Hinter mir

anbas

Mitglied
Hinter mir

Er steht immer hinter mir. Immer! Ich spüre seine Nähe, weiß, dass er da ist. Darum muss ich auch ständig gehen, darf nicht stehen bleiben, sonst ist er sofort da. Wenn ich gehe, folgt er mir. Doch er folgt mir in einem größeren Abstand. Dann spüre ich ihn nicht mehr. Sobald ich aber stehen bleibe, ist er da. Nie spricht er mit mir, fasst mich auch nie an, steht einfach nur so da, hinter mir, starrt mich an. Ich spüre, wie sich seine Blicke in meinen Nacken bohren. Darum muss ich immer in Bewegung bleiben, esse im Gehen, telefoniere im Gehen, unterhalte mich im Gehen. Was auch immer im Gehen möglich ist, mache ich auch im Gehen. Ich muss mich nicht unbedingt schnell bewegen, es reicht völlig aus, dass ich überhaupt in Bewegung bleibe. Doch oft gehe ich schnell, bin ein Verfolgter, fühle mich gehetzt. Die Momente, in denen ich stehen bleiben muss, versuche ich so kurz wie möglich zu halten. Ein wenig Erholung finde ich nur vor dem Spiegel. In ihm ist er nicht zu sehen. Noch nie sah ich ein Spiegelbild von ihm. Deshalb suche ich mir gerne einen Spiegel, wenn ich erschöpft bin, nicht mehr gehen kann, eine Pause brauche. Doch ich weiß, dass er da ist und auf mich wartet. Auch, wenn ich schlafe ist er da. Dann steht er neben meinem Bett, starrt mich an, wartet, dass ich wieder aufstehe. Darum möchte ich manchmal einfach liegenbleiben. Doch er starrt mich an, und ich kann seine Blicke spüren. Sie sind nicht zu ertragen. Ich schaue niemals zu ihm hin, wenn ich im Bett liege; lege mich immer mit dem Gesicht zur Wand, steige rückwärts aus dem Bett, bloß, um ihn nicht anschauen zu müssen. Ich weiß, dass er da ist – auch, wenn ich ihn nicht sehe. Ein einziges Mal habe ich ihn gesehen, und das reicht mir für den Rest meines Lebens. Nie wieder werde ich mich überraschend umdrehen. Nicht so wie damals, als alles begann. Ich stand vor einem Restaurant und las mir die Speisekarte durch, die in einem dieser kleinen Kästchen neben der Eingangstür hing. Es war bereits dunkel. Die kleine Gasse war menschenleer und nur spärlich beleuchtet. Plötzlich habe ich ihn gespürt. Er stand hinter mir. Nach einem ersten Zögern drehte ich mich blitzartig um, und da war er: Keine 30 cm von mir entfernt. Aus seinem hageren, blassen Gesicht starrte er mich mit glasigen, toten Augen an. Sagte kein Wort, rührte sich nicht, hatte keine Mimik. Ich schrie auf und fiel in Ohnmacht. Als ich wieder zu mir kam, lag ich noch immer in der Gasse. Niemand hatte mich gehört oder gefunden. Nur er war da. Das spürte ich genau. Brauchte nicht nachzusehen, wollte das auch nicht. Seitdem gehe ich. Den ganzen Tag über gehe ich. Nur nicht stehen bleiben und erst recht nicht plötzlich und überraschend umdrehen. Ich habe keine Ahnung, warum er das tut, welches Ziel er damit verfolgt. Doch ich werde ihn auch nicht fragen. Denn wenn ich mit ihm reden will, müsste ich mich umdrehen und ihn ansehen. Aber das kann ich nicht. Sein Anblick damals in der dunklen Gasse… Nein, ich kann das wirklich nicht! Also werde ich weiter gehen, so wenig wie möglich stehen bleiben und mich auf gar keinen Fall überraschend umdrehen.
Ich weiß, du kannst ihn nicht sehen – behauptest du zumindest. Doch sag, wann hast du dich das letzte Mal überraschend umgedreht?
 



 
Oben Unten