I Can See For Miles

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Bad Rabbit

Mitglied
Die Uni hinter ihm, hundertsechzig Sachen auf der Autobahn und The Who als Soundtrack. Gaaanz laut. Manchmal war das Leben für eine kurze Zeitspanne absolut perfekt.
Für Tom begannen und endeten diese Abschnitte jeden zweiten Freitag und Montag.
Es war eine gute Woche gewesen: In den Vorlesungen gut mitgekommen, Dienstag Abend Pokern mit den Jungs aus dem Wohnheim (Elena war seine beste Freundin, was sie auch zu so etwas wie einem „Jungen“ machte), und am Donnerstag hatte eine Band im Tivoli Songs von The Doors und Spirit gecovert. Und dennoch fühlte er sich dort eingesperrt. Keine Gitter, nur die unsichtbare Eisenkette um seinen Brustkorb, die ihm allmählich den Atem nahm. Doch das alles war nun egal. Er war unterwegs, und er würde jede Minute genießen. Die Stunde bis zu seinen Eltern ging immer sehr schnell vorbei, denn er gehörte zu den Menschen, die ungern langsam fahren.
Doch an diesem Tag würde er länger brauchen.
Der Verkehr wurde langsam dichter, Tom langsamer, und irgendwann begannen die anderen Fahrer, ihre Warnleuchten einzuschalten. Dann: Totaler Stillstand.
Tom schaltete den Motor aus und stieg aus seinem Skoda Fabia. Er hob sein Gesicht und genoss für ein paar Sekunden die Wärme und, durch seine Sonnenbrille, den Anblick der Sonne, bevor er wieder auf die Straße sah.
„Der längste Supermarktparkplatz der Welt“, murmelte er und stieg wieder in sein Auto, wo er das Radio einschaltete und nach einem Sender suchte, auf dem Verkehrsfunk lief.
„ … und hier ist Karl Eberhardt mit den aktuellen Verkehrsnachrichten. Es gibt einiges zu melden auf sächsischen Highways. Der Verkehr auf der A4 fließt wieder, aber dafür gab es einen schweren Unfall auf der A72 in Richtung Chemnitz, direkt an der Abfahrt Stollberg. Zur Zeit sind dort zwei Kilometer Stau. Vollsperrung. Bitte fahren Sie schon vorher ab. Auf der B196 ...“
„Du bist spät dran, Kumpel.“
Tom schaltete wieder auf den CD-Player um.
Shit, dachte er. Machen wir das Beste draus.
Das Thermometer zeigte sechsundzwanzig Grad. Perfekt. Er stieg aus, ging zum Kofferraum und holte eine Decke heraus, die er sich besorgt hatte, nachdem an einem Abend im letzten Winter die Autobahn komplett vereist gewesen war und er sechs Stunden für die vierzig Kilometer nach Hause gebraucht hatte.
Diesmal breitete er sie neben seinem Auto auf der Straße aus. Dann zog er sein T-Shirt aus und machte es sich bequem.
Sein bescheidenes Soundsystem (Serienausstattung, mit Skodalogo auf dem Radio) mühte sich mehr oder weniger erfolgreich ab, die CD in maximaler Lautstärke einigermaßen erträglich wiederzugeben.
„... I can see for miiiles and miiiles and miiiilesss ...“
Roger Daltray ist ein Gott und die Whos sind seine Engel.
Er streckte sich und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. Wenn man schon an so einem tollen Tag im Stau steckte, dann sollte man das irgendwie genießen.
Er schaute zu einem Auto, das in der Spur links von ihm stand. Ein schwarzer Ford mit einer hübschen Blondine auf dem Beifahrersitz. Er hob kurz seinen Kopf, um auch den Fahrer sehen zu können. Es war die Standardausführung: Sonnenstudio-braun, muskulös, kurz geschorene Haare, Ohrring, viel zu enges weißes T-Shirt. Wahrscheinlich trug er eine Gürteltasche, wenn er in der Disco zu irgendwelchem Technomist tanzte.
Schubladendenken rulez, dachte Tom und lachte leise. Die beiden unterhielten sich. Er gestikulierte wild, während sie einfach nur genervt aussah. Die Blonde war scharf und bot Tom für einige Minuten einen netten Anblick. Gott segne den Erfinder der Sonnenbrille.
Staus waren lästig, keine Frage, doch dieser hier konnte ruhig noch etwas länger dauern.
Er hatte es nicht eilig, zu seinen Eltern zu kommen. Das Drehbuch für das bevorstehende Wochenende war in seinem Kopf bereits fertig:
Verkrampfte Gespräche, Vorwürfe, ihm beim Trinken zusehen, sich möglichst ruhig verhalten um keinen Streit zu provozieren (was sehr schwer war, wenn schon eine Scheibe zu viel Wurst auf dem Brot als Egoismus ausgelegt wurde und eine Predigt samt Beschimpfungen und umher fliegendem Geschirr bedeutete) und am Sonntag wieder verschwinden. Eine kurze lange Zeit.
Wir wollen dein Bestes. Mach nicht die selben Fehler wie wir. Wir wollen dich nicht kontrollieren, du sollst nur ein paar mal am Tag eine SMS schreiben oder anrufen. Du brauchst keine Freundin, du musst dich auf dein Studium konzentrieren.
Ihm wurde langweilig. Seine Mutter konnte vielleicht eine Stunde reglos in der Sonne schmoren, doch er brauchte immer irgendeine Beschäftigung. Er stand auf und zog sich sein Shirt wieder an, packte die Decke weg, dann schaltete er das Radio aus und schloss den Wagen ab.
