig mit, wie sich zwei 16-jährige Mädels anzicken und ihr Glaube an die Liebe ist zerstört.
-Ja, sagte Linda. Weil wir ihr gerade sehr schön demonstriert haben, wie viel Verachtung stecken kann in dem, was die längste Zeit unter „Liebe“ gelaufen ist. Sie hat vor langer Zeit mit dem Thema abgeschlossen und ihm keine Beachtung mehr geschenkt, und so hat sich diese Tür sicher verborgen in den Tiefen ihres Unterbewusstseins in all den Jahren wieder ein bisschen öffnen können, ganz allmählich, erst nur eine Spalt weit und dann immer weiter, und heute wäre diese Tür vielleicht offen gewesen, wenn wir sie nicht gerade eben rechtzeitig wieder zugedonnert hätten. Sie wird es ihm also nicht sagen. Er wird sich versaufen und sie wird einsam sterben. Wir haben ihr das Leben versaut.
- Das glaube ich nicht, sagte Isa fest. Sie hatte diese halbherzige Affäre mit dem Arbeitskollegen, wie du gesagt hast, nur dass sie dann aus dieser halbherzigen Affäre eine halbherzige Beziehung gemacht hat, aus Angst vor der Einsamkeit und durch uns hat sie heute erkannt, dass das nicht das Wahre ist, dass etwas gibt, das schlimmer ist als die Einsamkeit, dass sie endlich Schluss machen muss, bevor auch bei ihnen diese Verachtung durchbricht, bevor einer von ihnen dem anderen eine solche Szene macht. Durch uns wird sie heute endlich die Kraft finden, sich aus dem Gefängnis dieser Gewohnheitsbeziehung zu befreien. Wir haben ihr das Leben gerettet.
- Möglich, sagte Linda.
- Nicht wahr? Ich meine, kann doch wirklich sein, oder?
- Klar, sagte Linda. Warum nicht.
Sie sahen beide aus dem Fenster. Linda schaute den Wolken nach, Isa zählte die Strommasten. – Bei der nächsten Station muss ich aussteigen, sagte Linda.
Als Kreszentia Brandl aus dem Speisewagen zurück kam, war die gepflegte Langeweile im Abteil einer diffusen Bedrohlichkeit gewichen.
Gesprochen hatten die anderen zwei schon vorher nicht viel miteinander – „Brauchst du die Zeitung noch?“ – „Machst du das Fenster wieder zu, bitte?“, mehr nicht. Vorher hatten die beiden also einfach nicht miteinander gesprochen; jetzt schwiegen sie sich an.
Sie saßen einander auch nicht mehr direkt gegenüber, sondern diagonal, weil die eine den gegenüberliegenden Platz für ihre Füße beanspruchte. Die Schuhe hatte sie immerhin ausgezogen, man war nur zu dritt im Abteil - die Brandl beschloss, darüber hinwegzusehen.
Sie setzte ihre Lektüre fort.
Sie kam allerdings nicht umhin, die Mädchen seltsam zu finden. Sie las gerade den Abschnitt über den Spieltrieb der jungen Makaken, da fiel ihr ein, woran das lag: beide hatten etwas Puppenhaftes.
Die am Fenster war die Stoffpuppe. Wie die eine, die Kreszentia Brandl zum Kindergarteneintritt von ihrer Tante bekommen hatte, wie hieß die.. –Linda, genau. Linda mit den leicht schiefen Augen, bei denen sich die Tante nämlich vernäht hatte - nicht einmal raubtierhaft-schief, sondern umgekehrt, sodass die äußeren Augenwinkel nach unten wiesen, das verlieh dieser Puppe trotz ihrer lustigen Grübchen und all ihres Sommers – luftiges Kleidchen, braune Haut, sonnengebleichtes Strohhaar, Kornblumenaugen – und all ihres Lichtes einen Anflug von Traurigkeit.
