Herzstiche

Seit einigen Oktobertagen geht Herbert Hasler mit der Gewissheit ins Bett, am nächsten Morgen einen regenwolkengrauen Herbst-Himmel hinter der schlecht geputzten Scheibe seines Eheschlafzimmerfensters zu entdecken. So zieht er abends die Bettdecke über den Kopf, vor allem, wenn am nächsten Tag unaufschiebbare Pflichttermine bei Lebensversicherungsnehmern auf ihn warten. Und solche Termine erwarten ihn immer.
Hasler hasst seine Kunden. Meistens lesen sie das Kleingedruckte im Vertrag nicht. Wollen sie doch mit Versicherungsabschluss Sicherheiten für ihr möglichst endloses Leben einkaufen, und nicht eine Versicherung, die durch Klauseln eingeschränkt, was ihnen lebenswert erscheint. Will die Versicherungsgesellschaft nicht zahlen, beschimpfen sie Herbert Hasler. Oft und heftig, denn irgendjemand muss doch Verantwortung für das Glück in ihrem Leben übernehmen.
Hasler erlaubt sich inzwischen die Freiheit, der verantwortungslose Feigling zu sein, der er ist, und meldet sich häufiger telefonisch bei der Bezirksdirektion krank, besonders, wenn aggressiv-ängstliche Kunden auf ihn warten. Nach dem Telefonat leidet er dann tatsächlich an Magenschmerzen oder Herzstichen und legt sich ins Bett.
Konnte er früher sofort die Augen schließen und erst einmal eine Weile schlafen, kann er in den letzten Jahren, zu welcher Tag- oder Nachtzeit er es auch versucht, kaum noch einschlafen. Ihm drohen Träume, in denen er zu Tode kommt, durch Selbstmord, Mord, Verkehrsunfälle oder durch Sturz aus einem Hochhausfenster. Und schlief er ein und erwachte aus seinem Traum, ärgerte er sich auch noch, überlebt zu haben. Eigentlich findet er es tröstlich, dass alles wie warmes Wasser in seiner Duschkabine auf ein Ende und den geöffneten Abfluss zufließt. Doch es gibt Tage, da steht er nicht einmal mehr zum Duschen auf. Seine Frau, die nur halbtags arbeitet, versorgt ihn am Nachmittag mit Nahrung und er verlässt das Bett nur, um verdaute Nahrungsreste der Kanalisation zu überlassen.
Er fühlt sich müde, verlogen, überflüssig, lustlos, sehnt sich nach Licht, Wärme, Klarheit, Weite. Und je mehr er sich sehnt, desto mehr fließt unter ihm weg, desto enger, kälter, diffuser, dunkler wird es um ihn herum.
Gleich wird er wieder vergeblich versuchen, schnellstens einzuschlafen und nicht zu träumen. Sollte es ihm gelingen, wacht er spätestens nach ein paar Stunden auf. Nachts gegen drei Uhr passiert es ihm garantiert. Sein Hirn beginnt sich Gedanken zu machen. Gedanken, die sich, ohne dass er sie daran hindern kann, unaufhaltsam zu Ketten aneinanderreihen. Mühelos erarbeitet das Hirn ihm philosophische Erkenntnisse, die ihn nicht schlafen lassen.
Natürlich bot Elke, seine Frau, ihm an, sie jederzeit wecken zu dürfen, um ihn durch Reden aus diesen Gedankenketten zu befreien. Doch Elke hatte einen festen Schaf. Und was sollte er ihr erzählen? Dass sein Hirn Liebe für eine unbesiegbare Macht hält, die sofort ihre Macht verliert, wenn er absichtlich mit ihr Macht ausüben will. Elke würde kaum mitten in der Nacht verstehen, warum der Kampf um Freiheit heiß, Freiheit aber kalt ist.
Da denkt er lieber allein weiter. An Pflicht und an Kür. Auch so ein Paar wie Liebe und Macht. Pflichterfüllung wurde Herbert zum einzig sinnvollen Lebensinhalt und sinnvolles Leben zur unvermeidlichen Pflicht. Höchstwahrscheinlich Folgen urdeutscher Erziehung, da seine Eltern ihr Leben, vor allem in Kriegs- und Nachkriegszeiten nicht gerade für eine Lust hielten. Hasler hätte und hatte größte Lust zu pflichtvergessenem Unsinn.
Je pflichtbewusster er sich im Laufe seines 59-jährigen Lebens gab, desto mehr sehnte er sich nach jener unvernünftigen Freiheit, allein zu entscheiden, was, wie und ob er überhaupt leben möchte, auch auf die Gefahr hin, falsch zu entscheiden.
Natürlich musste er sich von selbst ernannten Realisten unter seinen Freunden anhören, die absolute Freiheit sei nur ein Traum, ein Ideal, das es nun einmal nicht gebe. Auch und gerade für ihn nicht. Uneingeschränkte Freiheit sei was für Anarchisten. Im Chaos wolle er doch wohl nicht versinken? Oder?
Warum eigentlich nicht?
Hasler war ziemlich sicher, die falschen Freunde zu haben, doch da er pflichtgemäß zur Vernunft neigt, war er diesen Realisten dankbar für ihre lebenswichtigen Erkenntnisse.
Erich, sein bester Freund, mit dem er schon zur Schule ging, kam im Alter von 31 Jahren bei einem Verkehrsunfall um.
