Ich erkläre mir selber die Welt

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Lemma

Mitglied
Ich erkläre mir selber die Welt. So kann ich existieren.
Ich denke mir Begründungen aus für Dinge, deren Sinn mir verborgen bleibt, damit ich nicht daran ersticke. Ich versuche, mich selber am Leben zu erhalten, indem ich mich daran klammere, was mir das Leben vorspielt.
Betäubt von dem krampfhaften Versuch, an der Oberfläche zu bleiben, sinke ich nur noch tiefer. Mein Verstand sickert in eine unbezwingbare Leere, das aussichtslose Bestreben, nicht aus den Fugen zu geraten, rinnt an mir herab wie eine zähe Masse. Die Idee, die ich mir von mir selbst gemacht habe, wird brüchig.

Ich tauche unter, Wasser umschließt mich, die Gegenwart wird tonlos und leicht. Wie einfach es wäre, die Augen zu schließen und sie nie wieder zu öffnen; und dann immer tiefer zu sinken, hinab ins Nichts...
Gibt es Orte auf dieser Welt, an denen völlige Stille herrscht, außer im Wasser?
Ich weiß, dass ich wieder auftauchen muss. Ich scheitere mal wieder an dem Punkt, an dem die stumme Gleichgültigkeit der Angst vor Kontrollverlust weicht. Bevor es dazu kommen kann, kämpfe ich mich hoch. Panik. Ich schnappe nach Luft. Wovor fürchte ich mich? Warum kann ich mich nicht fallen lassen, mich von der Ungewissheit, wie weit ich gehen könnte, umschließen lassen, bis ich plötzlich weiß, dass ich schon zu weit gegangen bin?
Und dann schweben, fort von aller Angst, in die dunkle, warme Tiefe, die ich bin.
Ich weigere mich, in mein Innerstes zu blicken, weil ich weiß, dass ich daran zerbrechen werde. Und merke nicht, dass ich schon längst zerbrochen bin an dem, was ich mir selber antue.
Die Nacktheit erschüttert die Menschen so sehr, dass sie ihr ganzes Leben alles daran setzen, sie zu bedecken, sie zu verleugnen und sie schließlich fast zu vergessen. Nur ein Hauch von Blöße klirrt in ihren Augen, hallt nach in den nichtssagenden Worten, die sie sich Tag für Tag zurechtlegen und nach denen sie ihr Dasein ausrichten.
Ich kleide meine Einsamkeit in bedeutungslose Beziehungen, ich kleide meine Unsicherheit in sinnloses Geschwafel, ich kleide meine Angst in betäubende Beschäftigungen, ich kleide mich in mein vorausgeplantes Leben, ich flüchte mich in eine maßgeschneiderte Welt, wenn mein Kleid schon in nassen Fetzen an mir herunterhängt, und wenn mich eine verletzende Wahrheit über mein zerlöchertes Selbst übermannt, dann bedecke ich meine Nacktheit mit dem Stoff, der aus einer neuen Lüge gewebt schon längst Form angenommen hat.
 
LIEBE LEMMA;
DU BIST HIER GANZ NEU UND HAST SEHR TIEFGREIFEND UND GUT GESCHRIEBEN:
BESONDERS DER SCHLUSS IST FASZIENIEREND:
HERZLICH WILLKOMMEN IN UNSERER MITTE:
ICH FREUE MICH AUF MEHR VON DIR:
HEIKE
 

arle

Mitglied
Liebe Lemma,

erst mal herzlich willkommen in der Leselupe!

Ich finde, du hast mit deinem Text sehr genau eine Stimmung geschildert, in der wir alle uns von Zeit zu Zeit befinden. Mich beeindruckt die Bildhaftigkeit deiner Sprache: Das Wasser, in das wir alle manchmal eintauchen möchten, um nichts mehr von der "Welt da draußen" hören zu müssen. Die Atemnot, mit der du die Panik vor dem Kontrollverlust beschreibst, und nicht zuletzt das Bild des zerfetzten Kleides aus Lügen. Das alles macht Lust, mehr von dir zu lesen.
 

Lemma

Mitglied
Liebe Heike

Danke, liebe Heike, für deine freundlichen Worte. Ich bin hier ja sowas von unsicher, dass eine solch liebe Antwort wirklich erleichternd ist.


Danke Mama. Aber würdest du als meine Mutter was Böses schreiben, hätte ich dich das letzte Mal besucht!


Gruß
Lemma
 

GabiSils

Mitglied
Liebe Lemma,

schade, daß wir keine Rubrik für "Lyrische Prosa" haben; deine Bilder gefallen mir sehr gut. "Nur ein Hauch von Blöße klirrt in ihren Augen" ist klasse!

Weiter so.

Gruß,
Gabi
 
ja gabi, hier haben wir in der lelu ein echtes nachwuchs potenzial bekommen nachdem es sich lohnt die finger auszustrecken.
kenne es persönlich das potenziel und behaute
genial.
heike
 

Lemma

Mitglied
Huch! Damit hätte ich jetzt aber nicht mehr gerechnet. Ich dachte, in diesen Text schaut gar niemand mehr rein.
Vielen Dank.
An mir arbeiten muss ich natürlich noch, aber ihr macht es einem wirklich leicht, hier ohne Angst einzusteigen. Das musste unbedingt mal gesagt werden!

Liebe Grüße,
Lemma
 

Gagjack

Mitglied
der Stoff, der aus einer neuen Lüge gewebt...

Liebe Lemma,
auch hier ist Dir eine schöne Geschichte gelungen.
Allein der nicht enden wollende Pessimimus, stimmt mich selbst ein wenig schwermütig.

Die von Dir benutzten Bilder sind einzigartig;
"Und dann schweben, fort von aller Angst, in die dunkle, warme Tiefe, die ich bin."

Darauf muß man erst mal kommen- toll!

Gagjack
 



 
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