Himbeergelee

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para_dalis

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Ich deponiere Großvater im Schuppen, der wegen der riesigen Tannen, die meine Großeltern vor Jahrzehnten anpflanzten angenehm kühl ist, in der Absicht, die beginnende Verwesung aufzuhalten.
Ich setze ihn auf den unebenen Boden und lehne seinen Körper gegen den Hackklotz. Halb liegend, halb sitzend hockt er nun im Schuppen. Der Zeitpunkt, an dem ich sein Kinn hätte hochbinden müssen, war bereits verpasst. Das Gebiss meines Großvaters lag noch auf seinem Nachtschrank, so dass mir ein finsteres Loch entgegenbleckte.

Großmutter kocht währenddessen in der Küche Himbeergelee.

Vielleicht sollte ich Großvater zurück ins Maisfeld bringen. Eigentlich war er um diese Uhrzeit immer dort zu finden. Doch dann würden ihn die Kinder des Nachbarn entdecken. Erst neulich erwischte ich sie beim rumknutschen in eben diesem Feld. Auch mein Großvater hatte dort bereits geknutscht. Das muss gewesen sein, als er meine Großmutter kennen lernte und seinen Fischkutter verkaufte um mit ihr gemeinsam auf dem Land zu leben.
Er war zwar zu der Zeit kein Kind wie die Nachbarskinder mehr, doch nein, im Feld hatte mein toter Großvater wahrlich nichts zu suchen.
"Bring ihn in die Sickergrube!" ruft Großmutter aus der Küche.
"Geht nicht, ich könnte bemerkt werden. Der Schuppen ist nicht einsehbar, der Weg zur Sickergrube schon!"
"Wenn Großvater noch Fischer wäre...." höre ich Großmutter murmeln.
"Großvater ist aber nun nicht mehr an der Küste. Und Wasser, das ihn bedecken würde, gibt es hier auch nicht."
"So langsam wird die Zeit knapp. Es kann nicht mehr lange dauern, und die Leichenstarre wird einen Transport unmöglich machen! Was zögerst du denn? Bring ihn endlich aus meinem Schuppen!"
Großmutter rührt in dem roten Gelee. Ich sitze ratlos vor dem Schuppen und weiß nicht wohin mit meinen toten Großvater.
Hätte er beim Skat spielen nicht einfach tot umfallen können? Selbst im Tod versuchte er mir noch das Leben schwer zu machen. Warum hatte er sich auch wieder mit mir angelegt.
Er stand in der Küche und beschimpfte wiederholt meine Großmutter und als ich einschreiten wollte, auch mich. Und Großmutter wollte doch nichts weiter als Gelee kochen.
Großmutter hatte gelernt, mit der Situation umzugehen und reagierte kaum auf die Hasstiraden meines Großvaters. Sie bekam dann diesen Tunnelblick, den auch ich mir immer häufiger angewöhne. Tief in Gedanken versunken ihrer Verrichtung nachgehend, putzte, kochte oder wusch sie, sah dabei nicht nach links oder rechts und ließ Großvater einfach schimpfen. Später nahm Großvater meist seine große Schlachtermesser, holte das Freibank Fleisch aus der Kühltruhe, das er immer besonders preisgünstig vom Schlachthof ranschaffte und begab sich in den Keller um es zu Goulasch zu verarbeiten. Die geschnittenen Fleischstücke sahen aus wie abgemessen.
Kleine Würfelchen 2 mal 2 cm.
Bei ihm musste alles seine Ordnung haben, selbst das Brot maß er ab. Eine Hälfte für die Großmutter, eine Hälfte für sich. Großmutter gab mir von ihrer Hälfte, Großvater nicht. Egal ob Butter, Brot, Fleisch, Wurst oder Gemüse. Es gab alles genau rationiert und von Großvater zugeteilt.
Mutter war laut Erzählung meines Großvaters einfach abgehauen und hatte mich auf der Türschwelle abgelegt.
