Holzhacken

Anton Zamka

Mitglied
Holzhacken​



"Wald, Hochwald, Holzfällen, das ist es immer gewesen."
(Bernhard)



Wenn du den Keil in den ersten Schnitt, vielleicht mit drei ganz seichten Schlägen, gerade so tief setzt, dass der Schnitt offen bleibt und die Säge nicht klemmt, dann den zweiten Schnitt, also den Rest sägst, hängt der Baum nur noch an einem knappen Zentimeter dicken Holzstreifen. Jetzt endlich fängst du an, den Keil hineinzutreiben, und du weißt, jeder Zentimeter, den du den Keil in den Schnitt drängst, bedeutet einen Meter Kronenbewegung. Dann ist es schon zu spät. Bis zum Keil setzen kannst du noch aufhören, kannst noch verschwinden, sobald du aber den ersten Schlag auf den Keil gesetzt hast, gibt es kein Zurück mehr.

Die Hände waren verharzt und ich roch nach Tanne. Als ich angeradelt kam, mein Fahrrad an eine der Säulen lehnte, wurde gerade die Pforte aufgeschlossen. Fein! -, freute ich mich, ich wäre allein. Aber ich kannte sie, immerfort war ich im Winter hier gewesen, hatte geschaut, abgezeichnet, verglichen. Prof. Häsels Gemälde waren mir so vertraut, als hätte ich sie gezeichnet.

Gleich nachdem ich wieder einmal als Waldarbeiter gewirkt hatte, ich endlich wieder gesägt und gekeilt hatte, war ich in die Galerie geradelt. Zwar hatte ich den Häsel schon längst verinnerlicht, ihn vielleicht schon überholt, trotzdem schien mir die Idee, gerade hierher zu kommen, zwingend.

Alle Griffe waren automatisch, in perfekter Manier vor sich gegangen. Erst hatte ich den Stamm von allerlei Brombeergerankel befreit, mir das Ziel genau ausgeschaut und eine Kerbe millimetergenau in das Holz geschlagen.
Prof. Häsel hätte nach seiner Südamerikareise, so die Presse, die packenden Erlebnisse, „realitätsnah, ohne jemals in Pathos zu verfallen“, abgebildet. Figürlich, wie für ihn typisch, wenig abstrakt, fast glaubte man auf einigen Bildern den Meister selbst zu erkennen. Auf der Leinwand „Erdbeben in ChiChu“ erklomm der Professor einen Felsbrocken. Mit der einen Hand krallte sich das brillenverzerr-te Gesicht am Stein fest, die Freie zog zwei Kinder hinterher. Rund um den Felsen war das größte Chaos ausgebrochen: Abgründe, riesige Flammenfontänen und Sterbende allenthalben.
Vor dem „Erdbeben in ChiChu“ sitzend, dachte ich, Erika hätte mir alles verdorben. Stank ich nach Benzin, sagte sie: „Mmh… ab ins Bett“. Arbeitsklamotten: „Nie sahst du besser aus!“. Redete ich über Farben, fingerte sie mir am Reißverschluss herum.
Mit ihr hatte alles angefangen und aufgehört. Sie würde gerne meine Bilder sehen, sagte Erika und war mit brachialer Gewalt in mein Leben eingedrungen. Eine zeitlang, vielleicht als eine Art Schonfrist, sagte sie: „Nein, ich gehe und du musst malen!“. Später, da sie gewissermaßen meine Zuneigung gewonnen hatte, blieb sie stur. Beharrte trotzig auf gemeinsamen Abenden. Schickte ich sie fort, wurde sie augenblicklich traurig. Wo waren ihre Freunde? – sie wäre doch normal, keine Künstlerin zumindest, sondern Bäckerin. Kaum aber waren wir ein Paar, interessierten sie die Freunde nicht mehr. Sie liebte meine Eigenheiten, meine Malerei, doch begriff nicht, nähme sie mich weiterhin so ein, würde ich alsbald ein normaler Trottel werden.
Die Gänge waren leer und da ich als Besucher bekannt war, vielleicht als Häsels Meisterschüler betrachtet wurde, verwischte ich die klammernde Hand am Fels mit meinem Harz-Schweiß-Gemisch. Das Resultat betrachtend, dachte ich, es wirke jetzt tragischer. Er würde sich und die Kinder versuchen zu retten, ja, doch würden sie nun gleich alle drei unweigerlich hinten über in den Abgrund fallen.

