Ich denke oft an Flocke

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Die etwas andere Weihnachtsgeschichte

Ich denke oft an Flocke.

Aber immer dann, wenn der Herbst sich mit all seiner Farbenpracht verabschiedet und der Winter Einzug hält ins Land, dann denke ich besonders oft an ihn. Und hier beginnt Sie, meine Weihnachtsgeschichte.

Es war an jenem kalten frostigen Dezemberabend vor genau vier Jahren. Das kleine Dorf in dem ich mit meinen Eltern wohne, bereitete sich auf das nahende Weihnachtsfest vor. Nur noch drei Tage bis Heiligabend. Ich mochte diese Zeit so kurz vor Weihnachten besonders gern. Die meisten Menschen hatten ihre Weihnachtseinkäufe erledigt, die Häuser geputzt und dekoriert, die Plätzchen gebacken und auch der Weihnachtsbaum stand fix uns fertig geschmückt im Wohnzimmer und wartete auf seinen Lichtereinsatz. Ringsherum kehrte endlich Stille ein in die Häuser der Menschen. Stille, Behaglichkeit und Frieden.

Im offenen Kamin im Wohnzimmer prasselte gemütlich ein Feuer vor sich hin und die wohlige Wärme und der unverkennbare Geruch verbrennenden Holzes strömten bald durchs ganze Haus. Eingekuschelt in meinen Sessel sah ich zufrieden den hell auflodernden Flammen zu, wie sie gierig an den glühenden Holzstücken züngelten.

Draussen vor dem Fenster fielen lautlos die ersten kleinen, weißen Schneeflocken von einem schneeverhangenen Nachthimmel herab und streiften im Nu der Wiese und dem dahinter liegenden Wald ein weißes, glitzerndes Winterkleid über. Als hielte die Natur vor lauter Bewunderung über diese neue weiße Pracht den Atem an, störte kein Geräusch, kein einziger Laut bis auf das leise Knistern im Kamin diese sich langsam ausbreitende, erholsame und sehr friedvolle Stille.

Ich weiß nicht, wie lange er da unten am Waldesrand unter der dicken Eiche im Schneegestöber gesessen, und mit seinen großen, traurigen Hundeaugen zu mir in das warme kuschelige Wohnzimmer hinaufgeschaut hat. Es war wohl eher ein Gefühl als die Gewissheit beobachtet zu werden, dass mich plötzlich aufstehen, und auf die Terrasse hinaustreten ließ. Und es war auch ein Gefühl, das mich direkt zu der dicken verschneiten Eiche hinüberblicken ließ. Da hockte er. Seinen Anblick werde ich wohl nie wieder vergessen können. Ganz still sass er da. Es war noch nicht mal sein Äußeres, warum mein Herz sich gleich auf so schmerzliche Weise zusammenkrampfte. Ich mochte Hunde, liebte ihr freundliches, lustiges verspieltes Wesen. Aber dieser Hund, der sich da draußen zitternd vor Kälte fest an den Stamm des dicken Eichenbaums presste, war anders. Sein Fell unter dem abgemagerten Körper sah sehr stark mitgenommen aus, hier und da wies es sogar kahle Stellen auf. Sondern es war vielmehr die Art, wie er dort sass. Voller Scheu und Demut traute er sich zuerst nicht, mich anzusehen. Seine Nase berührte fast den eingeschneiten Boden so tief ließ er seinen Kopf hängen und diese unendliche Traurigkeit, die von ihm ausging, stockte mir fast den Atem.

Er hat bestimmt Hunger, schoss es mir durch den Kopf. Auf dem Absatz machte ich kehrt, eilte zum Kühlschrank, zerrte hastig ein paar Wurststücke hinaus und eilte wieder auf die Terrasse zurück. Meine Sorge, dieses mitleiderregende Etwas auf vier Pfoten könnte in der Zwischenzeit in dem dunklen Wald verschwunden sein, erwies sich als vollkommen unbegründet. Nach wie vor hockte er zitternd unter der Eiche, wo eine Schneeflocke nach der anderen langsam sein braunes Fell bedeckte.