Spreche ich Großmutter auf ihre Tochter an, schießen ihr die Tränen in die Augen. Ich versuche Einzelheiten von Großvater zu erfahren, doch auch er möchte nichts davon hören oder gar darüber sprechen. Es gibt viele Dinge, die totgeschwiegen werden.
Ich glaube, ich war gerade zwölf oder dreizehn, als ich dazu kam, wie er voller Zorn auf dem Kästchen, indem meine Großmutter alle wichtigen Dokumente und Briefe aufbewahrte, herumtrampelte bis es so verbogen war, dass es nicht mehr zu öffnen ging.
Großmutter und ich mussten das wunderschöne Kästchen samt Inhalt wegwerfen und irgendwann stand an seiner Stelle auf der Anrichte eine neue Kiste. Grell gelb war sie und an Hässlichkeit kaum zu übertreffen. Natürlich hatte Großvater eine Aufbewahrungsbox mit mehreren Fächern gekauft. Großvater ging immer mit System vor. In jedes Fach gehörte eine bestimmte Sache. Ein Ordnungssystem, dem wir nichts entgegenzusetzen hatten.
Zum Beispiel sammelte Großvater Knöpfe. In allen Farben und Formen. Rote und blaue Knöpfe. Eckige und Runde. Lederne und Hölzerne ...
Sein Blick war beim gehen fest auf den Boden gerichtet. Nicht einen wollte er übersehen. Als er irgendwann mal keine Knöpfe mehr in unserer Kleinstadt finden konnte, begann er den Passanten die Knöpfe von den Kleidern zu reißen, indem er sie ansprach und wie nebensächlich an ihre Kleidung fasste. Bevor sich die Männer oder Frauen versahen, hatte er ihre Knöpfe in der Hand.
Wahrscheinlich hätte Großvater auch einen guten Taschendieb abgegeben, doch soweit ging er dann doch nicht.
Später begann er uninteressante Artikel aus Zeitungen zu schneiden. Auch die wurden sortiert. Mir ist nicht mehr geläufig, nach welchen Kriterien. Prominente? Politik? Keine Ahnung. Ganze Stapel von Artikeln befanden sich auf der Toilette im Hausflur.
Schließlich suchte Großvater nach Kämmen. Natürlich musste Großmutter die gefundenen Kämme reinigen. Dann sortierte sie Großvater nach Farbe und Größe in seine Schubladen.
Vielleicht brachte uns Großvater mit den Kämmen die Seuche ins Haus.
Großmutter wurde krank, das Vieh wurde krank, schließlich wurde auch ich krank. Die Nachbarn mieden unser Haus und wäre nicht die alte als verschroben geltende Frau gewesen, deren Behausung im Wald lag, wären wir jämmerlich verhungert. Sie versorgte uns in der schlimmen Zeit mit Milch und Beeren. Später, als wir gesund waren, ließ auch sie sich nicht mehr in unserer Nähe blicken. Großvaters Jähzorn war weitläufig bekannt. Wer nur irgend konnte, hielt sich von uns fern. Hätte sich Großmutter nur ebenso verhalten, als Großvater die Küche betrat. Steht er doch neben ihr in der Küche und mäkelt am kochenden Himbeergelee.
Großmutters Tunnelblick versagte an diesem Tag. Mir blieb nicht einmal Zeit, sie darauf aufmerksam zu machen. Großvater mäkelte und schimpfte und beklagte sich schlimmer als jemals zuvor.
Es ist nur verständlich, dass sein Kopf unbedingt in den Einkochtopf musste. Gleich mehrmals und mit jedem mal ein wenig länger. Am Ende ließ sich nicht mehr unterscheiden, ob sein Kopf vom heißen Gelee feuerrot war, oder ob es von der Anstrengung herrührte, mit der er sich aus dem festen Griff meiner Hände befreien wollte.
Und nun liegt Großvater im Schuppen und Großmutter und ich sind uns noch immer nicht einig, wie wir ihn am schnellsten los werden.

