Hokuspokus vidibus

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H

HFleiss

Gast
Alle gingen, ich wollte nicht gehen. Nicht gleich, nicht im November, nicht in diesem November. Später, wenn die Sensation sich gelegt hätte.

Dann würde ich in meine Straße gehen, mir unser altes Haus ansehen, unser geliebtes, gebrechliches Haus, die Stiegen hochsteigen, Stiegen, nicht Treppen, wie man in Berlin sagte, und es waren in der Tat Stiegen, steil, eng, man prustete schon, sobald man das erste Stockwerk erreicht hatte. Um 1870 war das Haus erbaut, damals, als die ersten großen Industrieanlagen in Berlin entstanden und Arbeiter vom Lande in die Stadt strömten, ein Haus ohne erkennbaren Bauplan, Hauptsache, die Leute hatten ein Dach über dem Kopf. Die wechselnden Hausbesitzer, und man verlor in diesen hektischen, vom Gewinn getriebenen Zeiten schnell nicht nur ein Haus, bauten an: erst das vierte Stockwerk, dann den Seitenflügel, vornehm Gartenhaus genannt, zwei stinkende Fallgrubenklos auf dem Hof. Stube und Küche, das reichte den Leuten vom Lande, Tagelöhnern, Kleinknechte, Gesinde, sie waren Schlimmeres gewohnt. Das Haus hatte drei Höfe, der interessanteste für uns Kinder war der dritte. Dort hatte Vater Kluge eine Schmiede, eine richtige Schmiede, in der Pferde beschlagen wurden, und wo die Jüngsten schon mal spaßeshalber auf ein Kaltblutpferd gesetzt wurden und wir anderen uns dann freuten, wenn ein hilfloser Dreijähriger vor Angst schrie.

Der Gedanke an mein Haus ließ mich in diesem November weniger frieren.

Dabei hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht: Einmal wieder an den Ort meiner Kindheit gehen, einmal wieder die jetzt ungewohnten Schienen im Hausflur für die Pferdefuhrwerke begrüßen, in die wir Teer geklebt hatten, in der Hoffnung, die Pferde, die schrecklich großen Kaltblutpferde, würden darauf ausrutschten, wieder einmal den Kohlengrus aus dem Keller noch im ersten Stockwerk und das Klo auf der halben Treppe riechen, bei den Großeltern klingeln, und der Großvater an der Wohnungstür würde perplex seinen Pfriem aus dem Mund holen und in die Stube rufen: „Jule, die Jule aus der Zone steht vor der Tür! Schmier ihr mal einen ordentlichen Berg Leberwurststullen!“ Und Großmutter würde mir noch im Korridor um den Hals fallen, und ihre Tränen würden mir auf den Kragen tropfen, und alles wäre wieder so wie früher. Früher, in der Zeit nach dem großen Krieg, als hinter dieser Tür mein Zuhause war.

Es war ein Traum, ein Traum, den ich geträumt hatte in all den Jahren. Ein Traum auch, weil der Großvater gestorben war, schon in den fünfziger Jahren, die Großmutter, als die Mauer stand, Ende der Sechziger, und Nachbarn sie beerdigen mussten, weil die Verwandtschaft weggestorben war und wir, die wir in Köpenick wohnten, nicht nach Westberlin gehen durften – in dringenden privaten Angelegenheiten, wie es amtlich hieß. Ja, ihre Gräber wenigstens, das nahm ich mir vor, wenigstens sie wollte ich aufsuchen. Vielleicht, dass Großvater dann von unten heraufbrummen würde: „Jule, die Jule aus der Zone hat sich auch endlich mal bequemt vorbeizukommen.“ Es war ein Traum.

„Sei doch nicht dumm, hol dir die hundert Mark Begrüßungsgeld.“ Mein Sohn David stand mit dem Auto vor der Tür. Es war schon Mitte Dezember, und nichts trieb mich ins andere Berlin, nichts außer meiner Straße und das Haus, das darin stand, mein Kinderhaus. Wie es in Westberlin aussah, wusste ich sowieso aus dem Fernsehen, darauf hatte ich mir schon meinen Reim gemacht, es reizte mich nicht. Ich hatte die johlenden Leute auf der Mauer am Brandenburger Tor im Fernsehen gesehen, eine Kollegin aus meiner Redaktion wiedererkannt, unsere FDJ-Sekretärin. Meine Bemerkung beleidigte sie: „Immerhin ein historischer Moment!“ Was hatte sie begriffen von der deutschen Historie?

