Himmelstrauer

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wondering

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Himmelstrauer

Er drehte die Muschel in seiner Hand. Auf seinem Spaziergang am Strand war er auf sie getreten, hatte sie nicht gesehen. Erst der kurze Stich unter seinem Fuß hatte ihn auf sie aufmerksam gemacht. Er hob sie auf und betrachtete sie. Sorgfältig entfernte er den Sand und fuhr mit dem Finger die Kanten nach. Dann schloss er seine Hand fest um die Muschel und ging weiter.
Jürgens Blick schweifte über das Wasser. Das Glitzern der Sonne ließ ihn blinzeln. Er schaute in die Weite, doch seine Gedanken waren ganz bei ihm selbst.

Am Himmelsantlitz wandelt ein Gedanke,
die düstre Wolke dort, so bang so schwer;
wie auf dem Lager sich der Seelenkranke
wirft sich die Flut im Winde hin und her.


Ein stechender Kopfschmerz ließ ihn stehen bleiben. Er schloss die Augen und klammerte sich an die Muschel in seiner Hosentasche. Es war dieses Gefühl, als wollte es ihm den Schädel zerreißen. Doch er wusste, es würde gleich wieder aufhören. Er hatte sich nach all den Wochen und Monaten der Qual schon fast an den Schmerz gewöhnt. Er ließ sich niedersinken und legte sich für einen Moment in den Sand. Mit einem Arm verdunkelte er den sonnigen Tag. Es brachte ihm etwas Linderung. Er konnte wieder denken und er dachte an Carolin. Seine Frau. Er kannte sie jetzt schon mehr als zwanzig Jahre.
Sie hatten sich an der Uni kennen gelernt. Sport und Erdkunde waren ihre gemeinsamen Fächer. Im Sportseminar waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Sie war immer sehr ehrgeizig gewesen. So kam es ihm jedenfalls vor. Darum sprach er sie oft als „Fräulein Doktor“ an, was sie mächtig ärgerte. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Er setzte sich auf und vergrub mit schabenden Bewegungen seine bloßen Füße in den Sand. Er fühlte, wie der Sand kühler und feuchter wurde und verharrte so. Carolin. Sie war die hübscheste Studentin an der ganzen Uni. Langes, braunes und unheimlich dichtes Haar. Er erinnerte sich an die bunten Gummibänder, mit denen sie sich ständig einen Pferdeschwanz band, um ihn kurz danach wieder zu lösen. Binden, lösen, binden, lösen. Er liebte es, ihr dabei zuzusehen. Dem missbilligenden Blick des Seminarleiters war sie einfach ausgewichen. Carolin hatte dann zu ihm hinüber gesehen und Jürgen angelächelt. Längst hatte sie bemerkt, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte. Und es war ihr nicht unrecht. Immer öfter verbrachten sie auch ihre Freizeit zusammen. In ihrem ersten gemeinsamen Urlaub machten sie ihren Tauchgrundschein in der Nähe von Marseille. Ihr Seminarleiter hatte ihnen das Programm angeboten. Henry war leidenschaftlicher Taucher und verbrachte all seine Ferien als Tauchlehrer in diesem kleinen Taucherdorf, in Niolon an der Mittelmeerküste. Jürgen lächelte wieder bei dem Gedanken an den kauzigen Seminarleiter und Carolins und seine ersten Erlebnissen unter Wasser. In diesem Urlaub wurden sie ein Paar. Was vorher „komilitonenhaft“, kameradschaftlich begonnen hatte, entwickelte sich allmählich zu einer von purer Leidenschaft und gegenseitigem Verständnis geprägten Liebe.
Der stechende Schmerz und die Gedanken an Carolin pressten Jürgen ein paar Tränen aus den Augen. Er saß im Sand, hielt sich den Kopf, und sein Inneres stemmte sich mit aller Macht gegen das Ungetüm in seinem Schädel und den neuerlichen Anfall von grausamen Schmerzen. Verdammt, dachte er, warum ich? Warum wir?

Vom Himmel tönt ein schwermutmattes Grollen,
Die dunkle Wimper blinzelt manches Mal,
- So blinzen Augen, wenn sie weinen wollen-,
Und aus der Wimper zuckt ein schwacher Strahl.