Nach der Schulzeit trafen sie sich seltener aber immer noch oft genug, um manches tiefer gehende Gespräch zu führen. Und am Ende fast aller Gespräche behauptete Erich, die Kindheit sterbe bei viele zuerst, aber bei allen zuletzt.
Nachts prallte Erichs VW-Käfer gegen einen Alleebaum, eine gut hundertjährige Linde. Erich hatte versucht, einen Laster in einer durchaus übersichtlichen Kurve zu überholen. Allein er fuhr zu schnell.
Hasler überlebte auf dem Beifahrersitz. Sie waren beide eingeklemmt. Erich starb neben ihm sah am Ende seinen Freund noch einmal lächelnd an, stöhnte laut auf und starb.
Sie wurden von Feuerwehrleuten aus dem VW herausgeschnitten. Erich tot und Hasler mit einem einfachen Beinbruch, ein paar Schürfwunden und einem Schleudertrauma.
Wenn er seine besonders realistischen Freunde mit ergrübelten Sprüchen wie, die vernünftigste Fähigkeit des Menschen ist seine Neigung zur Unvernunft, zu widerlegen versucht, bleiben die unbeeindruckt bei ihrer vermeintlichen Vernunft. Hasler blieben die Zweifel, bohren immer größere Löcher und Abflüsse, in denen Pflichten ins Nichts verschwinden.
Seit Jahren träumt er bei Tag vom Haus am Meer, sieht aus dem Fenster über jenen Horizont hinaus, der als Grenzlinie ohne jede Chance ist, wenn sich das Blau des Wassers mit dem des Himmels mischen. Dahinten würde er gern von einem Schiff ins Wasser springen.
Leider sind Häuser am Meer mit dem Gehalt eines Versicherungsvertreters nicht zu finanzieren, selbst, wenn der seinen Kunden noch so viele Policen aufschwatzt. Und zur Kreditaufnahme neigt Hasler nicht, da er die Abhängigkeit von Geldgebern fürchtet. Kredite zurückzuzahlen, wäre ihm eine der lästigsten Pflichten.
Dennoch ist er sicher, irgendwann den freien Zugang zum grenzenlosen Glück zu finden.
Spätestens, wenn er als Rentner die pflichtenreiche Arbeitswelt in gut fünf Jahren verlässt, wird er sich für den Rest seines Lebens manche Freiheit herausnehmen.
Wenn die Sonne nur kurz aus dem Meer steigt, um sofort wieder in dunkelgrauen Wolken zu verschwinden und es in Strömen zu regnen beginnt, schreibt er sich ermutigende Parolen ins Tagebuch und murmelt gebetsmühlenartig: „Gelassen selbstbewusst nehme ich mir Raum, Zeit und Kontakte. Gelassen selbstbewusst nehme ich mir Raum, Zeit und Kontakte. Gelassen selbstbewusst…“
Vor Jahren ergrübelte sich sein Hirn diesen Satz. Seitdem bildet Hasler sich ein, die Beschwörungsformel könne ihm zum Eintritt in die Freiheit verhelfen.
Doch sobald Herbert Hasler nach dem Frühstück seine Stadtwohnung in der vierten Etage verlässt und zögernd aus der Haustür tritt, überfällt ihn das Gefühl, sich unter Gefangenen und Aufsehern zu bewegen. Auf der Straße und im Büro warten ausschließlich Pflichtgesichter. Nach Mitternacht schlafen die meisten Pflichtgesichter.
Zum Glück hat auch seine Frau einen festen Schlaf. Heute nacht kurz vor drei Uhr wird er unbemerkt aufstehen, sich im Wohnzimmer anziehen und ins Treppenhaus schleichen. Zwischen dem zweiten und ersten Stock begegnet ihm Nachbar Ferdinand Reimers aus dem fünften Stock und atmet ihm die übliche Alkoholfahne entgegen, bleibt stehen, schwankt und lallt, an den Handlauf des Geländers gekrallt: „Gute Nacht, Herr Nachbar“. Hasler nimmt an Stelle des Fahrstuhls zwei Stufen auf einmal abwärts.
Die Haustür fällt hinter ihm ins Schloss. Er atmet feuchte Nachtluft ein. Sie beruhigt ihn. Ohne zu überlegen, geht er links in die Straße, die aus der Stadt herausführt, winkt einem Taxi und setzt sich auf den Beifahrersitz.
Der schnurrbärtige türkische Fahrer grinst ihn von der Seite an. „Wohin?“
„Weiß nicht!“
„Rundfahrt?“
„Nein, weg! Einfach nur weg!“
„Krach mit Frau? Hast geklaut. Musst du abhauen?“
Hasler schüttelt den Kopf. „Muss einfach weg! Am liebsten ans Meer.“
Der Fahrer überlegt. „Sind ungefähr 350 Kilometer. Kostet viel.“
„Egal!“
Der Türke guckt Hasler kurz von der Seite an und gibt Gas. Sie sind schnell auf dem Autobahnzubringer. Ohne nachzufragen nimmt der Fahrer die Auffahrt in Richtung Bremen.
Plötzlich räuspert er sich laut. „Komme auch vom Meer. Muss immer zurück. Einmal im Jahr fahr ich in die Türkei. Adana… große Stadt am Mittelmeer.“ Er lacht.
Nach einer Stunde hält er an einer Raststätte. Drinnen setzen sie sich in eine Ecke an einen mit Plastiktischtücher gedeckten Tisch und bestellen je einen Kaffee.