Bei der anderen war sich Frau Brandl über das Material noch unschlüssig. Etwas – nicht der Teint, der war rosig, eher vielleicht diese strenge Forderung nach Vorsicht, die von der Gestalt ausging – sprach für Porzellan. Aber Frau Brandl entschied sich nach reiflicher Überlegung für Holz, denn sie hatte sie endlich wiedererkannt: Isadora, die Prinzessin vom Marionettentheater, die verwunschene Königstochter, deren Lachen gestohlen wurde - wer den Bann besiegt, bekommt das Königreich und sie zur Frau, doch wer versagt, verliert den Kopf.Isadora. Wahrscheinlich war es der missgestimmte Zug um den Mund, die herabhängenden Mundwinkel, die im ansonsten makellosen Gesicht die Kinnpartie zu stark abgrenzten, was diese Assoziation zu den Marionetten weckte, den Marionetten mit ihren auf- und zu klappbaren Kinnladen.
Die eine lehnte am Seitenpolster und schaute den Wolken nach. Die andere, die mit den hochgelagerten Füßen, die Isadora-Puppe, hatte die Ohren zugestöpselt, schaute ins Leere. Aus den Augenwinkeln warf sie hin- und wieder der Linda-Puppe böse Blicke zu. Deren Körper das sehr wohl bemerkte, denn er zuckte dann zusammen, wetzte hin- und her, und die Linda-Puppe tauchte aus ihrer Versunkenheit auf und schaute mit großen – Angst-geweiteten? mutmaßte Frau Brandl – Augen zu der anderen, wie um sich zu versichern. Aber die war dann wieder ganz Abwesenheit, als wäre nichts gewesen, und dann war auch nichts. So ging das eine Zeit.
Frau Brandl las ihren Artikel und kümmerte sich nicht darum.
Bis es die Linda-Puppe nicht mehr aushielt.
-Was schaust du denn so?
- Was schaust du denn so? – äffte Isadora sie in weinerlichem Tonfall nach. Gar nicht schau ich, du bist paranoid.
Linda hob nur die Augenbraue und lehnte sich wieder zurück.
- Und überhaupt – fing Isadora wieder an – selbst wenn ich geschaut hätte… darf ich leicht nicht?
- Sag mal, hab ich dir was getan?
- Nein, sagte Isadora ruhig. – Hast du nicht.
Sie fingerte umständlich ihre Kopfhörer, die sich vorhin beim Abnehmen verheddert hatten, auseinander und murmelte etwas in Richtung – Als ob damit alles gut wäre.
- Irgendwas stimmt doch nicht mit dir, beharrte Linda.
- Oh Gott nein, wie kommst du denn da drauf! Ist doch alles super. Best-ens.
- Sag mir bitte, was los ist.
- Ja, genau, lass uns drüber reden! Ein konstruktives Gespräch, ein super-tolles, super-wichtiges, super-scheiß-konstruktives Gespräch. Wir können ja über alles reden, nicht?
- Nicht? – Das bisherige Gespräche war in Zischlauten seitens Isa bzw. sachten Flüstertönen seitens Linda geführt worden – Frau Brandl hatte trotzdem alles mitbekommen, ihr Gehör war durch jahrelanges Schüler beim Einsagen Ertappen-Müssen darauf konditioniert, dieses Zischen und Geflüster wahrzunehmen, das ging ganz von selbst, sie konnte gar nichts dagegen tun – aber das letzte Wort hatte Linda mit höherer, brüchigerer Stimme gesprochen.
– Ich dachte eigentlich schon immer… stammelte sie, - Ich meine, wir haben doch immer…. Bitte sag mir jetzt nicht, dass wir nicht mal mehr miteinander reden können.
- Reden ist nicht das Problem.
- Wenn Reden nicht das Problem ist, was dann? Was, um Himmels willen, ist dein Problem?
- Du, sagte Isadora.
Linda sank zurück.
- Komm schon, das ist nicht lustig, sagte sie.
- So war’s auch nicht gemeint, sagte Isadora. – Wenn du’s genau wissen willst: Ich kann dich nicht mehr sehn. Immer dein Mondgesicht mir gegenüber, da kommt es mir hoch. Ja, und du kannst jetzt heulen, was du willst, so ist es einfach. Du kotzt mich an.
- Gestern beim Fortgehn hast du noch ganz was anderes gesagt, sagte Linda, fast tonlos.
- Na und? Ich war total zu. Alk macht mich sentimental, weißt du doch.
Frau Brandl räusperte sich.
- Warum sagst du so was?, fragte Linda.
