Hinz & Kunz

Haarkranz

Mitglied
Hinz & Kunz

Die Königreiche hatten eine gemeinsame Grenze. Zu beiden Seiten lebten Untertanen, die blonde, schwarze und rote Haaren hatten. Beim bloßen Hinsehen, war nicht zu erkennen, aus welchem Königreich jemand kam. Anders mit den Sprachen. Über die Jahrhunderte hatten beide Reiche eigene Sprachen entwickelt. Im Aufbau gleich, bei den Wörtern verschieden.
Beide Reiche hatten König und Königin. An den königlichen Höfen war Schmalhans Küchenmeister. Die Untertanen waren arm, ebenso ihre Oberen.
Halten wir fest: Arme Untertanen, arme Könige, zwei Sprachen und eine Grenze.
Eines Tages traf König Hinz den König von nebenan, der Kunz hieß, bei der Jagd.
Beide waren hinter einem kapitalen Keiler her, der mal auf dieser, mal auf jener Seite der Grenze um sein Leben rannte. Das Tier entkam, die Jäger hatten das Nachsehen.
Die beiden Jagdgesellschaften, bewaffnet mit Spießen und Schießzeug, standen sich knurrend gegenüber. Es war brandgefährlich!
Doch plötzlich flog, ganz aus eignem Entschluß, ein Jagdfalke von der Hand des Königs dieseits der Grenze direkt auf die Hand des Königs jenseits der Grenze.
Alles erstarrte! Der so beschenkte König jedoch rief: „Hab Dank, Schwager! Im Augenblick weiß ich dein hochherziges Geschenk nicht zu parieren, möchte dich nichtsdestotrotz mit deinem Gefolge zu einem Jagdmahl laden, welches eben itz dort hinter dem Hügel bereitet wird.“
Das ließ sich der dieseitige König, dem der Magen schon auf den Knien hing, nicht zweimal sagen. Er hob seine Linke zum Zeichen des Einverständnisses, kommandierte: Ale hopp! und setzte mitsamt seinem Troß über die Grenze.
Drüben empfing ihn der jenseitige König mit einem Bruderkuß und den Worten: „Schwager, das feiern wir!“ „Ja, lieber Schwager, da sagst du wahr!“ antwortete der geküsste König und setzte hinzu: „Wir sollten ein Zeichen setzen!“
„Ei, wenn das kein guter Gedanke ist, Hinz,“ sagte Kunz und fügte seinerseits hinzu: „Ab sofort nennen wir uns beim Vornamen.“
„Gemacht, Kunz!“ freute sich Hinz, „und nun bitte ab zum Futter!“
„Das haben wir gleich, lieber Hinz!“ Kunz gab das Signal zum Aufbruch, die Jagdgesellschaften mischten sich, radebrechten miteinander, was nur recht und schlecht gelang.
Beim Futtern jedoch, fand sich alles. Hinz und Kunz, als Könige, beherrschten ein jeder die Sprache des Anderen, allein schon deshalb , weil sie von klein auf angehalten worden waren, das Land des Anderen im Handstreich zu erobern, um dort auch König zu werden. Was, ohne die Landessprache geläufig zu sprechen, nicht wirklich hätte gelingen können.
Davon war jetzt aber keine Rede. Kunz und Hinz gefielen sich, ja sie fanden im Verlauf der Schmauserei, bei der nach Anbruch der Dunkelheit kaum zählbaren Flaschen der Hals gebrochen wurde, immer näher zu einander.
Als die ersten Strahlen des neuen Tages über die Kimm kletterten, nahmen sie endlich Abschied von einander, nicht ohne vor versammelter Mannschaft zu erklären: „Es ist beschlossen, dass mein Erstgeborenes, Prinzessin oder Prinz,“ hier verhielt Hinz, und Kunz fuhr fort: „oder mein Erstgeborenes, Prinz oder Prinzessin,“ jetzt wieder Hinz: „miteinander verheiratet werden!“ Kunz fuhr fort: „Und wir unsere Reiche auf ewig vereinen!“ Hinz: „Unser Wappen sei ein auf dem Eber reitender Falke!“ Kunz: „ mit einer Garnrolle , welche die eingerollte Grenze versinnbildlicht!“
Alles schrie: „Vivat! Vivat!“ denn dieses Wort wurde in beiden Sprachen verstanden.

Soweit der Wille der Könige. Den Untertanen war es recht, konnten sie doch jetzt ohne weiteres die Grenze queren und versuchen, ihren Vorteil drüben zu finden.