Schweigend, die Ellenbogen aufgestützt, sitzt der Türke Hasler gegenüber. In regelmäßigen Abständen nippen sie fast gleichzeitig an ihren Kaffeebechern.
Auf einmal schüttelte der Türke sich. „Baahh! Deutscher Kaffee schmeckt nach Süßwasser. Bin Salzwasser gewöhnt, mag nicht in Chlor-Süßwasser-Becken baden.“
Hasler nickt. „ Wer Sturm kennt, kann mit lauem Wind nix anfangen.“
Der Fahrer schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und lacht schallend. Hohl kriecht Echo aus dem unbesetzten Gastraum zu ihnen zurück. Die blondierte Frau hinter der Theke sieht erschrocken herüber, ordnet ihre langen Haare und lacht mit.
Hasler winkt sie heran. „Wollen Sie mit. Ans Meer. Ist doch besser als auf unzufriedene Gäste zu warten.“
Sie lacht, schiebt ihren ansehnlichen Busen zurecht und legt Hasler die linke Hand auf die Schulter. „Brauche dringend Luftveränderung. Is gut für meine Bronchien. Hab in letzter Zeit öfter Herzstiche, immer wenn keine Gäste kommen.“
Sie geht zur Theke, verschwindet hinter einer weißen Tür mit der Aufschrift „Nur für Personal“ und erscheint kurz darauf in einer roten Jacke, die nicht ganz zum Rot ihres weiten Rocks passt. In der rechten Hand trägt sie eine prall gefüllte rote Einkaufstasche, die wiederum nicht zum Rot der Jacke passen will. „Hab uns was zum Essen eingepackt.“
Hasler will den Kaffee bezahlen.
Sie winkt ab. „Geht aufs Haus.“
Mit der rechten Hand weist sie dem Fahrer und Hasler den Weg zum Ausgang, löscht das Licht und schiebt sie aus der Tür. Es ist kälter geworden.
Auf dem Rücksitz des Taxis macht sie es sich sofort bequem, legt die Beine hoch und schließt die Augen. „Wenn wir am Meer sind, weckt ihr mich? Ich heiße übrigens Jana.“
Der Taxifahrer setzt sich hinter sein Lenkrad, kratzt sich den Schnurrbart und reibt beide Hände an seinen Jeans trocken. „Dauert zwei Stunden. Heiße Mehmet.“ Er gibt Gas. Fährt schneller als vorher. Die Autoscheinwerfer breiten ihren asymetrischen Lichtkegel auf der hellgrauen Fahrbahndecke aus und holen weiße Markierungsstreifen aus dem Dunkel.
Herbert starrt durch die Windschutzscheibe. Immer öfter fallen ihm die Augen zu und sein auf die Brust sinkender Kopf lässt ihn jedes Mal hoch schrecken.
Der Fahrer boxt Hasler in die Seite. „Nix einschlafen. Mit der Lenkung stimmt was nicht!“
Das Lenkrad flattert. Hasler sieht auf die Uhr im Armaturenbrett. Es ist halbfünf.
Auf dem Standstreifen neben einer Notrufsäule kommt das Taxi zum Stehen. Der Türke steigt aus, betrachtet beide Vorderreifen, bückt sich neben dem rechten, steht wieder auf und hebt beide Arme. Ich öffne die Tür. „Reifen ist fast platt.“
Jana wird wach. „Wo sind wir? Schon am Meer?“
„Wir haben einen Platten.“
Jana und Hasler steigen aus. Es nieselt. Lichter Wind weht ihm ihren Geruch zu. Schweres Parfüm, Schlaf und Kneipe.
Sie zittert frierend. Hasler zögert, nimmt sie dann in den Arm. Sie schmiegt sich an ihn. Der Türke, der neben dem platten Reifen kniet, blickt zu beiden hoch und grinst. Zwei Lastwagen fahren mit überhöhter Geschindigkeit vorbei. Fahrtwind bläht Janas weiten roten Rock auf. Sie lacht. Ein Mercedes vermindert die Geschwindigkeit und hält vor ihnen auf dem Standstreifen. Ein jüngerer Mann mit Baseballmütze steigt aus, kommt auf sie zu. Ob er helfen könne.
Der Türke winkt ab. „Nur Reifenpanne. Habe alles dabei, auch Reserve-Rad. Danke, danke!“
Die Arme hoch werfend dreht der Mercedesfahrer ab, steigt in seinen Wagen und fährt in die Dunkelheit.
Nach einer guten halben Stunden haben der Türke und Hasler das Reserverad montiert. Jana wollte helfen. „Ich hab nen Pannenkurs für Frauen.“ Sie lehnten dankend ab.
An der nächsten Raststätte hält der Türke, um sich die Hände zu waschen. Hasler begleitet ihn. Als sie gemeinsam am Waschbecken stehen, grinst der Türke. „Habt ihr was vor?