Wie ich Erika eines Morgens half die Brötchen auszufahren, hatte ich den Prof. Häsel das erste Mal gesehen. Die halbe Nacht hatte ich fieberhaft am „polnischen Sommer“ gearbeitet. Endlich war mir der Durchbruch in der Haargestaltung gelungen. Dem Betrachter den Rücken zugekehrt, stand Erika am Zugfenster und betrachtete versunken den Sonnenuntergang. Ihre rotbraunen Haare gingen eine farbsymbiotische Beziehung zum Licht ein. Durch allerlei Strukturen und Übermalung sah ihr Haar, je nachdem ob es von der Morgen- oder Abendsonne angestrahlt wurde, verschieden aus. Mit der Morgensonne wirkte ihr Haar mehr braun und am Kopf anliegend, im Abendlicht beinahe rot und gekräuselt. Das Motiv entstand auf der schrecklichen Urlaubsreise, gleich zu Beginn. Die Reise wurde derart schlimm, dass ich mich, kaum zuhause angekommen, wochenlang vor Erika verstecken musste. In der Zeit des Versteckens malte ich das Zugfenster, einen chromblitzenden, sehr detaillierten Aschenbecher, neben den Erika später postiert werden sollte, und die Grundlandschaft im Hinter-grund. Zunächst pflanzte ich kleinere Sträucher um ein Sumpfloch. Am Rande wollte ich eine stattliche Zitterpappel setzen. Ich hatte schon die moosbedeckten Wurzelausläufer und einen Großteil des Stammes gemalt, war in Gedanken schon in die Krone geklettert, da fiel mir Erika ein und malte einen abgebrochenen Baumstumpf.
Nach der erfolgreichen Haargestaltungsnacht, in der ich im Fieberwahn mittels Eiweiß und Bienen-wachs die verschiedenen Haarschichten modellierte, hatte Erika verschlafen. Dieses Murmelschwein verschlief ständig, überhörte mit regelmäßiger Genauigkeit den Wecker, so dass ich mich nach der intensiven Malerei aufraffen musste, um ihre, eh schon zu späten, Brötchentüten auf den Gepäckträger zu spannen und durch die halbe Stadt, schlimmer noch, an ihrer Seite durch die halbe Stadt zu kutschieren. Der Eile wegen sausten wir durch den Stadtwald. Da radelten wir am Morgen durch Fichtenschonungen, deren ältere Stämme nur gedämpftes Licht auf den Grund ließen. Nebelschwaden zogen umher, alles war kalt und feucht…, kurz: Es war ungemütlich!

Schon zu Schulzeiten hackte ich nebenher Holz. Der örtliche Pizzabäcker besaß einen Steinofen und zudem einen unersättlichen Appetit auf Eichenholz. Die Wochenenden verbrachte ich im Forst, hackte bis mir Tränen kamen. Mit der Axt hatte ich vielleicht nicht die Welt betreten, würde sie aber mit der Axt verlassen. Die erste Axt lag bei uns im Schuppen und war stumpf; als Kind dachte ich aber, sie wäre scharf.
Vater, der allein in der Stadt wohnte, schickte einen Brief, er hole mich am ersten Tag der großen Ferien ab. Angeln wollten wir fahren, an einen Bergsee für zwei Wochen. So stand ich als Bub schon am Mittag ganz aufgeregt mit dem Köfferchen auf der Hofeinfahrt. Bald saß ich, bald lag ich. Mutter rief zum Essen. Später zum Kuchen.
Na, ich inspizierte die nähere Umgebung. Ärgerte die Ameisen, guckte den Kaulquappen im Graben zu. Entdeckte die Traubenkirsche. Die Traubenkirsche war der erste Baum meines Lebens. Reißt man ein Stück Rinde ab und zerreibt es zwischen den Fingern, riecht es derart bitter, wie nichts. Abends rief Mutter: „Komm rein, Papa bleibt weg!“ Ich weiß nicht mehr wann, vielleicht Tage, vielleicht Monate später hackte ich die Traubenkirsche um. Ganz stümperhaft schlug ich mal da, mal dorthin, bis der Stamm rundherum angefressen unter Zuhilfenahme aller kindlichen Kräfte einknickte.