Mein Sohn fuhr mich durch die Weddinger Straßen. Ich erkannte sie an den Straßenschildern, nur hier und da ein vertrautes Gebäude. Wir fuhren über eine Brücke. Fennstraße, las ich. Aha, die Fennbrücke, die Großvater im April 45 noch verteidigen sollte. Wir fuhren durch die Straße, glitzernde Bürogebäude, am Ende ein Schild: Sellerstraße. „Halt an!“ Erschreckt trat mein Sohn auf die Bremse. „Zurück, fahr zurück! Wir sind in der Sellerstraße! Schon!“

„Wenn du meinst.“ Gleichmütig wendete er, unvorschriftsmäßig, er hätte sich herausreden können, Zonenhirnis konnten eben nicht Auto fahren. David fuhr Schritt. Ich saß wie betäubt neben ihm. Ein kleiner Gasometer kam in Sicht. Der Gasometer! Er hatte neben unserem Haus gestanden, ein schwarzes Ungeheuer damals, wie man sie noch heute in Berlin findet. Großmutter hatte nach dem Krieg gesagt: „Eine einzige Bombe auf den Gasometer, und der ganze Wedding wäre in die Luft geflogen.“ Die Bomben hatten unser Hinterhaus getroffen, fünfzig Schritt vom Gasometer entfernt. „Hokuspokus vidibus“, sagte ich.

David stoppte. Ich stieg aus. Ich fror sofort, es war ein klammer, kalter Tag. Langsam schritt ich den Bürgersteig entlang, zählte meine Schritte, wie ich es oft als Kind getan. „Hier“, sagte ich. „Hier hatte unser Haus gestanden.“ Mein Blick ging die Hauswand hoch, Spiegelfenster, Neonleuchten dahinter, ein Schering-Gebäude.

David antwortete nicht. Ich suchte Spuren auf dem Straßenpflaster, irgendwelche Spuren von den Menschen, die hier einst gelebt hatten. Vergeblich. Alles war neu, kein Staub zwischen den Steinen, wie weggeleckt die vergangenen Leben.

„Zum Nordhafen“, sagte ich. Meine Stimme war tonlos geworden. Im Nordhafen hatten wir als Kinder gebadet, verbotenerweise. Kein Fluss für Kinder, ein Industriekanal, schwarz, die Ufer steil, aber eine kleine Wiese hatte es gegeben, auf der wir nackt lagerten und uns von der Sonne trocknen ließen.

Der Fluss war noch immer schwarz, die Wiese war verschwunden. Ein Stück Mauer teilte den Park, eine buntbemalte Mauer, Schriftzüge darauf, es war Türkisch. Hinter der Mauer der Rest des Parks, dahinter die Scharnhorststraße mit dem Regierungskrankenhaus, nicht erreichbar, dort begann Ostberlin. Nie konnte ich von dort all die Jahre bis zum Park gelangen, dem Park, der in meinen Träumen mitgespielt hatte, die kleine Brücke, die über die Panke führte, das Bauhausgebäude rechterhand, das wir nur die Bewag genannt hatten und vor dem ich fotografiert worden war, als Fünfjährige, sonnengeblendet blinzelte ich auf dem Foto in die Kamera.

„Lass uns eine rauchen.“ Wir suchten uns eine Bank. Davids Mund, das sah ich, obwohl er es zu unterdrücken suchte, umspielte ein mitleidiges Lächeln. Ich war betäubt, von der Enttäuschung betäubt.

Man gelangte nicht mehr an den Fluss, alles war abgeteilt. Wir standen oben und blickten hinunter auf den Streifen Ufer. „Ein Krebs“, sagte David, „tot.“

„Ja“, sagte ich. „Geborsten. Als sei der Fluss auf ihn gefallen.“

Ohne dass ich es sah, fühlte ich, dass mein Sohn mir einen schnellen Blick zuwarf.
Ich starrte aufs Wasser, das schwarze Wasser, das noch immer, genauso wie damals, kleine Wellen ans Ufer schäumte. Beinahe war ich wieder das Kind, das angstvoll ins Wasser starrte, weil es nicht schwimmen konnte.