Der Schmerzanfall war für diesmal vorbei. Er sog die Seeluft tief in seine Lungen. Wenigstens wusste er endlich, was ihm diese Pein einbrachte. Er war bei einigen Ärzten gewesen, nachdem diese ständig auftretenden Kopfschmerzen nicht mehr auf einen Kater oder Überarbeitung zurückzuführen waren. Sein Hausarzt hatte ihn zum Hals-Nasen-Ohrenarzt geschickt: „Lassen Sie sich mal die Stirn und die Nasennebenhöhlen röntgen. Ich vermute eine Sinusitis maxillaris, eine Entzündung der Nasennebenhöhlen.“ Ja, das klang annehmbar. Schließlich gingen Carolin und er noch immer regelmäßig zum Tauchen. Also hatte er sich dem nächsten Arzt, immerhin einem Facharzt, vorgestellt. Doch auch dieser konnte nichts finden, was Jürgens Kopfschmerz erklärte. Ultraschall, Röntgenaufnahmen von den Stirnhöhlen, alles ohne Befund. Vorsichtshalber wurde Jürgen ein Antibiotikum verabreicht, das er auch brav einnahm. „Wenn man auch noch nichts sieht, so wollen wir doch eine Superinfektion abwenden“, hatte der Facharzt ihm erklärt. Doch geholfen hatte es nicht. Mittlerweile bekam er seine Schmerzattacken, mindestens dreimal täglich. Manchmal mitten im Unterricht. Unfähig, sich zu bewegen, entschuldigte er sich stammelnd bei seinen Schülern, die teilweise kichernd, teilweise mitleidig das Ende seiner Anfälle abwarteten.
Aber er wäre nicht Jürgen, ein zäher und willensstarker Bursche von immerhin 42 Jahren, wenn er nicht diesen Erscheinungen auf den Grund gegangen wäre. Es ging nicht nur um sein Leben. Er und Carolin hatten inzwischen drei Kinder.

Er erhob sich erschöpft vom Schmerz und wanderte weiter den Strand entlang.
Der Tag an dem er den Grund seiner Schmerzen erfuhr, war sicher der schwerste seines Lebens. Ein aggressiver Hirntumor, der am Rande des Bewegungszentrums lag. Groß, raumgreifend, wachsend, für immer einschränkend. Diese Diagnose, auch wenn er sie manchmal erahnt hatte, war wahrscheinlich sein Todesurteil. Um das aufklärende CT hatte er betteln müssen. Keiner der Ärzte hatte seine Kopfschmerzen ernst genommen: „Burn-out-Syndrom“, „vegetative Dystonie“ und “ Zustand nach Tieftauchens” stand in seinen Karteikarten. Ein befreundeter Sportmediziner hatte sich seiner dann intensiv angenommen und eine Computer Tomografie angeordnet. Danach stand fest: er würde sterben. Früher als geplant, gewollt, geahnt.
Carolin. Sie war so tapfer, als er ihr davon berichtete. Vielleicht wollte sie auch einfach nicht wahrhaben, was er ihr an diesem Abend offenbarte. Jedenfalls war sie ihm seitdem nicht einmal schwach erschienen. Sie bemühte sich, Jürgen aufzumuntern, ihm Hoffnung zu geben und den Alltag aufrecht zu erhalten, so gut es nur ging. Sie verführte ihn sogar und hatte Verständnis, wenn der Tumor seine Mannhaftigkeit tötete. Oft schämte er sich vor ihr. Dann wieder ließ er sich in das Zuhause fallen, das sie ihm bereitete.

Mit jedem Schritt durch den feuchten Sand am Auslauf der Gischt fühlte er bewusst das Kitzeln des Sandes und die Kühle des Wassers. Fast genoss er das Gefühl, es spüren zu können. Ab und zu blieb er stehen und schnippte mit den Zehen ein wenig Sand nach vorn. Wieder huschte ein kleines Lächeln über sein Gesicht. Er war ein glänzender Fußballer gewesen. Damals zu Studentenzeiten. In der Hochschulmannschaft war er der King. Und es hatte ihm viel Freude gemacht, die Knirpse aus der F-Jugend seines Ortsvereins zu trainieren. Ehrenamtlich, versteht sich. Die Kurzen liebten seine freundschaftlich, strenge Art, sie über den Platz zu scheuchen. Die ehrgeizigen Eltern hielten große Stücke auf den Trainer. So manchen Samstag hatte er auf den Spielplätzen bei Turnieren verbracht, Carolin deswegen warten lassen und die anbetungsvollen Blicke mancher F-Jugend-Mütter genossen.
Wer war er heute?

Man hatte ihm den Schädel aufgeschnitten und das Ungetüm, so gut es ging ausgeräumt. Es hatte die Größe eines Tennisballs. Zehn Zentimeter mussten die Operateure stehen lassen, sonst könnte er heute nicht mehr gehen. Es war eine Gratwanderung. Doch er war seinen Ärzten dankbar, dass sie ihm die letzten Schritte auf den eigenen Füßen gelassen hatten.
Wie sonst hätte er diese Muschel finden können?

Nun schleichen aus dem Meere kühle Schauer
Und leise Nebel übers Hinterland;
Der Himmel ließ, nachsinnend seiner Trauer,
die Sonne lässig fallen aus der Hand.