Prof. Häsel hatte ich das erste Mal im Stadtwald gesehen, als ich mit der Erika die Brötchen ausfuhr. Es war eine kurze, magische Szene und ich dachte, dass der Häsel und ich dadurch verbunden wären. Ich hatte im düsteren Fichtenwald gehalten, um mir eine Zigarette zu drehen. Irrsinnig schlecht gelaunt war ich gewesen, Erika schwitze aus jeder Pore und ich begann ihr ganzes Brötchensein an sich in Frage zu stellen.
Zwischen den Fichten waren wir gestanden, Nebel umfloss unsere Beine und Erika, die Nimmersatte, kaute auf einem Brötchen herum, da kam von hinten eine Art Lichtgestalt, nämlich Prof. Häsel auf dem Rad daher. Ich kannte ihn aus der Presse. Die magere Gestalt, das zerfurchte Gesicht. Neugierig schaute er uns, schaute er mich an. Ich denke, es lag ein leichtes Grinsen, ein minimales Sympathiebe-kunden auf seinen Lippen, das mir schließlich den Tag rettete, vor allem aber darin bestärkte, mich endlich an Häsels Kunstakademie zu bewerben.

Immer schon lag eine Künstlerseele in mir. Meine Jugendfreunde, die ebenfalls alle Waldarbeiter wurden, waren gröber und hatten für meine Malerei nichts übrig. Sie waren solche, die eine Motorsäge im Kofferraum herumfuhren. Eines Nachts verweigerte ihnen irgendein Klauselwirt die nächste Runde, er war einfach müde und wollte dichtmachen, da gingen sie wütend hinaus. Kamen aber gleich wieder und sägten seinen Kirschtresen in der Mitte durch. Solcher Art waren meine Jugendfreunde. Ich hatte mich an ihren Grobheiten nie beteiligt. Eher war ich allein mit der Axt unterwegs, das Hacken war immer auch eine künstlerische Sache. Manchmal, als ich schon in der Stadt wohnte, saß ich im Park und begutachtete die Baumstruktur. Mein ästhetisches Auge vermag allzu schnell den schlechten Wuchs, den Baum an der falschen Stelle ausmachen. Ich hätte Landschaftsarchitekt werden können, wurde es aber nicht, weil ich dachte, ich wäre es schon. So kam ich in dunklen Morgenstun-den wieder und hackte das Missratene um. Das punktgenaue Holzfällen brachte in den Parkanlagen auch mehr Spaß. Parkbänke waren eine Weile die bevorzugten Ziele. Ich mochte Spaziergänger nicht, vor allem aber krachten die Bänke so schön.

„Ihre Begeisterung für die Malerei spürt man!“, sagte der Professor neben Prof. Häsel. „Aber wir würden gerne wissen, wo sie hinwollen. Auf welchem Stand Sie gegenwärtig sind, wer Sie beeinflusst hat. Lesen Sie Philosophie? Aber vor allem interessiert uns: Wohin wollen sie mit Ihrer Malerei?“
„Ich male für mich. Ich bin mehr der praktische Typ. Philosophie“, dachte ich, habe ich nie gelesen, „ist mir zu trocken. Ich glaube, ich habe meine eigene Philosophie. Wenn ich draußen sitze und die Natur betrachte. Malen kommt bei mir von innen, ich bin mir nicht sicher, ob ich mich überhaupt beeinflussen lassen will. Durch Bücher und so.“
„Wir glauben“, sagte der Nicht-Häsel-Professor, „für Ihr Alter sind Sie nicht tief genug eingedrungen. Auch theoretisch. Hier bewerben sich Neunzehnjährige, die wissen schon soviel, haben ganz genaue Vorstellungen. Bei Ihnen macht es den Eindruck eines Gefühls. Sie wollen. Aber warum Sie wollen, glauben wir, wissen Sie selbst nicht.“ Mir fiel darauf nichts ein. Vielleicht stimmt es, vielleicht nicht, ich verlor langsam die Nerven: „Das ist also eine Ablehnung?“
„Ja, gegenwärtig sehen wir Sie nicht an der Akademie. Lernen Sie, besuchen Sie einen Zeichenkurs an der Volkhochschule. Lesen Sie vielleicht Philosophisches zur Kunst. Sie können sich selbstverständ-lich später noch einmal bewerben. Das steht Ihnen frei.“
Den Häselblick nahm ich mit hinaus. Seinen Blick, der sagte, es tut mir leid, oder aber, du bist nicht gut genug. Das wusste ich nicht. Aber ich wusste, dass ich mehr als alle anderen Künstler wäre. Die, die nur reden und abstrakte Dinge malen. Die werden genommen. Die malen abstrakt, weil sie sonst nichts wüssten, außer Karos.