Das Gelee tropft vom Holzlöffel.
Sollten wir den alten Schlachtertopf aus der Scheune holen?
Als sich noch Schweine im Schlamm auf dem Hof meiner Großeltern suhlten, landete ab und an eines in dem Kessel. Später, als Großvater schwächer wurde, bezahlten wir einen Schlachter, der uns bei der Arbeit behilflich war. Leider verstarb dieser auf dem Sofa unter dem röhrenden Hirsch meiner Großeltern und alle Wiederbelebungsversuche waren vergeblich. Der Kessel jedoch blieb uns erhalten. Hatten wir ihn in weiser Voraussicht aufbewahrt?
Wir könnten Großvater da hinein packen.
Großmutter könne ihn in Gläser abgefüllt im Keller aufbewahren. Natürlich müssten die Gläser beschriftet werden, damit kein Versehen passierte. Das wäre dann sicher meine Aufgabe.
Nur. Wie würden wir Großvaters Verschwinden den Nachbarn erklären?
"Sagen wir doch einfach, mein Mann ist zurück an die Küste gegangen. Immerhin hatte er mit der Landschaft hier schwer zu kämpfen. Ein alter Seebär wie er inmitten Schweizerischer Berge und Wälder. Ich bin sicher, die Begründung bezüglich seiner Abwesenheit funktioniert. Er hat sich hier noch nie heimisch gefühlt. Sie wissen doch alle, wie er sich ständig über die Leute lustig machte.
"Großmutter, dass Großvater in seinem Alter noch diese weite Reise zurück an die Küste unternehmen würde, glaubt uns doch kein Mensch. Aber was bleibt uns anderes übrig? Irgendwohin muss er ja verschwunden sein. Also lass uns beginnen, die Geleeangelegenheit wird die beste Variante sein."
"Wie kannst du so etwas nur denken" empört sich Großmutter."
Das Lächeln, das um ihre Lippen spielt, kann sie jedoch nicht verbergen.
"Also gut, bring ihn zu mir."
Ich laufe in den Schuppen und schleife Großvater über den Hof zur nahegelegenen Küche. Die Schleifspuren, die seine schweren Beine hinterlassen, werde ich später beseitigen müssen. Ich darf es nicht vergessen. Immerhin liegt er nun schon mal in der Nähe des Herdes, unter der Ofenbank. Sein Kopf voller Himbeergelee hängt traurig zur Seite.
"Sieh mal Großmutter was aus deinem stattlichen Mann geworden ist!"
"Mein stattlicher Mann... ein Kämme und Knopfsammelnder Sadist war er. Ich denke da nur an meine Kiste voller Erinnerungen..."
"Weißt du noch, was sich in der Kiste befand?"
"Ach Kind. Meine Jugend war darin und auch ein Stückchen deiner Kindheit. Wir wollen nicht mehr darüber sprechen. Immerhin haben wir ihn schon mal in der Küche. Lass uns also nun den Kessel herüberholen."
Großmutter dreht die Flamme unter dem Topf des Himbeergelees klein und bindet sich ihre alte Schürze um.
Eine vorwitzige graue Strähne ihres Haares klemmt sie mit einer Nadel fest. Sie zieht Gummistiefel an.
"Meinst du wirklich?"
"Hast du eine bessere Idee?"
"Aber der Schlachter. Wir haben keinen Schlachter mehr. Weißt du denn wie wir vorgehen sollen?"
"Das wird sich alles finden, keine Sorge. Wir holen jetzt den Kessel, setzen Wasser zum kochen an und zwischenzeitlich bringen wir Großvater auf die richtige Größe."
Wir mühen uns sehr und unter stöhnen und ächzen bringen wir den Kessel zurück ins Haus.
"Reinigen werden wir den Kessel auch noch. Sieh mal Großmutter, was sich für Rostspuren abgesetzt haben."
"Ach was! Wie sollte mein Mann die Spuren bemerken. Tot ist tot."
"Weißt du Großmutter, ich könnte nicht einmal sagen, dass ich es bedauere, dich von deinem Tyrann befreit zu haben."
Wir öffnen die Tür und verharren auf unseren Absätzen. Der Schock steht uns ins Gesicht geschrieben.

Großvater steht am Herd und rührt Himbeergelee.
 
D

Daktari

Gast
nicht schlecht

trotz des dramatischen Endes recht interessant. Nur das Ende - isses ein Tipfehler, daß der Großvater dann umrührt oder war das Absicht? Und wie willste aus Knochen Gelee machen?
Dann schon richtig bei Grüne Tomaten abgucken und Barbeque raus machen - lol. Aber abgesehen davon recht interessant.

Ciao
Tim
 



 
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