Doch da waren die Sprachen. Die der Anderen musste gelernt werden, sollte Handel und Wandel blühen. Die Sprachen, das war vertrackt. Man glaubt es nicht, aber die Verschiedenheit war keine gewachsene.
Als vor Zeiten die Grenze gezogen worden war, angeblich aus politischen Überlegungen, wurde gleichzeitig Unterscheidung verlangt. Da die nicht so einfach zu befehlen war, wurden Universitätsprofessoren beauftragt, Vorschläge einzureichen.
Es wurde gesonnen und beratschlagt, Gremien einberufen, Kommissionen gebildet, ein Heer von Beamten eingestellt und auf ewig besoldet, ohne dass Wesentliches dabei herauskam. Dies auf beiden Seiten der Grenze.
Bis! ja, bis eines Tages, Geburtius Lingua, ein junger Mann aus einem Weiler weitab, sich anheischig machte, gegen angemessenes Entgelt und tatkräftige Unterstützung, das Problem zu entschärfen, wenn nicht zu lösen!
Man warf sich ihm gern bedingungslos in die Arme! Man war ratlos, am Rande der Verzweiflung, wenn nicht schon kopfüber, vom Rande hinunter, in die Verzweiflung unterwegs! König, Hofstaat, Gelehrte, Beamte, Bürger, ja selbst der Plebs.(die Plebs?)
Geburtius machte sich an die Arbeit. Nach fünf Jahren hatte er ein Fünftel des zu Bewältigenden bewältigt. Nach zehn Jahren ein weiteres Fünftel. So schaffte er unverdrossen zwanzig Jahre lang, bis er dem König eine blitzneue Sprache vorstellen konnte, die keiner verstand und niemand sprach.
Seine Majetät befahlen, Feste zu feiern, Feuerwerk abzubrennen und Pferderennen zu veranstalten. Wäre es nach ihm und dem Fürstbischof gegangen, wären noch ein oder zwei alte Weiber, die im Armenhaus ihr Leben fristeten, öffentlich verbrannt worden.
Was die Untertanen anging, die gingen ihrem Tagwerk nach, ohne dass es sie störte, dass die Drüben so sprachen wie sie. Die musste Mores gelehrt werden! Nach den ersten Versuchen, die Geburtius unternahm, sah es so aus, als ob die Bande bockte, die neue Sprache nicht lernen wollte.
Der König ließ Geburtius kommen, verlangte, er möge in gleicher Weise, wie er das Sprachproblem gelöst habe, nun für‘s Erlernen seines Werkes sorgen. Der schüttelte den Kopf. „Ich, Majestät, bin Entwickler, frei schwebender Geist, kein Steißtrommler! Möchte mich auch gleich aus Euer Majestät Diensten verabschieden, andererorts wird mein Genie verlangt.“ Sprach’s, schritt vom König weg, tief verbeugt, zehn Meter rückwärts zur Tür, schlüpfte hindurch und ward anderen Tags im Dienste des Königs von nebenan beobachtet.
Die Obrigkeit schwitzte, die Sprache war da, auf das Beste beschrieben, konjugiert und dekliniert, mit allen Regeln und Ausnahmen, Vokabeln und Wörtern, oder Wörter und Vokabeln, oder waren Wörter Vokabeln?
Die Obrigkeit dampfte, vergoss Bäche von Schweiß, denn diesmal gab es kein dekretieren, kujonieren. Lernt die Kanaille? Lasst sie den Stock spüren!
Nein, es musste vom König abwärts gelernt werden. Wie ein Wasserspiel, Treppe für Treppe, gebändigter Sprachstrom, konjugiert und dekliniert, bis zum großen Teich, in dem die Pleps schwamm, und Potztausend, gegen ein wenig bare Belohnung, begierig lernte. Das Idiom erfüllte bald die Gassen und Plätze. Die Obrigkeit sah sich gezwungen, von sämtlichen Divertimenti Abschied zu nehmen, um kopfrauchend zu pauken, zu pauken, nur noch zu pauken.
Es gelang. Die Königreiche fanden zu den von Geburtius Lingua für sie jeweils erfundenen Sprachen. Bald gerieten die ursprünglichen Dialekte in Vergessenheit. Die neuen Sprachen begannen das Leben zu beherrschen.