Den „polnischen Sommer“ lies ich in der Akademie liegen. Sein Fehlen fiel mir erst auf dem Rückweg auf. Es fuhr sich so leicht. Zurückkehren traute ich mich aber nicht. Vielleicht würde ich am Abend noch einen Anruf bekommen, Prof. Häsel wäre das vergessene Bild aufgefallen. Dass die untergehen-de Sonne Erikas Haar rötlich aufschimmern ließ, diesen Effekt hatte er ja naturgemäß, am Nachmittag, gar nicht sehen können, jetzt, da er ihn sieht, würde er meine Ablehnung bereuen, vielleicht eine Notsitzung einberufen und am Abend erleichtert anrufen. Sich gar entschuldigen, nicht zu sehr, er ist Professor, dennoch würde er endlich die Tiefe unserer Verwandtschaft spüren. Wenn ich erst an der Akademie wäre, würde ich gewiss bald nicht mehr nur Schüler sein, ich würde mich auch um die Gartengestaltung kümmern. Prof. Häsel würde ich eine Gartenlaube bauen, mit einem verschlungenen Weg aus Tannen. Die großen Eichen über Hängebrücken miteinander verbinden, so dass der Professor und ich abends über die Hängebrücken spazieren würden und in einem der Baumhäuser Tee trinken könnten. Eine luftige Plattform würde ich als Atelier bauen. Mit zwei Sesseln zur Autobahn gerichtet, da nachts die Autoschlangen so hübsch leuchten. Zum Todestag von Prof. Häsel würde ich ein Hügelgrab schaufeln und große Felsbrocken darauf stellen.
Abends um zehn hatte nur einmal das Telefon geläutet, die Erika wünschte mir eine gute Nacht. Da sah ich alle Bäume mikadoartig auf die Akademie fallen. Das Fahrrad von Prof. Häsel begrub sich unter einer Marmorsäule und ich sägte die Alleebäume an den Zufahrtsstraßen nieder.

Im Stadtwald war es finster am Morgen. Nebelschwaden kletterten an den Beinen empor und ich schwitzte beim Hacken nass. Den Fallkerb hackte ich millimetergenau Richtung Weggabelung. Der Fallkerb ist die ganze Sache beim Holzfällen, ist der Fallkerb misslungen, möchte ich immer am liebsten abhauen oder einen anderen Baum nehmen. Der Fallkerb bestimmt die Fallrichtung. Er gelang mir ausgezeichnet und ich drehte mir eine Zigarette. Als ich einen Specht hörte, sägte ich den ersten Fällschnitt. Schlug den Keil nur ganz leicht ein und sägte vorsichtig weiter, ich ahnte, fünf ordentliche Schläge auf den Keil und der Baum kommt ins Wanken. Niemand war zu sehen und ich überprüfte noch einmal den Fallkerb, ging auf die Weggabelung. Von der Gabelung hatte man eine gute Sicht, ich drehte mir eine Zigarette und gerade als ich Feuer suchte, sah ich ihn schon um die Ecke radeln. Ich renne zurück und finde die Axt nicht. Da liegt sie, du Idiot! – vorsichtig spähe ich noch mal hinterm Baum hervor und sehe den Häsel ganz genügsam näher kommen. Mit der stumpfen Axtseite schlag ich auf den Keil. Jeder Schlag bringt den Baum ein Stück mehr in Schieflage. Zuerst zittert die Krone, dann langsam öffnet sich der Schnitt von hinten. Knirschend beginnt der Stamm zu kippen, ich gebe dem Keil noch einen letzten Hammer und trete zurück. In Zeitlupe fällt der Baum auf die Gabelung. Er ist so mächtig, dass er im Fallen noch eine schwächere, aber haushohe Birke mitreißt.

Beim Anblick vom „Erdbeben in ChiChu“, dachte ich, Prof. Häsel hätte sein entsetztes Gesicht gut getroffen. Den entstellten Brillenblick nach oben, ja, so hatte ich ihn auch gesehen. Eine draußen vorbeifahrende Sirene beschleunigte meinen Puls. Doch die Ruhe der Galerie kehrte zurück. Auf „ChiChu“ konnte ich mich nicht mehr konzentrieren. Meine Gedanken fanden sich auf einer Autobahn wieder. Beidseitig wuchsen Kiefern, alle windschief und mit vorgebender Wurfrichtung auf den Asphalt. Ich sägte erst die Kiefern hinter mir um, dann vor mir. So war die ganze Autobahn versperrt und ich musste immer weiter sägen, da die Feuerwehr, hintendran die Polizei, versuchte, sich zu mir durchzusägen. Als ich auf beiden Seiten genügend Schutzwälle hatte, ging ich einfach querfeldein, ab und zu legte ich einen Baum um, um die Verfolger aufzuhalten. Ich dachte, ein Leben braucht immer einen theoretischen Fluchtpunkt. Kanada.
 



 
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