„Wie, was meinst du?“
Er grinst weiter. „Naja,ist doch nicht hässlich, die Jana. Können hier übernachten. Die Raststätte ist auch Hotel.“
„Neh, ich will ans Meer. Da kann sich immer noch was entwickeln.“
Als sie zum Taxi zurückkehren, taucht Janas blonder Kopf hinter der Sitzlehne auf. Sie greift sich an die Brust und atmet tief ein. „Hab Herzstiche. Hoffentlich sind wir bald an der Küste.“
Der Türke biegt auf die Autobahn Richtung Oldenburg und dreht sich zu Jana um. „Sind in einer Stunde in Ostfriesland.“
Sie setzt sich hin. „Mein Vater hat auf ner Werft in Emden gearbeitet. Schiffbau. Hab manchmal beim Stapellauf mit ihm auf der Kommandobrücke gestanden. Wenn das Schiff ins Wasser zu gleiten begann, zeigte er immer mit dem Finger nach vorn. „Guck genau hin… Kannst die Freiheitsstatue von New York sehen? Kannst sie nur sehen, bis das Schiff richtig im Wasser schwimmt. Um sie danach zu sehen, musst du schon übern Atlantik fahren“
Hasler lacht. „Und? Hast du sie gesehen?“
„Ich meine schon. Mein Vater wollte eigentlich in die Staaten auswandern. Meine Mutter

nicht. Konnte sich nicht vorstellen, Amerikanisch zu lernen.“

Hasler lächelt Jana an. „Ich habe immer Fernweh. War bisher nur in Europa. Mein Großvater, der wollte auch nach Amerika. In den zwanziger Jahren. Über Bremerhafen. Meine Oma aber konnte sich nicht vorstellen, ihre Mutter zu verlassen. Walter, der Sohn meiner Großeltern fiel 1939 in Polen, kurz nachdem Hitler dort den Krieg anfing. Mein Opa machte meiner Oma keine Vorwürfe. Sein Sohn hätte ja auch in Amerika eingezogen werden können, um in Deutschland zu kämpfen und es zu besetzen. Und dabei hätte er auch – sogar durch eine deutsche Kugel fallen können. Mein Opa wurde depressiv, klagte über Herzstiche. Starb an Lungenkrebs.“
Jana riss ihre müden Augen auf. „Sag ihm, er soll langsamer fahren! In Amerika müssen Autofahrer besonders auf Kinder achten.“ Ihre Tränen laufen, einfach so, tropfen milchig von ihren Wangen. Hasler gibt ihr sein Taschentuch. „Ist frisch gewaschen.“
Der Türke geht mit der Geschwindigkeit runter und biegt von der Autobahn auf eine zweispurige Straße ab. „Dreissig Kilometer, dann sind wir in Norddeich.“
Hasler dreht sich wieder zu Jana um. Sie hat rote Augen. Ihr Make up ist verschmiert. „Gehst du gleich mit mir auf den Deich. Ich will den Sonnenaufgang sehen.“
Der Türke murmelt vor sich hin: „Gerade wenns hell wird, sind wir da! Kann mit dem Sonnenaufgang klappen. Ich komm mit auf den Deich, such mir dann ein Zimmer und hau mich aufs Ohr.“
Sie verlassen die breite Straße und biegen in eine sehr schmale ein. Rechts und links Weidezäune mit Stacheldraht. Auf dem Gras am Straßenrand glitzert Raureif.
„Da rechts geht es auf den Deich.“ Sie fahren ein kurzes Stück bergauf direkt auf ein breites Tor zu. Zwei Schafe, den Kopf durch die Torsprossen gesteckt, starren sie vom Scheinweferlicht geblendet an.
Der Türke hält direkt vor dem Tor. Hasler wischt mit dem Pullover-Ärmel die beschlagene Seitenscheibe ab. “Kannst du Wasser sehn?“
Hasler schüttelt den Kopf. „Wahrscheinlich haben wir Ebbe!“
„Neh, neh, da unten ist Wasser.“ Hasler stößt die Tür auf. Der Wind drückt ihm die Tür wieder zu.
Er stemmt sich gegen Tür und den Wind und friert. Jana steigt aus, gibt Hasler das Taschentuch zurück und lehnt sich an ihn. Vorsichtig legt er den Arm um sie und sie ihren Kopf auf seine Schulter. „Halt mich fest, aber halte mich nicht fest.“ murmelt sie und drückt ihn behutsam von sich weg.
Glutrot steigt die Sonne aus dem Meer. Ihr oberer Rand verschwindet hinter einer grauen Wolkenschicht.
Der Türke war im Auto sitzen geblieben und kurbelt die Scheibe herunter. „Sonnenaufgänge sind Hoffnung…! Die Sonne nimmt euren Wunsch mit in den Tag.“
„Freiheit…“ sagt Jana zitternd und schiebt Hasler noch ein wenig weiter weg. „Ihr könnt jetzt fahren. Ich bleibe.“
„Ich auch.“ Will Hasler sagen, schweigt und versucht noch einmal, sie in den Arm zu nehmen. Sie wehrt ihn ab.
Wortlos geht Herbert Hasler um das Taxi herum zur Beifahrertür und steigt ein.
Der Türke tätschelt seinen Arm. „Deutsche Frauen wollen immer nur Freiheit.“
Hasler schüttelt den Kopf und fasst sich an die Brust. „Hab Herzstiche und friere. Fahr mich nach Hause.“
Der Türke sieht ihn an. „Und das Meer?
„…ist verdammt kalt um diese Jahreszeit. Wie die Freiheit. Ich sehe es mir noch mal an und nehme es mit…!“
 
Seit einigen Oktobertagen geht Herbert Hasler mit der Gewissheit ins Bett, am nächsten Morgen einen regenwolkengrauen Herbst-Himmel hinter der schlecht geputzten Scheibe seines Eheschlafzimmerfensters zu entdecken. So zieht er abends die Bettdecke über den Kopf, vor allem, wenn am nächsten Tag unaufschiebbare Pflichttermine bei Lebensversicherungsnehmern auf ihn warten. Und solche Termine erwarten ihn immer.