Er kam nicht gleich. Mit den Wurststücken in meiner Hand verließ ich die Terrasse und ging mit langsamen, vorsichtigen Bewegungen auf ihn zu. Immer noch schaute er mich nicht an. Aus Angst, er könne weglaufen, käme ich ihm zu nahe, blieb ich ein paar Meter vor ihm stehen. Um eine engelsgleiche Stimme bemüht, versuchte ich ihn zu locken. Aber Flocke, wie ich spontan diesen schäferhundgroßen Mischling mit dem mittlerweile zugeschneiten Fell taufte, rührte sich einfach nicht und ich hatte Scheu, ihm noch näher zukommen. Ob er wohl gespürt hat, dass ich aufgeben wollte? Denn er kam. Ganz plötzlich. Mit eingeklemmter Route und gesenktem Kopf wagte er sich Schrittchen für Schrittchen immer mehr in meine Richtung. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, als seine kalte Hundeschnauze endlich ganz vorsichtig meine ausgestreckte Hand mit den Leckereien berührte. So als könnte er sein Glück gar nicht fassen, verputzte er dankbar ein Wurststückchen nach dem anderen.

Nur zu gut erinnere ich mich noch heute an den entsetzten Gesichtsausdruck meiner Eltern, als sie spät in der Nacht nach Hause kamen und zum ersten Mal Bekanntschaft mit Flocke schlossen. Immer noch sehe ich das entsetze Gesicht meines Vaters vor mir, wie er respektvoll Abstand haltend in die Hocke ging und Flocke aus mitleidigen Augen musterte. Du armer Hund. Was hat man dir bloß angetan?

In dieser Nacht schlief Flocke neben dem Kamin im Wohnzimmer auf einer kuschelig warmen weichen Decke.

Niemand aus der Familie zögerte auch nur eine Minute. Wir wollten alle nur das eine: Flocke behalten, ihn aufpäppeln, ihm ein liebvolles Zuhause bieten und alles Menschenmögliche dafür tun, um die Qualen seiner wohl eher weniger guten Vergangenheit recht bald zu lindern. Aber natürlich konnten wir Flocke nicht einfach mal eben behalten. So klapperten wir am nächsten Tag die umliegenden Tierheime ab um sicherzustellen, dass Flocke nicht doch irgendwo ausgebüxt war und schon sehnsüchtig gesucht wurde. Bei seinem Zustand wohl eher unwahrscheinlich, aber nichts desto trotz erkundigten wir uns lieber danach. Bei dem dritten Tierheim wurden wir fündig. Die Heimleiterin freute sich sehr über das unverhoffte Widersehen mit ihrem Schützling, der sich eine Minute der Unaufmerksamkeit seiner Pflegerin zunutzte gemacht, und vorgestern einfach ausgebüxt war.

Und so erfuhren wir Tamis - wie er in Wirklichkeit hieß - Geschichte. Der Tränenflut, die uns schon sehr bald die Wangen hinunterliefen schämten wir uns alle nicht. Wir erfuhren, dass Tami einst sein Hundeleben als Straßenhund in Spanien fristete. Und zwar genau bis zu dem Tag, wo er von Tierfängern gefangen, und in eine Tötungsstation gebracht wurde. Dort lebte er einige Wochen ohne ausreichend Futter und Wasser mit anderen elendig dahinvegetierenden Kreaturen wie Katzen und Hunden in einer viel zu engen, kalten, nur aus Betonboden bestehenden, zugigen Todeszelle. Tag für Tag musste er mit ansehen, wie seine Freunde entweder von anderen Hunden zu Tode gebissen oder aber von den Menschen kurzerhand umgebracht wurden. Tami selber hatte sich schon längst aufgegeben und wartete geduldig auf seinen Tod. Damit, so endete die Tierheimleiterin hatte er sich längst abgefunden, unser Tami. Seine Befreiung gelang uns in wirklich allerletzter Sekunde.

Tami ist erst vor zwei Wochen mit dem Flieger nach Deutschland gekommen, erklärte uns die Heimleiterin weiter. Äußerlich weist er kaum Blessuren auf und für einen Hund aus einer Tötungsstation sieht er wirklich noch relativ gut aus. Aber seine Seele hat wohl unter diesen schrecklichen Dingen, die er in seinem jungen Hundeleben am eigenen Leibe erfahren musste, sehr gelitten. Wahrscheinlich wird er nie ganz über den tiefen Kummer und Schmerz, der in ihm wie ein vernichtendes Feuer brennt, hinwegkommen können. Dabei ist er so ein lieber und dankbarer Hund. Und mir scheint, dass er trotz alldem den Glauben an uns Menschen nicht ganz verloren hat, obwohl er uns wohl nie freundlich und liebevoll erleben durfte.