- Ja, warum eigentlich?, sinnierte Isadora. – Gott, ich weiß beim besten Willen nicht mehr, warum ich mich überhaupt so lang mit dir abgegeben hab.
- Weil ich so kirschrote Lippen habe, flüsterte Linda. Und kornblumenblaue Augen. Und weil mein Lächeln leuchtet. Und weil du mich liebst.
Stille.
- Hast du mal gesagt.
Immer noch Stille.
Frau Brandl hielt den Atem an.
- Meine Güte, sagte Isa schließlich, dir kann man aber auch jeden Scheiß reindrücken. Kirschrote Lippen! Kornblumenblaue Augen! Da war ich ja nicht sonderlich originell. Merk dir das fürs Leben, Mädchen, das ist der Schleim, den wer absondert, um dich rumzukriegen.
Frau Brandl war inzwischen zu dem Entschluss gekommen, dass das nun wirklich nicht mehr anging. Hatten die Mädchen ihre Anwesenheit vergessen? Natürlich, das Gespräch wurde nach wie vor sehr leise geführt und sie war ja vertieft in den Artikel, aber sie saß doch, bitte, direkt daneben. Direkt daneben! Wahrscheinlich hatten die sie wirklich vergessen. Anders konnte es gar nicht sein.
Man musste sich in Erinnerung rufen.
-Entschuldigen Sie, nutzte Frau Brandl die Gefechtspause, könnten wir bitte das Fenster aufmachen?
- Gute Idee, sagte Isa, ich halt den Gestank eh nicht mehr aus. Wie die stinkt! – und schaute dabei Linda schnurgerade ins Gesicht, und fügte hinzu, diesmal an Frau Brandl gewandt: Finden Sie nicht?
Das war zu viel. Frau Brandl schnappte sich ihr Gepäck und suchte fluchtartig das Weite.
- Ich finde ja, sie hätte dich verteidigen müssen, sagte Isa, kaum dass die Tür hinter ihr zugegangen war. So gemein, wie ich zu dir war.
- Die war viel zu entsetzt, um einzugreifen. Ich glaub, wir haben sie ziemlich verstört, sagte Linda.
Isa grinste breit. – Wir sind ganz schon fies, weißt du das? Manipulative Biester. Obwohl, mit dem „Lesbisch“ hättest mich kurz mal fast draus gebracht. Ich dachte, wir machen einfach nur normal auf beste Freundinnen.
- Immerhin, sie hat’s geglaubt.
- Das allerdings. Wer weiß, sagte Linda und hängte den Blick wieder an die Wolken, vielleicht haben wir sie heute geprägt fürs Leben.
-Ich stelle mir vor, sagte Linda, sie war gerade auf dem Weg zum Maturajubiläum, zum 20. sagen wir, was meinst du?
- Zwanzigstes dürfte hinkommen, meinte Isa.
- Gut, 20. Maturajubiläum also. Und dort wird sie ihren Oberstufenschwarm wieder treffen, 3 Jahre war sie ärgstens in ihn verknallt. Aber ach, sie hat ihm nie etwas gesagt, es war von Anfang an eine unstillbare Sehnsucht, denn, wie es nun mal so geht im Leben: Sie war die fade, brave Streberin und er der lässige, rebellische Repetent. Er war sehr hübsch und sie… na ja. Sie hat ihm also nie etwas gesagt und ihn nach der Matura nie wieder gesehen. Bis heute.
- Und sie hat natürlich nie wieder einen Mann so geliebt wie ihn und heute hätte sie ihm dann endlich ihre Liebe gestanden und sie wären in Leidenschaft zueinander entbrannt und das wäre dann die große Liebe, oder wie? – spann Isa belustigt den Faden weiter.
- Das vielleicht nicht, aber so nebenbei einfließen lassen hätte sie es schon, ganz beiläufig. Denn sie hat ihn tatsächlich überwunden, sie sieht jetzt ganz genau, wie sie sein Bild damals verklärt hat und sie sieht auch ihn jetzt ganz genau, zum ersten Mal wirklich, und stellt fest, dass er immer noch gut aussieht. Sie hat ja auch tatsächlich nachher nie wieder einen Mann so geliebt wie ihn, klar, sie hatte ein, zwei Affären, mit einem Studien- später mit einem Arbeitskollegen, aber das waren halbherzige Sachen, von beiden Seiten, weil halt manchmal irgendwas doch besser ist als nix.