Hasler hasst seine Kunden. Meistens lesen sie das Kleingedruckte im Vertrag nicht. Wollen sie doch mit Versicherungsabschluss Sicherheiten für ihr möglichst endloses Leben einkaufen, und nicht eine Versicherung, die durch Klauseln eingeschränkt, was ihnen lebenswert erscheint. Will die Versicherungsgesellschaft nicht zahlen, beschimpfen sie Herbert Hasler. Oft und heftig, denn irgendjemand muss doch Verantwortung für das Glück in ihrem Leben übernehmen.
Hasler erlaubt sich inzwischen die Freiheit, der verantwortungslose Feigling zu sein, der er ist, und meldet sich häufiger telefonisch bei der Bezirksdirektion krank, besonders, wenn aggressiv-ängstliche Kunden auf ihn warten. Nach dem Telefonat leidet er dann tatsächlich an Magenschmerzen oder Herzstichen und legt sich ins Bett.
Konnte er früher sofort die Augen schließen und erst einmal eine Weile schlafen, kann er in den letzten Jahren, zu welcher Tag- oder Nachtzeit er es auch versucht, kaum noch einschlafen. Ihm drohen Träume, in denen er zu Tode kommt, durch Selbstmord, Mord, Verkehrsunfälle oder durch Sturz aus einem Hochhausfenster. Und schlief er ein und erwachte aus seinem Traum, ärgerte er sich auch noch, überlebt zu haben. Eigentlich findet er es tröstlich, dass alles wie warmes Wasser in seiner Duschkabine auf ein Ende und den geöffneten Abfluss zufließt. Doch es gibt Tage, da steht er nicht einmal mehr zum Duschen auf. Seine Frau, die nur halbtags arbeitet, versorgt ihn am Nachmittag mit Nahrung und er verlässt das Bett nur, um verdaute Nahrungsreste der Kanalisation zu überlassen.
Er fühlt sich müde, verlogen, überflüssig, lustlos, sehnt sich nach Licht, Wärme, Klarheit, Weite. Und je mehr er sich sehnt, desto mehr fließt unter ihm weg, desto enger, kälter, diffuser, dunkler wird es um ihn herum.
Gleich wird er wieder vergeblich versuchen, schnellstens einzuschlafen und nicht zu träumen. Sollte es ihm gelingen, wacht er spätestens nach ein paar Stunden auf. Nachts gegen drei Uhr passiert es ihm garantiert. Sein Hirn beginnt sich Gedanken zu machen. Gedanken, die sich, ohne dass er sie daran hindern kann, unaufhaltsam zu Ketten aneinanderreihen. Mühelos erarbeitet das Hirn ihm philosophische Erkenntnisse, die ihn nicht schlafen lassen.
Natürlich bot Elke, seine Frau, ihm an, sie jederzeit wecken zu dürfen, um ihn durch Reden aus diesen Gedankenketten zu befreien. Doch Elke hatte einen festen Schaf. Und was sollte er ihr erzählen? Dass sein Hirn Liebe für eine unbesiegbare Macht hält, die sofort ihre Macht verliert, wenn er absichtlich mit ihr Macht ausüben will. Elke würde kaum mitten in der Nacht verstehen, warum der Kampf um Freiheit heiß, Freiheit aber kalt ist.
Da denkt er lieber allein weiter. An Pflicht und an Kür. Auch so ein Paar wie Liebe und Macht. Pflichterfüllung wurde Herbert zum einzig sinnvollen Lebensinhalt und sinnvolles Leben zur unvermeidlichen Pflicht. Höchstwahrscheinlich Folgen urdeutscher Erziehung, da seine Eltern ihr Leben, vor allem in Kriegs- und Nachkriegszeiten nicht gerade für eine Lust hielten. Hasler hätte und hatte größte Lust zu pflichtvergessenem Unsinn.
Je pflichtbewusster er sich im Laufe seines 59-jährigen Lebens gab, desto mehr sehnte er sich nach jener unvernünftigen Freiheit, allein zu entscheiden, was, wie und ob er überhaupt leben möchte, auch auf die Gefahr hin, falsch zu entscheiden.
Natürlich musste er sich von selbst ernannten Realisten unter seinen Freunden anhören, die absolute Freiheit sei nur ein Traum, ein Ideal, das es nun einmal nicht gebe. Auch und gerade für ihn nicht. Uneingeschränkte Freiheit sei was für Anarchisten. Im Chaos wolle er doch wohl nicht versinken? Oder?
Warum eigentlich nicht?
Hasler war ziemlich sicher, die falschen Freunde zu haben, doch da er pflichtgemäß zur Vernunft neigt, war er diesen Realisten dankbar für ihre lebenswichtigen Erkenntnisse.
Erich, sein bester Freund, mit dem er schon zur Schule ging, kam im Alter von 31 Jahren bei einem Verkehrsunfall um.
Nach der Schulzeit trafen sie sich seltener aber immer noch oft genug, um manches tiefer gehende Gespräch zu führen. Und am Ende fast aller Gespräche behauptete Erich, die Kindheit sterbe bei viele zuerst, aber bei allen zuletzt.