Die Folgen waren bemerkenswert: Geburtius hatte, um es sich nicht allzu schwer zu machen, bei seinen Wortschöpfungen das Anhängeprinzip angewandt. Seine Überlegung war: Wenig Begriffe, multiple Abwandlungen. Das Ergebnis, ein Wort wie Frau galt für Mädchen, Hündin, Blüte, Liebe. Geburtius Lösung Mädchen=Frauohne. Hündin=Frauwau. Blüte=FrauMMM. Liebe=Frauooooh. etc. etc.
Den nachgeborenen Philologen behagte das wenig. Sie begannen zu raspeln, zu feilen, zu sägen, zu teilen. Generation für Generation entwickelte, verwickelte und komplizierte. Bald gab es mehrere Sprachdecks. Wie ein gigantischer Luxusliner, mit immer mehr Decks ausgestattet, stampfte die mit Litzen und Bordüren, Volants und Agraffen behängte Sprache durch das Leben der Hinz und Kunz, ohne dass die sich behindert gefühlt hätten.
Was ihnen fehlte war der Vergleich. Kunz verstand Hinz nicht, doch wenn er sah, wie Hinz seine Frau bat, die Zeitung zu bringen, dauerte die Bitte wie bei ihm, lang, sehr lang. Die Zeitung war dick, sehr dick. Das Leben verlief langsam, sehr, sehr langsam. Alles hatte sich entschleunigt. Hinz und Kunz schliefen länger, liebten länger, aßen und tranken länger, lebten länger.
Dies weiter auszuführen dauerte zu lange, allzu lange. Auch wäre weitere Entschleunigung zu gewärtigen, diese absolut schädlich, eine Neue Zeit dämmert herauf! Der Könige Verbund, erheischt ähnliches vom Untertan. Folgerung: Hinweg mit der unzeitgemäßen Sprachbarriere!
Wie Donnerhall scholl es durch beide Reiche: Ein Volk! Eine Sprache!
Aber welche? Seit Geburtius waren Jahrhunderte vergangen. Niemand hatte die leiseste Ahnung vom Klang und den Lauten der früher gemeinsamen Sprache. Jetzt war die Wissenschaft gefragt, kam endlich zum Zuge. Wissenschaft die sich bewehrt weil sie bewahrt, webt, offen oder verborgen. Alles Unzulängliche ist ihr Gräuel. So wusste sie auch Abhilfe, für die vertrackt umständlichen Sprachen der beiden Königreiche. Noch war Kritik tabu, aber bald würde die alte, gemeinsame Sprache wieder ihren, ihr zukommenden Thron besteigen. Allzulange konnte es nicht dauern, spätestens bei der Vermählung der Thronfolger war sie gefragt, die von allem Alten, Schwerfälligen befreite, neue alte Sprache.
So kam es. Und wieder waren Hinz und Kunz bereit zu folgen. Geburtius= Mißgeburt. Seine Schöpfungen igitt. Die Pleps raste, schlang das Neue in sich hinein, Hinz und Kunz vereinigten sich, mit einer Gier, einer Lernwut, dass nach zwei, drei Jahren die alte Sprache vergessen, verschollen, verwaist war.
Man sollte meinen, keiner weinte dem schwerfälligen Sprachungetüm eine Träne nach. Doch dem war nicht so.
Etwas Merkwürdiges geschah. Wo vorher einfühlende Beschaulichkeit, Eingehen auf den Anderen, selbstverständlich war, kam mit der neuen, effizienten Sprache ein rüder „mach schon“ Ton auf. Das Umständliche des alten Idioms, hatte die Leute das Zuhören gelehrt. Zuhören, eine Tugend die in gleichem Maße verloren ging, wie die neue Sprache alltägliche Realität wurde.
Bald gab es weitere Veränderungen. Findige Hinze und Kunze hatten entdeckt: Bedarf war nicht nur natürliches Bedürfnis, sondern weckbar! Ein Hinz erfand für seinen Garten rotes Gras. Sein Kalkül: Nachbarn würden möglicherweise auch rotes Gras wollen. Er hatte sich nicht verrechnet. Bald konnte er die Nachfrage nach rotem Gras nicht mehr befriedigen. Schnell gründete er die „Rotes Gras“ Fabrik und verkaufte und verkaufte. Bald stellte sich heraus, die Fabrik konnte der Nachfrage nicht genügen. Hinz tat sich um, schloss die Fabrik, entließ die Arbeiter, stellte fortan rotes Gras in China her.
Seine Frau die das nicht gut fand, beruhigte sich, als er ihr vorrechnete: Die Fabrik in China wirft 100 mal mehr Profit ab, als die geschlossene „Rotes Gras“ Fabrik.

