Ich empfinde etwas!

brain

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Oh Mann, ich glaub ich dreh noch durch!
Wie lange dauert denn so was?
Jetzt hocke ich schon seit einer geschlagenen Stunde im Schneidersitz auf dem Boden und starre meine abgetrennte Hand an, aber ich fühle nicht das Geringste.
Das ist doch nicht normal!
Ich habe sie abgeschnitten um mich zu testen, aber anscheinend bin ich durchgefallen. Nada.
Okay, der Schmerz ist da, definitiv, aber das meine ich nicht. Ich meine das Fehlen meiner linken Hand. Die Entweihung meines Tempels „Körper“.
Das Ganze erscheint mir unwirklich und fern, als hätte es nichts mit mir zu tun. So als würde ich mir einen Film ansehen. Nur ein wenig echter eben, mit all diesen Fliegen, die hier umherschwirren. Garantiert ohne Werbung oder Happy End, aber ich kann gar nicht sagen ob ich das jetzt gut so oder beschissen finde. Da ist gar nichts.
Aber ich fange besser etwas früher an.
Sagen wir…zweiundzwanzig Monate. Da hat es angefangen, ungefähr zur selben Zeit als ich J über den Weg lief. Wir gingen zur gleichen Uni und besuchten gemeinsame Vorlesungen, wie „Leben mit Lit“ und „Systematische Desensibilisierung“. Irgendwas zwischen Pädagogik und Literatur bei mir, und etwas wie Humanmedizin und Philosophie bei ihr.
Wer hätte gedacht, dass Freud und Aristoteles gefallen aneinander finden könnten? Sie hat mich auf jeden Fall voll umgehauen, und ich sie anscheinend ebenfalls, denn wir hingen danach oft zusammen rum und gingen ins Kino oder tanzen.
J mochte die Deftones, ich stand mehr auf die Stones, aber wir teilten neben unserem literarischen Geschmack auch ein paar Vorlieben im Bett. Im Februar vögelten wir uns noch munter durchs 4. Semester und bereits im März war der Drops gelutscht.
Das Positiv wich dem Negativ.
Wann es mich genau erwischt hat, weiß ich nicht. Es ging entweder zu schleichend oder zu plötzlich, als dass ich es hätte registrieren können.
Egal, es läuft ja im Endeffekt auf das Selbe heraus. Der Abgrund, denn ich lange Zeit nur aus sicherer Distanz beäugt hatte, hatte mich letzten Endes verschlungen.
Mein bisheriges seelisches Gleichgewicht hielt der näheren Betrachtung durch J nicht stand und enttarnte sich mir als eine Art paradiesische Katatonie.
Meine Leistungen in der Schule verloren in bedenklichem Umfang an Qualität. Ich aß kaum noch regelmäßig, und das ist eigentlich immer noch so, aber die Kontrolle über meine Gefühle schien noch die Meinige zu sein, ich war schlicht zu faul, zu fühlen.
Glaube ich zumindest.
Ist ja auch egal.
Seitdem verheimliche ich, dass ich nichts fühle, wenn ich sie küsse oder mit ihr schlafe, dass ich nichts empfinde, wenn ich meinen Arbeitskollegen nach Feierabend einen trinken zu gehen, und dass mir das ganze Leben an sich scheißegal ist. Aber wen sollte das interessieren?
J?
Ich habe sie tatsächlich gefragt. Ja, wirklich!
Und dann hat sie gelacht, und da…da war etwas gewesen.
Ein Stich, den ich wirklich und wahrhaftig gespürt habe.
Das alles ist fast schon eine Nummer zu krass um wirklich real zu sein, finde ich zumindest.
Und selbst jetzt…wo ist meine Freude, meine Trauer, meine Liebe?
Wo ist mein Hass?
Fehlt mir nicht etwas?
Brauche ich nichts?
Meine linke Hand vielleicht?
Oder meine Frau?
Im Film wirkt so was viel leichter.
Disziplinierter!
Wenn der Mattscheibenvorhang gefallen ist, dann werden die Hände gefälligst wieder angeklebt und die Toten stehen wieder auf.
Aber hier nicht. Hier bleiben sie liegen und fallen in die Totenstarre, der unerbittlich die Verwesung folgt.
Als sie gelacht hat, da habe ich empfunden. Dieser kurze Stich den ich gespürt habe, genau an der Stelle, an der früher einmal mein Herz…
Ich habe mir das größte WMF-Messer geschnappt, das ich finden konnte. Ein Stich, den J wirklich und wahrhaftig gespürt hat.
Jetzt liegt sie reglos vor mir auf dem Boden, wird von Insekten umkreist und versaut mit ihrem Blut das schöne Korkparkett, aber sogar das ist mir schnuppe.
Und das ist auf gar keinen Fall normal!
Glaube ich zumindest.
Wenn nur diese lästigen Fliegen nicht wären!
 



 
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