Nachts prallte Erichs VW-Käfer gegen einen Alleebaum, eine gut hundertjährige Linde. Erich hatte versucht, einen Laster in einer durchaus übersichtlichen Kurve zu überholen. Allein er fuhr zu schnell.
Hasler überlebte auf dem Beifahrersitz. Sie waren beide eingeklemmt. Erich starb neben ihm sah am Ende seinen Freund noch einmal lächelnd an, stöhnte laut auf und starb.
Sie wurden von Feuerwehrleuten aus dem VW herausgeschnitten. Erich tot und Hasler mit einem einfachen Beinbruch, ein paar Schürfwunden und einem Schleudertrauma.
Wenn er seine besonders realistischen Freunde mit ergrübelten Sprüchen wie, die vernünftigste Fähigkeit des Menschen ist seine Neigung zur Unvernunft, zu widerlegen versucht, bleiben die unbeeindruckt bei ihrer vermeintlichen Vernunft. Hasler blieben die Zweifel, bohren immer größere Löcher und Abflüsse, in denen Pflichten ins Nichts verschwinden.
Seit Jahren träumt er bei Tag vom Haus am Meer, sieht aus dem Fenster über jenen Horizont hinaus, der als Grenzlinie ohne jede Chance ist, wenn sich das Blau des Wassers mit dem des Himmels mischen. Dahinten würde er gern von einem Schiff ins Wasser springen.
Leider sind Häuser am Meer mit dem Gehalt eines Versicherungsvertreters nicht zu finanzieren, selbst, wenn der seinen Kunden noch so viele Policen aufschwatzt. Und zur Kreditaufnahme neigt Hasler nicht, da er die Abhängigkeit von Geldgebern fürchtet. Kredite zurückzuzahlen, wäre ihm eine der lästigsten Pflichten.
Dennoch ist er sicher, irgendwann den freien Zugang zum grenzenlosen Glück zu finden.
Spätestens, wenn er als Rentner die pflichtenreiche Arbeitswelt in gut fünf Jahren verlässt, wird er sich für den Rest seines Lebens manche Freiheit herausnehmen.
Wenn die Sonne nur kurz aus dem Meer steigt, um sofort wieder in dunkelgrauen Wolken zu verschwinden und es in Strömen zu regnen beginnt, schreibt er sich ermutigende Parolen ins Tagebuch und murmelt gebetsmühlenartig: „Gelassen selbstbewusst nehme ich mir Raum, Zeit und Kontakte. Gelassen selbstbewusst nehme ich mir Raum, Zeit und Kontakte. Gelassen selbstbewusst…“
Vor Jahren ergrübelte sich sein Hirn diesen Satz. Seitdem bildet Hasler sich ein, die Beschwörungsformel könne ihm zum Eintritt in die Freiheit verhelfen.
Doch sobald Herbert Hasler nach dem Frühstück seine Stadtwohnung in der vierten Etage verlässt und zögernd aus der Haustür tritt, überfällt ihn das Gefühl, sich unter Gefangenen und Aufsehern zu bewegen. Auf der Straße und im Büro warten ausschließlich Pflichtgesichter. Nach Mitternacht schlafen die meisten Pflichtgesichter.
Zum Glück hat auch seine Frau einen festen Schlaf. Heute nacht kurz vor drei Uhr wird er unbemerkt aufstehen, sich im Wohnzimmer anziehen und ins Treppenhaus schleichen. Zwischen dem zweiten und ersten Stock begegnet ihm Nachbar Ferdinand Reimers aus dem fünften Stock und atmet ihm die übliche Alkoholfahne entgegen, bleibt stehen, schwankt und lallt, an den Handlauf des Geländers gekrallt: „Gute Nacht, Herr Nachbar“. Hasler nimmt an Stelle des Fahrstuhls zwei Stufen auf einmal abwärts.
Die Haustür fällt hinter ihm ins Schloss. Er atmet feuchte Nachtluft ein. Sie beruhigt ihn. Ohne zu überlegen, geht er links in die Straße, die aus der Stadt herausführt, winkt einem Taxi und setzt sich auf den Beifahrersitz.
Der schnurrbärtige türkische Fahrer grinst ihn von der Seite an. „Wohin?“
„Weiß nicht!“
„Rundfahrt?“
„Nein, weg! Einfach nur weg!“
„Krach mit Frau? Hast geklaut. Musst du abhauen?“
Hasler schüttelt den Kopf. „Muss einfach weg! Am liebsten ans Meer.“
Der Fahrer überlegt. „Sind ungefähr 350 Kilometer. Kostet viel.“
„Egal!“
Der Türke guckt Hasler kurz von der Seite an und gibt Gas. Sie sind schnell auf dem Autobahnzubringer. Ohne nachzufragen nimmt der Fahrer die Auffahrt in Richtung Bremen.
Plötzlich räuspert er sich laut. „Komme auch vom Meer. Muss immer zurück. Einmal im Jahr fahr ich in die Türkei. Adana… große Stadt am Mittelmeer.“ Er lacht.
Nach einer Stunde hält er an einer Raststätte. Drinnen setzen sie sich in eine Ecke an einen mit Plastiktischtücher gedeckten Tisch und bestellen je einen Kaffee.
Schweigend, die Ellenbogen aufgestützt, sitzt der Türke Hasler gegenüber. In regelmäßigen Abständen nippen sie fast gleichzeitig an ihren Kaffeebechern.