Er holte die Muschel aus seiner Hosentasche und betrachtete sie so ausgiebig, wie er vielleicht noch nie etwas betrachtet hatte. Er sah die feinen Linien, die sich über ihre Kalkhaut zogen. Er besann sich, dass er mal gelesen hatte, dass man oft Schnecken fälschlicherweise als Muscheln bezeichnet, nur weil man sie am Strand findet. Er bedachte, dass, ob Schnecke oder Muschel, das Gehäuse einem anderen Lebewesen, zum Beispiel dem Krebs, ein neues Zuhause bot. Er empfand, wie genial die Natur manches eingerichtet hatte und verfluchte im selben Moment, dass er wohl nicht zu den Auserwählten zählte. Und wieder blinzelte er in die langsam untergehende Sonne, um ihrem grellen Licht seine Tränen zuzuschieben.
Er musste noch heute zurück nach Hause fahren. Morgen würde er wieder in die onkologische Tagesklinik fahren, um sich dort erneut zur Chemotherapie einzufinden. Auch dort hatte er mit seinem sonnigen Gemüt einen besonderen Stand. Die Schwestern bevorzugten ihn, wo immer es ihnen möglich war. Und sie bewunderten ihn. Jürgen zeterte nie. Charmant und humorvoll erreichte er, was er in dieser Klinik begehrte. Es war eigentlich nur, möglichst schnell wieder nach Hause zu dürfen.

Ihren Kindern hatten Carolin und er nicht viel gesagt. Sie waren fünf, sieben und zehn Jahre alt. Die Kids fragten auch nichts, stellten nur mit einem „Tschüß Papa“, fest, dass er wieder für einige Zeit außer Haus war. Der Jüngste hatte sich einmal über die Narbe quer über Jürgens kahlen Schädel amüsiert: „ Du siehst aus, wie Frankenstein, Papi“, hatte er gesagt, und Jürgen schnitt zur Bestätigung fürchterliche Grimassen. Die Kinder erschraken und Carolin lief ins Bad.
Inzwischen war seit den sieben Monaten der Diagnosestellung fast eine Routine eingekehrt. Freitags ging Jürgen zur Chemotherapie, dann und wann zur Bestrahlung und ansonsten war Alltag. Heimlich freute sich Jürgen, als Carolin sich einmal über die unverschlossene Zahnpastatube aufregte. Er liebte sie für ihre Stärke und er verfluchte so oft, dass die Wirklichkeit ihr dies abverlangte.
Abends, wenn die Kinder längst schliefen, saßen er und Carolin oft vor dem sich hinlaufenden Fernseher. Dicht aneinander gekuschelt, die Hände ineinander verschlungen, wagten sie selten, sich anzusehen. Die Sehnsucht nach dem anderen war groß. Sie waren sich näher, als jemals zuvor. Und dennoch war ihre Nähe eine andere.

Jürgen machte sich langsam zum Rückweg auf. Er kehrte einfach um und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Von Weitem sah er Carolin mit den Kindern am Strand spielen. Das Auto war für die Heimfahrt gepackt und gleich würden sie nach Hause fahren. Andere Badegäste winkten der netten Familie mit den drei Kindern zu, die so glücklich miteinander schienen. Sie waren es auch. Vom einen Moment zu den Momenten, die ihnen noch gemeinsam blieben.

„Himmelstrauer“, Eingeschobenes frei nach Nikolaus Lenau 1802-1850
 

strumpfkuh

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Hallo Wondering,
das ist eine sehr schöne, ganz besondere Erzählung, die du da geschrieben hast. Ganz behutsam führte sie mich zu dem totkranken Mann am Strand, der nur wenige Meter entfernt von seiner Familie über seine Krankheit, sein Leben und seinen Tod nachdenkt. Seine Gedanken haben mich teilnehmen lassen an dem Schmerz, der Angst und der Traurigkeit. Aber auch so viel Liebe und Dankbarkeit habe ich mitempfunden.
Es ist ein Text, der mich wieder einmal daran erinnert hat, wie glücklich ich bin, gesund zu sein.

Eines klang für mich unglaubwürdig. Warum haben die Kinder keine Fragen gestellt? Selbst der Fünfjährige würde da vieles spüren und mitbekommen. Und Kinder fragen, fragen, fragen.
LG
Doro
 

wondering

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Hi Doro,

danke für die Darstellung und das Lob.
Ja, i.d.R. fragen Kinder ohne Ende. Aber in diesem Fall, und das erlebe ich nicht zum ersten Mal, verdrängen Kinder und fragen nicht. Die Geschichte ist nicht erfunden und daher weiß ich, dass die Drei tatsächlich einfach "Alltag spielen". Sie schützen sich so.

Liebe Grüße
wondering
 

strumpfkuh

Mitglied
Aber ist es nicht eher so, dass Kinder zuerst fragen und dann sehr schnell damit aufhören, wenn sie keine Antworten bekommen, weil es keine Antworten gibt?
LG
Doro
 



 
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