Das Schild, laut dem die Abfahrt noch einen Kilometer entfernt war, stand nur ein paar hundert Meter weiter.
Gehen wir ein Stück.
Auf dem Weg zur Abfahrt kam er an einigen Lastern vorbei. Er hätte gern bei einem an die Tür geklopft und den Fahrer gefragt, ob er über Funk irgendwelche Neuigkeiten gehört hat, aber sie hatten alle polnische oder litauische Kennzeichen.
In einem Stau die Fernfahrer nach Informationen zu fragen gehörte zu wenigen nützlichen Sachen, die er von seinem Vater gelernt hatte.
Der Mistkerl war ein mieser kleiner Möchtegern-Napoléon und Westentaschenphilosoph, aber auf der Straße kannte er sich aus wie kein Zweiter.
Der große und bedeutende Berufskraftfahrer! Hört ihm zu, er weiß Bescheid!
Warum wollte sie sich gleich nochmal NICHT scheiden lassen? Nun, er konnte wenigstens erklären, wie schwarze Löcher entstehen.
Die Frage, warum er sich das antat, konnte er zwar beantworten, aber die Antwort schmeckte verflucht bitter.
Nach der Hälfte des Weges traf er auf eine Kolonne von fünf Trabis. Ein paar waren mit Aufklebern übersät, aber jeder von ihnen hatte eine Plakette mit der Aufschrift „IFA-Club Aue/Schwarzenberg“ auf der Stoßstange. Die Fahrer saßen rauchend und Bier trinkend auf Campingstühlen neben ihren kultigen Dreckschleudern und unterhielten sich. Die Stimmung war wirklich gut.
„Hey, Leute!“, rief Tom und nickte der Gruppe zu.
Einige erwiderten den Gruß, indem sie ihm zuprosteten.
„Wisst ihr, was da los ist?“
„Da ist irgendein Motorradfahrer verunglückt. Muss übel sein, denn vorhin ist ein Hubschrauber gelandet.“
„War einer von euch mal vorne? Ist die Abfahrt echt dicht?“
Tom hatte mit dem Gedanken gespielt, auf dem Seitenstreifen bis zur Abfahrt zu fahren und dann die Bundesstraße zu nehmen.
„Ja“, sagte ein Typ mit einem Piercing in der Unterlippe. „Da geht nichts mehr. Willst du ein Bier?“
Einige seiner schlechtesten Erinnerungen hatten mit Bier zu tun. Stinkender Atem, wenn einem Drohungen ins Ohr geflüstert wurden.
„Nein, danke.“
Tom verabschiedete sich und ging weiter. Nach einigen hundert Metern konnte er den Helikopter sehen. Die Abfahrt schien frei zu sein, wurde aber von einem orangen Laster, wahrscheinlich von der Autobahnmeisterei, blockiert. Die Polizei und Rettungskräfte parkten auf dem Seitenstreifen hinter der Abfahrt.
Neben Tom standen einige Jugendliche, offenbar ein paar Jahre jünger als er. Sie gehörten zu einem schrottigen Honda Accord. Eine Fahrgemeinschaft.
„Hey, wie geht’s?“, fragte er ein Mädchen aus der Gruppe.
„Gut. Echt heiß, was?“
„Scheiße, ja. Ihr seid auch aus Chemnitz?“
Er hatte das Kennzeichen gesehen.
„Ja. Wir machen in Zwickau eine Ausbildung zu Diätassistenten.“
An der Art wie sie sprach erkannte er, dass sie nicht das hellste Licht am Leuchter war.
Wäre sie attraktiver gewesen, hätte er vielleicht mit ihr geflirtet, aber so entschied er sich, sie in Ruhe zu lassen. Sie hatte offensichtlich auch kein Interesse an einem Gespräch, denn sie holte ein Handy aus ihrer Tasche und begann, wie wild darauf herum zu tippen.
Der Hubschrauber. Herumlaufende Menschen in grün und rot-gelb.
Zwei der Rot-Gelben trugen etwas zu dem Hubschrauber. Eine Trage.
Kurz nachdem er sie nicht mehr sehen konnte, startete das Triebwerk des Hubschraubers. Langsam begannen die Rotoren, sich zu drehen. Es erinnerte ihn daran, dass er Hubschrauberpilot bei der Armee werden wollte. Leider waren seine Augen zu schlecht.
Alles in allem war das ein guter Nachmittag. Für Tom. Das arme Schwein da vorne hatte den Preis gezahlt.
Alles Gute, Kumpel.
Er machte sich auf den Rückweg.
Als er das Knattern des Triebwerks hören konnte, drehte er sich noch einmal kurz um und sah, wie der Helikopter abhob, dann ging er weiter.
Oh man, die werden die Straße bestimmt gleich wieder freigeben.
Nur ein Gefühl. Trotzdem begann er, zu laufen.
Er passierte Lastwagen, Trabis, Wohnmobile, Protzkarren, Schrottkarren und erreichte schließlich sein Baby Zwei (Baby Eins war sein Hund).
Er hatte richtig gelegen: Nur kurz nachdem er sich angeschnallt hatte, begann der Verkehr wieder zu rollen. Der bunt glänzende Gletscher setzte sich allmählich in Bewegung, und nach einem Kilometer konnte er schon wieder hundert fahren ohne seinem Vordermann auf die Pelle zu rücken.
Er schlingerte ein wenig, als er am Radio herumfummelte, um ein anderes Lied zu suchen.
Seine Wahl fiel auf Magic Bus.
Die Uni hinter ihm, die Autobahn vor ihm.
Immer der Big Sky entgegen – jedenfalls für die nächsten zwanzig Minuten.
 