Auf einmal schüttelte der Türke sich. „Baahh! Deutscher Kaffee schmeckt nach Süßwasser. Bin Salzwasser gewöhnt, mag nicht in Chlor-Süßwasser-Becken baden.“
Hasler nickt. „ Wer Sturm kennt, kann mit lauem Wind nix anfangen.“
Der Fahrer schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und lacht schallend. Hohl kriecht Echo aus dem unbesetzten Gastraum zu ihnen zurück. Die blondierte Frau hinter der Theke sieht erschrocken herüber, ordnet ihre langen Haare und lacht mit.
Hasler winkt sie heran. „Wollen Sie mit. Ans Meer. Ist doch besser als auf unzufriedene Gäste zu warten.“
Sie lacht, schiebt ihren ansehnlichen Busen zurecht und legt Hasler die linke Hand auf die Schulter. „Brauche dringend Luftveränderung. Is gut für meine Bronchien. Hab in letzter Zeit öfter Herzstiche, immer wenn keine Gäste kommen.“
Sie geht zur Theke, verschwindet hinter einer weißen Tür mit der Aufschrift „Nur für Personal“ und erscheint kurz darauf in einer roten Jacke, die nicht ganz zum Rot ihres weiten Rocks passt. In der rechten Hand trägt sie eine prall gefüllte rote Einkaufstasche, die wiederum nicht zum Rot der Jacke passen will. „Hab uns was zum Essen eingepackt.“
Hasler will den Kaffee bezahlen.
Sie winkt ab. „Geht aufs Haus.“
Mit der rechten Hand weist sie dem Fahrer und Hasler den Weg zum Ausgang, löscht das Licht und schiebt sie aus der Tür. Es ist kälter geworden.
Auf dem Rücksitz des Taxis macht sie es sich sofort bequem, legt die Beine hoch und schließt die Augen. „Wenn wir am Meer sind, weckt ihr mich? Ich heiße übrigens Jana.“
Der Taxifahrer setzt sich hinter sein Lenkrad, kratzt sich den Schnurrbart und reibt beide Hände an seinen Jeans trocken. „Dauert zwei Stunden. Heiße Mehmet.“ Er gibt Gas. Fährt schneller als vorher. Die Autoscheinwerfer breiten ihren asymetrischen Lichtkegel auf der hellgrauen Fahrbahndecke aus und holen weiße Markierungsstreifen aus dem Dunkel.
Herbert starrt durch die Windschutzscheibe. Immer öfter fallen ihm die Augen zu und sein auf die Brust sinkender Kopf lässt ihn jedes Mal hoch schrecken.
Der Fahrer boxt Hasler in die Seite. „Nix einschlafen. Mit der Lenkung stimmt was nicht!“
Das Lenkrad flattert. Hasler sieht auf die Uhr im Armaturenbrett. Es ist halbfünf.
Auf dem Standstreifen neben einer Notrufsäule kommt das Taxi zum Stehen. Der Türke steigt aus, betrachtet beide Vorderreifen, bückt sich neben dem rechten, steht wieder auf und hebt beide Arme. Ich öffne die Tür. „Reifen ist fast platt.“
Jana wird wach. „Wo sind wir? Schon am Meer?“
„Wir haben einen Platten.“
Jana und Hasler steigen aus. Es nieselt. Lichter Wind weht ihm ihren Geruch zu. Schweres Parfüm, Schlaf und Kneipe.
Sie zittert frierend. Hasler zögert, nimmt sie dann in den Arm. Sie schmiegt sich an ihn. Der Türke, der neben dem platten Reifen kniet, blickt zu beiden hoch und grinst. Zwei Lastwagen fahren mit überhöhter Geschindigkeit vorbei. Fahrtwind bläht Janas weiten roten Rock auf. Sie lacht. Ein Mercedes vermindert die Geschwindigkeit und hält vor ihnen auf dem Standstreifen. Ein jüngerer Mann mit Baseballmütze steigt aus, kommt auf sie zu. Ob er helfen könne.
Der Türke winkt ab. „Nur Reifenpanne. Habe alles dabei, auch Reserve-Rad. Danke, danke!“
Die Arme hoch werfend dreht der Mercedesfahrer ab, steigt in seinen Wagen und fährt in die Dunkelheit.
Nach einer guten halben Stunden haben der Türke und Hasler das Reserverad montiert. Jana wollte helfen. „Ich hab nen Pannenkurs für Frauen.“ Sie lehnten dankend ab.
An der nächsten Raststätte hält der Türke, um sich die Hände zu waschen. Hasler begleitet ihn. Als sie gemeinsam am Waschbecken stehen, grinst der Türke. „Habt ihr was vor?