„Komm“, sagte ich. „Nach Hause.“
 
L

Law

Gast
Hallo Hanna,

eine sehr schöne Erzählung. Im ersten Teil Deiner ERinnerung (Steigenhaus, Hufschmied)) fand ich auch Parallelen zu meiner Kindheit. Ausserdem interessiert mich deine beschreibung der proletarier Behausungen aus den frühen Jahren des "damaligen" Raubtierkapitalismus, weil mich Handelshistorie sehr interessiert. Auch kenne ich diese Mischung aus Kohlgeruch und Etagenklo im Treppenhaus und ärmlicher alter gesichter in mittleren Jahren, aus meiner Erinnerung von Verwandten aus dem "Pütt" Ruhrgebiet woher meine Mutter stammte. Auch diese Hufschmiede durfte ich noch erleben, mit diesem verbrannten Horngeruch.

Danach haben wir (ich sowieso weil ich Jahrgang 58 bin)unterschiedliche Biografien in sehr unterschiedlichen Ländern, deren Lebensstile ich mich versuche über Dokumentationen im Fernsehen zu informieren. Deine Generation ist sicher eine der letzten "Zeitzeugen" aus dieser Zeit, die in hundert Jahren so verblasst und obsolet sein wird, wie der frühe Industriekapitalismus.

Ich war vor kurzen geschäftlich in Berlin und nahm mir nach einigen Besuchen vorher zu früheren Zeitpunkten, die Zeit weil das Wetter strahlender Sonnenschein war, mit nem Tagesticket und zu Fuß, so viel wie möglich an Geschichte zu atmen und zu Erwandern(in Anzug und Kravatte) IN Ost und West, also vom Schloss Bellevue zum Reichstag, Brandenburger Tor, jüdisches Mahnmal(na ja no comment zu dieser Kunst), Alexanderplatz, diverse Parks usw. das ist schon einfach was anderes als mit dem Auto durchzufahren und danach kam mir Berlin enorm vertraut vor.

Tja, Hannah ich finde es sehr respektabel, dass Du in deinem Vergleich zur Ex FDJ-Sekretärin im TV, zu Deinem Leben in der Ex-DDR stehst und eben durchaus diesem nachtrauerst. Natürlich kann ich es nicht nach-verstehen, aber durchaus nach-empfinden.

Gruß
Law
 
H

HFleiss

Gast
Danke, Law. Deine Worte machen es mir warm ums Herz (lach nicht, ist ernst gemeint). Schreib es auf, Law, obwohl du jünger bist. Irgendwann ist es sonst vergessen.

Gruß
Hanna
 

Haarkranz

Mitglied
hokuspokus fidibus

Hallo Hanna, eine hautnahe Geschichte, fühlte beim Lesen wie sich mir die Nackenhaare hochstellten. Hoffnungen und Enttäuschungen dieser Art, waren über Jahrzehnte vieler Leute Alltäglichkeit. Haarkranz.
 
N

nobody

Gast
Hallo HFleiss,
ich mag solche Geschichten, die sich in einen einschleichen - unspektakulär, ohne diesen oft offensichtlichen Anspruch das Autors/der Autorin, „Literatur“ zu produzieren.
„Frei assoziativ“ weckt dein Text bei mir Erinnerungen an meine Zeit im Wedding Anfang der sechziger Jahre - Fehmarner Straße, eine Gegend, in der damals an vier Straßenecken fünf Eckkneipen existieren konnten, ich weiß nicht, wie die das gemacht haben. Aber ich habe meinen Beitrag dazu geleistet...

Mit kleinen Blicken, Gesten und Bemerkungen zeigst du, wozu andere Bände von klugen Büchern brauchen, und damit erfährt die Geschichte eine Dimension, die über das reine Erinnern an die Kindheit hinausgeht, und die auch denjenigen Leser erreicht, dem die Örtlichkeit nicht vertraut ist.

Ich habe mir erlaubt, die Geschichte meiner privaten Sammlung einzuverleiben - weil ich daraus lernen kann: nicht nur stilistisch...

LG Franz
 



 
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