Heute ist ein guter Tag

4,20 Stern(e) 6 Bewertungen

Dorothea

Mitglied
Heute ist ein guter Tag, denn Rosa hat heute keinen Dienst. Rosa hält sich was darauf zugute, dass sie die Station stets im Griff hat. Außerdem kann sie jeden Patienten allein ins Bett oder hinaus befördern. Ihren letzten Griff habe ich noch tagelang gespürt, und Minuten hat es gedauert, bis die Schmerzen verebbt sind und ich wieder durch mein Augenwasser blinzeln konnte.
Olga hat heute Dienst. Sie bleibt bei jedem ein wenig stehen. Ihr Repertoire an ermunternden Worten scheint im Laufe der Jahre seine Erneuerungsfähigkeit verloren zu haben. Aber sie schaut Dich so an, dass du spürst, sie meint wirklich dich und nicht ihr Überich.
Heute ist ein guter Tag. Kein Feiertag, an dem die Verwandten einfallen wie die Fliegen, das Stationspersonal aufscheuchen, an allem herumnörgeln, um ihr schlechtes Gewissen abzureagieren, oder alles demonstrativ schön finden. Sie sind auch meist chronisch gekränkt, wenn ihre Liebesbeweise nicht genügend gewürdigt werden. Ihre Liebesbeweise stehen nach wenigen Tagen mit hängenden Köpfen auf den Fluren in den dekorativen Nischen. Kaum jemand hat Zeit sie regelmäßig zu gießen. Papa Jakob von nebenan wäre besser gedient mit ein paar zusätzlichen Windelhosen, aber darüber spricht er nicht mit seinen Besuchern.
Bei mir fällt schon lange niemand mehr ein. Frühere Freunde haben darauf verzichtet, ihrer unausweichlichen Zukunft allzu tief in die Augen zu sehen. Christus kommt auch nur einmal im Monat oder auf dringende Anforderung. Selbst er ist schließlich darauf angewiesen, dass ihn jemand in die Pflegestation bringt.
Aber heute ist ein guter Tag! Vor allem, weil ich das große Los gezogen hab im Glücksspiel um den richtigen Moment. Früher glaubte ich, es ist eine erlernbare Kunst, zum rechten Moment wohl präpariert am richtigen Ort zu sein. Heute weiß ich, dass du über die entscheidenden Dinge keine Kontrolle hast, wenn es darauf ankommt. Zum Beispiel die Kontrolle über deinen Stuhlgang. Hier gehörst Du zu den Kings, wenn Du regelmäßig wie ein Uhrwerk, einplanbar für den Pflegedienst, die große Entleerung haben kannst.
Bei mir kommt er, wann er will, und dann liege ich in der Scheiße. Ausgesprochenes Pech habe ich, wenn es zur falschen Zeit passiert. Wenn alle auf der Station die Hände voll zu tun haben – z.B. mit Essen eingeben. Dann kann es mehrere Stunden dauern. Früher habe ich mir solche Situationen gar nicht vorstellen können, und wenn, dann dachte ich, das größte Problem sei die Scham, wenn man um Hilfe bitten muss. Quatsch! Auch der Ekel ist es nicht. Das Brennen in den empfindlichen Bereichen und die Angst, ob die alte Stelle wieder aufgehen wird. Die Feigheit, die dich daran hindert nach einer Stunde ein zweites Mal zu läuten und für die du dich verachtest.
Aber heute ist ein guter Tag. Es passierte kurz vor dem Ende der Nacht. Wenn ich jetzt läute, dann kommt der Nachtdienst – beinahe sofort.
 

petrasmiles

Mitglied
Wer muss diesen Satz nicht in Anspruch für sich nehmen? Wenn nicht im Ignorieren der Freunde, dann zumindest im Ignorieren der Zukunft: "Frühere Freunde haben darauf verzichtet, ihrer unausweichlichen Zukunft allzu tief in die Augen zu sehen. "

Aber Verdrängen ist zwecklos. Danke für diesen Text, der einfach nur sagt, wie es ist.
Viele Grüße
Petra
 

Dorothea

Mitglied
Wie es ist, ist es skandalös

Hallo petrasmiles,

vielen Dank für das Lesen meines Textes. Du hast recht, Verdrängen hilft nicht. Aber Hinschauen alleine auch nicht. Ich wäre froh, wenn ich wüsste, wie man eine mächtige Lobby für eine enschenwürdige Pflege organisieren könnte. Eigentlich wird in absehbarer Zeit absolut jeder von der Problematiik betroffen sein! Aber da sind wir schon wieder beim Verdrängen.
 



 
Oben Unten