„Wie, was meinst du?“
Er grinst weiter. „Naja,ist doch nicht hässlich, die Jana. Können hier übernachten. Die Raststätte ist auch Hotel.“
„Neh, ich will ans Meer. Da kann sich immer noch was entwickeln.“
Als sie zum Taxi zurückkehren, taucht Janas blonder Kopf hinter der Sitzlehne auf. Sie greift sich an die Brust und atmet tief ein. „Hab Herzstiche. Hoffentlich sind wir bald an der Küste.“
Der Türke biegt auf die Autobahn Richtung Oldenburg und dreht sich zu Jana um. „Sind in einer Stunde in Ostfriesland.“
Sie setzt sich hin. „Mein Vater hat auf ner Werft in Emden gearbeitet. Schiffbau. Hab manchmal beim Stapellauf mit ihm auf der Kommandobrücke gestanden. Wenn das Schiff ins Wasser zu gleiten begann, zeigte er immer mit dem Finger nach vorn. „Guck genau hin… Kannst die Freiheitsstatue von New York sehen? Kannst sie nur sehen, bis das Schiff richtig im Wasser schwimmt. Um sie danach zu sehen, musst du schon übern Atlantik fahren“
Hasler lacht. „Und? Hast du sie gesehen?“
„Ich meine schon. Mein Vater wollte eigentlich in die Staaten auswandern. Meine Mutter

nicht. Konnte sich nicht vorstellen, Amerikanisch zu lernen.“

Hasler lächelt Jana an. „Ich habe immer Fernweh. War bisher nur in Europa. Mein Großvater, der wollte auch nach Amerika. In den zwanziger Jahren. Über Bremerhafen. Meine Oma aber konnte sich nicht vorstellen, ihre Mutter zu verlassen. Walter, der Sohn meiner Großeltern fiel 1939 in Polen, kurz nachdem Hitler dort den Krieg anfing. Mein Opa machte meiner Oma keine Vorwürfe. Sein Sohn hätte ja auch in Amerika eingezogen werden können, um in Deutschland zu kämpfen und es zu besetzen. Und dabei hätte er auch – sogar durch eine deutsche Kugel fallen können. Mein Opa wurde depressiv, klagte über Herzstiche. Starb an Lungenkrebs.“
Jana riss ihre müden Augen auf. „Sag ihm, er soll langsamer fahren! In Amerika müssen Autofahrer besonders auf Kinder achten.“ Ihre Tränen laufen, einfach so, tropfen milchig von ihren Wangen. Hasler gibt ihr sein Taschentuch. „Ist frisch gewaschen.“
Der Türke geht mit der Geschwindigkeit runter und biegt von der Autobahn auf eine zweispurige Straße ab. „Dreissig Kilometer, dann sind wir in Norddeich.“
Hasler dreht sich wieder zu Jana um. Sie hat rote Augen. Ihr Make up ist verschmiert. „Gehst du gleich mit mir auf den Deich. Ich will den Sonnenaufgang sehen.“
Der Türke murmelt vor sich hin: „Gerade wenns hell wird, sind wir da! Kann mit dem Sonnenaufgang klappen. Ich komm mit auf den Deich, such mir dann ein Zimmer und hau mich aufs Ohr.“
Sie verlassen die breite Straße und biegen in eine sehr schmale ein. Rechts und links Weidezäune mit Stacheldraht. Auf dem Gras am Straßenrand glitzert Raureif.
„Da rechts geht es auf den Deich.“ Sie fahren ein kurzes Stück bergauf direkt auf ein breites Tor zu. Zwei Schafe, den Kopf durch die Torsprossen gesteckt, starren sie vom Scheinweferlicht geblendet an.
Der Türke hält direkt vor dem Tor. Hasler wischt mit dem Pullover-Ärmel die beschlagene Seitenscheibe ab. “Kannst du Wasser sehn?“
Hasler schüttelt den Kopf. „Wahrscheinlich haben wir Ebbe!“
„Neh, neh, da unten ist Wasser.“ Hasler stößt die Tür auf. Der Wind drückt ihm die Tür wieder zu.
Er stemmt sich gegen Tür und den Wind und friert. Jana steigt aus, gibt Hasler das Taschentuch zurück und lehnt sich an ihn. Vorsichtig legt er den Arm um sie und sie ihren Kopf auf seine Schulter. „Halt mich fest, aber halte mich nicht fest.“ murmelt sie und drückt ihn behutsam von sich weg.
Glutrot steigt die Sonne aus dem Meer. Ihr oberer Rand verschwindet hinter einer grauen Wolkenschicht.
Der Türke war im Auto sitzen geblieben. Er kurbelt die Scheibe herunter und lacht. „Sonnenaufgänge sind Hoffnung…! Die Sonne nimmt euren Wunsch mit in den Tag.“
„Freiheit…“ sagt Jana zitternd und schiebt Hasler noch ein wenig weiter weg. „Ihr könnt jetzt fahren. Ich nehme die nächste Fähre nach Norderney. Da, in der Gastronomie werde ich mit Sicherheit eine Stelle finden. Gäste gibt es immer wieder. Und solche die für kurze Zeit offene Arme suchen, auch.“
Hasler schweigt und versucht, sie noch einmal in den Arm zu nehmen. Sie wehrt ihn ab.
Er will gehen.
„Warte.“ Jana hält ihn am Ärmel fest. „Ich dachte, du würdest auch die Freiheit suchen.“
Hasler nickt, geht wortlos um das Taxi herum zur Beifahrertür und steigt ein.
Der Türke tätschelt seinen Arm. „Deutsche Frauen wollen immer nur Freiheit, Freiheit, Freiheit.“
Hasler schüttelt den Kopf und fasst sich an die Brust. „Hab Herzstiche und friere. Fahr los.“
„Und das Meer?
„…ist verdammt kalt um diese Jahreszeit. Wie die Freiheit. Ich sehe es mir noch mal an und nehme es mit…!“
„Und wo willst du hinfahren?“
Hasler zuckt mit den Schultern. „Weiß nicht. Aber fahr!“
 



 
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