High noon

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monti

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High Noon

Das war damals in den Sechzigern, als es noch keine Videos gab. Papa hatte gekocht. Paprika-Huhn. Er rief „Wer Hunger hat, kommt sofort hierher zu mir“. Wir setzten uns zum Abendessen ins Wohnzimmer, nur Mama fehlte noch. Papa stellte das Werk seiner Kochkünste auf den Tisch, nahm die Schürze ab und setzte sich. Das Huhn roch wunderbar, wir hatten Hunger. Wo blieb nur wieder die Mama? Papa rieb sich die Hände und lachte, trank ein Schluck Bier und lachte wieder, dann wollte er anfangen und rief die Mama. Die kam, aber statt sich zu uns zu setzen, ließ sie sich auf dem Sofa vor den Fernseher nieder. Da verging Papa das Lachen. Es war klar - Mama wollte einen Western sehen.
„Läuft denn heute ein Western?“, rief Papa entgeistert.
„Ja, High-noon mit Gary Cooper“, sagte meine Schwester Nora. „Ich habe es vergessen, dir zu sagen.“
Papa seufzte und ließ seinen Kopf nach hinten sinken, und auch wir waren nicht begeistert, sondern hungrig. Ohne Mama bereitete uns das Essen nur die halbe Freude. Einmal in der Woche brauchte sie ihren Western, sonst war sie ungenießbar. Papa wusste, wenn der Fernseher beim Essen liefe, würden wir mit einem Auge dorthin schielen.
Papa sagte: „Das lassen wir uns nicht länger bieten.“ Er winkte uns zu sich, wir steckten die Köpfe zusammen. Wir, das sind Papa, meine beiden Schwestern und ich, der kleinste. Eins zwei drei und los. Wir stürzten auf Mama und trugen sie an den Tisch. Sie strampelte mit den Beinen, wehrte sich. Papa bekam einen Nasenstüber, Marion einen Knuff in die Seite und ich einen Hieb gegen den Ellbogen, der ganze Unterarm summte und war eine Zeitlang taub. Beinahe hätte ich losgeheult. Wir fesselten Mama an den Stuhl und begannen dann zu essen. Mit jedem zweiten Bissen fütterte Papa seine Gemahlin. Die aber spuckte den Bissen aus und schimpfte: „Gary Cooper hätte das nie getan!“ Da wurde Papa böse und zog Mama an den Haaren, bis sie kreischte. Es war nicht zum Aushalten, keinem schmeckte das Paprika-Huhn.
Am Ende band Papa sie los. Sie schaltete sofort den Fernseher ein. Uns blieb nichts anderes, als das Essen stehen zu lassen und den Film anzuschauen. Mama schwelgte in den Bildern, bekam feuchte Augen, wenn Gary Coopers Gesicht in Großaufnahme gezeigt wurde. Nach dem Film wurde das Essen aufgewärmt und neu serviert. Mama war jetzt so hungrig, dass sie uns fast alles wegaß. Und Papa schwor sich, von nun an das Fernsehprogramm zu studieren, bevor er kochte.
 

Pritt

Mitglied
:)

Habe gelacht :)
Schön diesen monotonen Stil durchgehalten, der an einen Schulaufsatz a la "Mein schlimmstes Ferienerlebnis erinnert".
Gruß ... Pritt
 



 
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