Rotes Gras war nicht die einzige Versuchung. Man erfand abertausend Dinge die reißenden Absatz versprachen. Eine totale Veränderung des Lebens fand statt. Der Treiber war ein in beiden Königreichen bisher unbekannt gewesener Begriff: Profit!
Hinz steckte Kunz an, der Schmitz, Meier, Schulz. Alsbald rannte alles hinter dem Profit her, weil jeder sich mit genügend Profit kaufen konnte was ihm einfiel.
Lächerlich, was die früher für ein Theater machten, wenn dringend Benötigtes angeschafft werden musste! „Ein neuer Tisch, tut der alte et wirklich nich mehr? Laß uns doch noch en Jahr warten. Dat schöne Stück ist noch von unserem Opa.“
Lächerlich, absolut lächerlich.
Das Leben im Vereinigten Königreich änderte sich immer schneller. Weckten am Anfang Dinge die Habsucht der Leute, so gelang es Profithändlern alsbald, den Profit als solchen anzubieten und zu verkaufen. Das machte das Leben erst wirklich rasant.
Profit herstellen, mühsam und zeitraubend ansparen, was für Doofe. Profit auf Kredit gab es überall. Eine Küche, eine Reise, ein Auto. Teures für das sich jahrelang krummgelegt werden musste, schaffte Profit auf Kredit sofort heran.
Bald hatte Jeder jedes. Das war ein Geprotze und Herumgezeige, dass es eine Art hatte!
„Nach dem Essen am Tisch sitzen, von früher, heut und morgen, schwätzen, von Onkel Josef und Nachbar Fritz: Haste gehört wat der verzellt hät? Manchmal war auch der liebe Gott dran. Dat der alles richten tät, auch wenne nich an ihm glaubst. Der Mensch denkt, Gott lenkt. Gab et nich mehr. Aus! Vorbei!“
Doch war es nicht so einfach über die Runden zu kommen, das Leben war teuer geworden. Miete, Auto, Tralala. Heizung, Urlaub, Raten. Die verfluchten Raten! Ach ja, essen, essen musste auch sein. Gott sei Dank gab es Fastfood. Schnellimbiss und stehend Mampfe, Hauptsache es war billig! Billig, musst alles sein, billig!
Hinz und Kunz wurden verwechselbar. Früher wusste jeder, was seins war. Konnte seine Verwandtschaft aufzählen, bis zu Cousine und Cousin sechsten Grades.
Jetzt hatte sich das dergestalt geändert, dass selbst die Nächsten sich nicht mehr kannten, kennen wollten! Schwester lief an Bruder vorbei, beide an den Eltern.
Was war geschehen? Beschleunigung! Es war nicht Hinz und Kunzes Wille, die Eigenen zu übersehen. Wille, eigener Wille, war ihnen unversehens durch die Finger gerutscht, bei dieser kreischenden Karusselfahrt, die modernes Leben hieß.
Sie fühlten sich wie an die Wand einer rotierenden Trommel gedrückt. Vor Augen überwältigende Kaskaden bunter Bilder, garniert mit überschwenglichen Versprechungen
Bilder von Waschmaschinen, Autos mit halbnackten Frauen, Telefonen, Versicherungen, Keksen, Getränken, spärlich bekleideten Frauen. Benzin, Gartencentern, Urlaubsschiffen, Frauen, Flieger, Afrika, Asien, Tadsch Mahal, Tangafrauen. Andamanensee, Jaffaorangen, Pril, Hautstraffcreme und noch lange nicht alles, noch viele Zeilen und Bilder mit immer Neuerem, Besserem, unglaublich viel Besserem, als der Scheiß, der dir da gerade angeboten wird, unentwegt Tag und Nacht angeboten wird, kreischte, lockte, versprach es überall.
Warum? Keine Ahnung.
Am Jahrestag der Vereinigung, Hochzeitstag ihrer Kinder, Rücktrittsgedenktag, trafen sich König Hinz und König Kunz am Ort ihrer ersten Begegnung. Der Platz Falkenflug genannt, die Vereinigung dreißig Jahre her, die Exkönige sehr alt.
All dreißig Jahr, wackelte König Kunz mit dem Kopf. Nicht zu glauben, wackelte König Hinz zurück und hing ein, sonst noch wat? hintendran.
An sich nix, antwortete Kunz, aber wat ich noch sagen wollt: Falkenflug sollt besser Falkenfluch heißen.
Hinz antwortete ohne zögern: Wohl wahr, Kunz, wohl wahr. Heut sind wir schlauer, doch et is zu spät.
 



 
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