gerian

Mitglied
Hallo Bad Rabbit,
der Einstieg deiner Geschichte klingt gut (und der Leser erfährt, dass da ein auktorialer Erzähler spricht, schreibt).

Alles in allem erscheint mir deine Geschichte eher als eine Berichterstattung, weniger eine Kurzgeschichte.

Das mit der Rückblende zu den Vorlesungen ist ohne Bedeutung, kannst du weglassen, denn es fügt sich kaum in die Geschichte, die dein Erzähler erzählt.

Ich verstehe nicht: " und dennoch fühlte er sich dort eingesperrt..."
"doch das alles war ihm nun egal."

Im Absatz berichtest du, dass er unterwegs sei und "würde jede Minute genießen...?

Das bist du allerdings dem Leser schuldig geblieben, warum?

Deine Geschichte verliert sich in vielen Szenen und sie hat nichts von dem, was eigentlich eine Geschichte ausmacht, ohne Spannungsbogen, nur Berichterstattung auf dem "sächsischen Hightway."
Eigentlich passiert nichts.
Außer technokratische Selbstbetrachtung, oder so.

Versteh mich bitte nicht falsch. Aus diesem Plot kannst du wesentlich mehr machen.

Grüße
Gerian
 

Bad Rabbit

Mitglied

Ich verstehe nicht: " und dennoch fühlte er sich dort eingesperrt..."
"doch das alles war ihm nun egal."

Im Absatz berichtest du, dass er unterwegs sei und "würde jede Minute genießen...?

Das bist du allerdings dem Leser schuldig geblieben, warum?


Das steht alles drin, auch wenn es nicht explizit genannt wird. Ich mag es nicht, wenn dem Leser Informationen mit der Holzhammermethode verpasst werden. Man kennt das ja, wenn möglichst viele persönliche Informationen und dann vielleicht noch der familiäre Backround in einem Absatz ausgebreitet werden. Das von dir Angesprochene wird im Text behandelt. Der Junge will nicht ankommen, fährt aber aus Gewohnheit und Pflichtgefühl nach Hause. Immer lastet dieser Erwartungsdruck auf seinen Schultern.