Wir taten alles für Tami. Wir schenkten ihm unsere ganze Aufmerksamkeit, ließen ihm all unsere Liebe und Fürsorge zuteil werden gaben ihm unzählige Schmusis und Streicheleinheiten und versuchten so, seinen Schmerz der Vergangenheit etwas zu mildern. Eine ganze Woche lang ließ er es zu. Dann, am Heiligenabend, verabschiedete Tami sich von uns. Im Kreis sassen wir um ihn auf dem Wohnzimmerboden herum; streichelten ihn, kraulten ihn. Den ganzen Tag über hatte er nichts gefressen. Schon seit gestern verhielt er sich so anders wie sonst. Wie er jetzt so dalag, kraft- und lustlos auf seiner Kuscheldecke, brach mir sein Anblick fast das Herz.

Bevor er starb, schenkte er mir einen unendlich langen sehr intensiven Blick, den ich meinen Lebtag nie wieder vergessen werde. Als erstes war mir, als wolle er sich dafür entschuldigen, dass seine Kräfte trotz der Liebe, die ihm durch uns zum ersten Mal in seinem viel zu kurzen Hundeleben zuteil wurde, nun doch nicht mehr ausreichten.

Es war ein weiter, schmerzvoller Weg in eure lieben Hände, doch ich habe zu viel erlebt, zu viel mitgemacht, ich habe keine Kraft mehr, ich muss gehen. Danke für alles, was ihr für mich getan habt, Freunde.

Aber da war noch etwas anderes in seinem Blick und ich meine, ihn verstanden zu haben. Nicht nur ich teile solch ein Schicksal. Vergesst meine Freunde nicht, die immer noch in solch einer grausamen Tötungsstation auf ihren unausweichlichen Tod warten. Helft Ihnen wenn ihr könnt, rettet ihre Seelen. So still und lautlos wie ich Tami kennen lernen durfte, so still und lautlos ging er auch von uns.

Es ist einige Zeit vergangen seit jenem traurigen Tag und es ist wieder Winter. Schneeflocken tanzen vor dem großen Panoramafenster im Wohnzimmer auf und ab. Meine Augen sehen hinaus in die Dunkelheit; der Platz unter der Eiche aber bleibt leer. Mein Blick wandert hinauf gen Himmel. Irgendwo dort oben hast du deinen Platz gefunden, Tami, und ich bete dafür, dass es dir da, wo du nun auch immer sein magst, besser geht. Dass dir all die Liebe und Wärme zuteil wird, die du hier auf der Erde so schmerzlich vermisst hast. Ich denke oft an dich, Tami. Du warst etwas ganz besonderes, auch wenn wir dich nicht lang genug auf deinem Weg begleiten durften. Auch wenn für dich unsere Liebe und Zuwendung zu spät kamen, so hoffe ich inständig, dass wir Jessis und Barnis Schmerzen lindern können, die wir aus der Tötungsstation im vergangenen Frühjahr aus Spanien bei uns aufgenommen haben.

Wir vermissen dich.
 

Tinka

Mitglied
Hallo Mariavonlinden,
In deiner Vita habe ich gelesen, dass du - wie ich - eine Tierfreundin bist! Vor diesem Hintergrund hat mich dein Text angesprochen.
Es ist eine Schande, was wir Menschen unseren Mit-Kreaturen antuen!
Schön fand ich das Stimmungsbild am Anfang.
Mit dem Rest habe ich,- obwohl: s.o. -, ein wenig Schwierigkeiten.
Ich verstehe gut, was du mit diesem Text sagen und transportieren möchtest!!
Vielleicht käme er aber besser daher, wenn du ihn ein wenig kürzen könntest. Auf die "Belehrungen" und "Erklärungen" würde ich an deiner Stelle verzichten - auch wenn sie gut und richtig sind!
Sollen die Leser doch selber nachdenken, sich mit dem Text und der Problematik auseinandersetzen. So werden sie (denktechnisch) aktiv und müssen nicht nur Vorgekautes oder Vorgedachtes verdauen - das geht zu schnell!
Liebe Grüße von Tinka
 



 
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