- Und er kommt plötzlich drauf, dass nur die inneren Werte zählen und verwandelt das hässliche Entlein in den schönen Schwan?
- Er hat das mit den schönen Frauen schon ein bisschen hinter sich, weißt du. Er hat genug gehabt, in diesen 20 Jahren, schöne, dramatische, aufregende Frauen, sehr, sehr aufregende Frauen, ein bisschen zu aufregend vielleicht sogar. Die erste hat ihm das Geschirr zertrümmert, die zweite den Fernseher, die dritte das Auto, die vierte die Wohnung und die Fünfte das Ego. Fad klingt jetzt plötzlich gar nicht mehr so schlecht für ihn. Und sie hat er eigentlich damals schon gut leiden können, sie haben gut miteinander reden können, über Gott und die Welt, nur begehrenswert hätt er sie halt im Traum nicht gefunden. Aber das Alter hat ihr nicht geschadet, im Gegenteil, weil sie nie besonders schön war, hat es ihr auch nicht viel nehmen können. Die Jahre haben die Kluft gefüllt zwischen ihnen. Und sie würden dann gelegentlich miteinander ausgehen, sie würden es anfangs nicht ernstnehmen, weil sie es auf die Nostalgie schieben würden, aber was zuerst aussehen würde wie ein naheliegender Kompromiss, würde sich dann als die ideale Lösung entpuppen. Er würde sie aufblühen lassen, sie würde ihm Stabilität geben. Und sie würden zusammenbleiben, bis dass der Tod sie scheidet, sie wären das rührende alte Pärchen im Park, das immer noch Händchen hält und uns den Glauben an die Liebe wiedergibt, wenn wir wieder mal tränenblind aus der Wohnung unseres neuesten Ex-Freundes stürmen. Nur, dass das alles jetzt nicht geschehen wird. Weil wir nämlich heute ihren Glauben an die Liebe zerstört haben.
- Klar. Sie kriegt zufällig mit, wie sich zwei 16-jährige Mädels anzicken und ihr Glaube an die Liebe ist zerstört.
-Ja, sagte Linda. Weil wir ihr gerade sehr schön demonstriert haben, wie viel Verachtung stecken kann in dem, was die längste Zeit unter „Liebe“ gelaufen ist. Sie hat vor langer Zeit mit dem Thema abgeschlossen und ihm keine Beachtung mehr geschenkt, und so hat sich diese Tür sicher verborgen in den Tiefen ihres Unterbewusstseins in all den Jahren wieder ein bisschen öffnen können, ganz allmählich, erst nur eine Spalt weit und dann immer weiter, und heute wäre diese Tür vielleicht offen gewesen, wenn wir sie nicht gerade eben rechtzeitig wieder zugedonnert hätten. Sie wird es ihm also nicht sagen. Er wird sich versaufen und sie wird einsam sterben. Wir haben ihr das Leben versaut.
- Das glaube ich nicht, sagte Isa fest. Sie hatte diese halbherzige Affäre mit dem Arbeitskollegen, wie du gesagt hast, nur dass sie dann aus dieser halbherzigen Affäre eine halbherzige Beziehung gemacht hat, aus Angst vor der Einsamkeit und durch uns hat sie heute erkannt, dass das nicht das Wahre ist, dass etwas gibt, das schlimmer ist als die Einsamkeit, dass sie endlich Schluss machen muss, bevor auch bei ihnen diese Verachtung durchbricht, bevor einer von ihnen dem anderen eine solche Szene macht. Durch uns wird sie heute endlich die Kraft finden, sich aus dem Gefängnis dieser Gewohnheitsbeziehung zu befreien. Wir haben ihr das Leben gerettet.
- Möglich, sagte Linda.
- Nicht wahr? Ich meine, kann doch wirklich sein, oder?
- Klar, sagte Linda. Warum nicht.
Sie sahen beide aus dem Fenster. Linda schaute den Wolken nach, Isa zählte die Strommasten. – Bei der nächsten Station muss ich aussteigen, sagte Linda.