Spannungsbogen ... du wirst in dieser Rubrik wenige im klassischen Sinne "spannende" Geschichten finden.
Es handelt sich hier um einen kurzen Ausschnitt aus dem Leben eines Menschen, und da passiert grade nicht viel.
Es ist eher eine Art Selbstreflexion. Eher was zum chillen.

Trifft wohl entweder einen Nerv oder nicht.

MfG
Tim
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo bad rabbit,
mir gefaellt der ton in dem der erzaehler
deines textes spricht.
hat was von kerouac " ON THE ROAD" - kennst du moeglicherweise -

zwei dinge :
wie gerian sagte , kann man der geschichte vorwerfen das sie sich nicht bewegt. du sagst das sei absicht. es sei nur eine szene.
das ist dein gutes recht. ist aber auch irgendwie schade.
denn gerade aus dem stau als hintergrundbild, liesse sich
auf emotionaler ebene beim prot eine menge bewegen.
in sofern waere das bild des durch den stau laufenden prot.
ein hervorragender ansatzpunkt, den du aber nicht nutzt.

zum anderen:

der gesamte abschnitt, der den blick in die zukunft zeigt;
sprich wochendende zuhause, stress mit eltern etc. bringt die szene nicht vorran. ganz im gegenteil sie ist sogar sperriger
als der stau.
ich habe die geschichte fuer mich ohne diesen absatz gelesen
und empfehle dir das auch mal zu machen.
der text bekommt gleich mehr fahrt.

lesevorschlag: bis.... Staus waren laestig.Keine Frage...
lassen

dann streichen bis: Seine Mutter konnt vielleicht stundenlang...

all in all

hit the road jack

gerne gelesen
ralf
 

Bad Rabbit

Mitglied
Hallo Ralf!

Danke für deinen Kommentar und schön, dass es dir gefallen hat.
Die von dir bemängelte Stelle ist sehr wichtig, weil sie hilft, den Prot zu verstehen.
Grade diese Stelle wurde auch in einem anderen Literaturforum gelobt ... und die ganze Geschichte wurde auch anders ... richtig ... verstanden.
Ich glaube, sie ist so persönlich, dass sie nur jemand versteht und gut findet, der sich mit dem Prot wirklich identifizieren kann. Ist nicht für die breite Masse, aber so war es auch nicht gedacht. Es wurde erzählt, was erzählt werden musste.

Zur Handlung: Was soll da noch rein? Ich hab keine Idee. Schließlich ist es nur ein Stau.

MfG
Tim
 

Ralf Langer

Mitglied
hallo,
ist nur so ein gedanke:

zu allererst: ich persoenlich habe eine gewisse vorstellung
von einer kurzgeschichte.
Ich nenne es die E.P. Ebene.

E.P. steht fuer existentielle Problematik.
Was meine ich?
Nun der prot in einer short story, hat im rahmen der geschichte ein Problem das sein Leben angreift, den Alltag stoert. Die Schwere ist zweitrangig. Aber es ist dieser eine Punkt im Leben. Mit moeglichst Einheit von Ort, Zeit und Handlung.

Die Kurzgeschichte beschreibt diesen Punkt, loest ihn, oder laesst den prot scheitern. Moeglicherweise auch etwas anderes?!?

Darauf liegt der Fokus einer Kurzgeschichte.
(meinen erwaegungen nach)


nun zu deiner geschichte:

E.P vom Prot.:
Eben jene Zeilen die die Situation zu Hause beschreiben.
Man koennte sagen sein Leben hat sich aufgestaut zu Hause.
Die immergleichen Rituale mit den Eltern. Das aneineander vorbeileben , der streit,etc.
Daraus liesse sich was machen. In einer geschichte wohlgemerkt. Nicht unbedingt im wirklichen Leben.
Aber es ist ja nun mal eine Geschichte.

Der Stau auf der Autobahn ist eine schoene Metapher fuer den Stau in seinem Leben.
Was koennte in einem Stau passieren, das das Leben des Prot in eine andere Richtung draengt?

Ein ausgeschilderter Umweg wegen der Vollsperrung?
Eine Erkenntnis beim Anblick des verunglueckten Motoradfahrers?
Das Laecheln eines Maedels aus einem der Autos?

Ich weiss es nicht.
Wie gesagt Ansatzpunkte sind da.

Aber es ist deine Geschichte,
die ich nach wie vor gerne gelesen habe
lg
ralf
 



 
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