Ich sammle Erinnerungen

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[ 6]Meiner Energie ist niemand gewachsen. Das war schon immer so. Ein Geschenk meiner Eltern und ich bin ganz sicher nicht böse darüber. Dem bebrillten Oberamtsrat im Bauamt ließ ich sie heute Morgen mitten in sein wichtiges Gesicht springen - wieder einmal. Zwei Stunden Kampf, dessen Ausgang bereits vorher feststand, dann waren alle Verträge unterschrieben.
Mein Blick gleitet über die restaurierten Fassaden der alten Fachwerkhäuser am jenseitigen Ufer des Pfaffenteichs. Bald wird eine weitere hinzukommen - meine Energie, gegossen in Mörtel, geformt in Stein - etwas wird bleiben von mir in dieser Stadt. Wir haben es richtig gemacht damals, als wir ihnen den Soli gaben. Sie haben es richtig gemacht, als sie ihn uns in Form von Aufträgen zurückgaben und nicht nur ihre Ämter und Behörden ausbauten. Ich habe es richtig gemacht, als ich, wie so viele andere, auf den Osten gesetzt habe.
[ 6]Ich mag die Menschen hier. Sie sind bescheiden bis anspruchslos, zuverlässig und fleißig. Gute Arbeiter. Ich habe einige von ihnen in meine Firma geholt und ihnen Arbeit gegeben. Und sie haben schöne Frauen, die auch noch zwanzig Jahre nach der Wende immer für eine Überraschung im Bett gut sind. Ihnen fehlt nur der Mut, es auch zu tun. Aber sie sind lernfähig. Wie Andrea.
[ 6]Dreißig Jahre in der muffigen DDR, drei Jahre bis zur Chefsekretärin bei mir, drei Monate, um mir aufzufallen und drei Tage, bis sie begriffen hatte, wie sie die Dienstboten zu behandeln hatte und das Tennis und Golf wesentlich mehr Spaß machen als aus meinen Diktaten Geschäftsbriefe zu formen. Sie hat sich schnell eingefunden in die Rolle als Frau des Chefs. Jetzt genießt sie die beringte Freiheit, die ich ihr endlich geschenkt habe. Soll sie auch. Sie hat sie sich verdient, genau so wie ich mir ihr Mona-Lisa-Lächeln, wenn ich nach Hause komme. Doch nicht heute.
[ 6]Heute ist wieder mein „Schwerin-Tag“. Erst die Geschäfte und dann das Vergnügen. Es ist kurz vor zwei und das Kaffee füllt sich langsam. Ein Insekt schwirrt an mir vorbei, mein Blick folgt ihm argwöhnisch, doch es ist keine Biene. Das Baugeschäft ist ein hartes Brot und ich habe viele Konkurrenten überlebt. Doch der winzige Stachel eines solchen geflügelten Monsters hätte vor Jahren fast das geschafft, was einige gerne hätten - mich zu töten. Zum Glück gab es damals bereits Notfallsets für Hyperallergiker wie mich. Verstohlen taste ich in meiner Brusttasche nach der Spritze.
[ 6]Die Frau trägt ein mitternachtsblaues Kostüm, das gut genug geschnitten ist, um eine Figur, die einmal atemberaubend gewesen sein musste, zur Geltung zu bringen. Sie hält ihre Handtasche vor den Körper. Natürlich tut sie das. Es ist eine Schutzgeste, tief aus ihrem Unterbewusstsein. Sie ist unsicher und lässt ihren Blick unter gesenkten Wimpern durch den Raum wandern, er stockt eine Zehntelsekunde auf mir, dann entscheidet sie sich für einen freien Tisch, nicht weit entfernt. Es ist keine Überraschung, dass sie sich so setzt, dass sie mich beobachten kann.
[ 6]Sie weiß es noch nicht, aber sie ist meinetwegen hier. Deswegen hat sie ihr bestes Kostüm angezogen und ihr teuerstes Parfüm aufgelegt. Ihr Mann wird sich gegen siebzehn Uhr aus seinem Chefsessel im Amt, einem Büro oder sonst wo hiefen, dann wird er Tennis spielen oder ins Fitnesscenter gehen. Er tut es nicht mehr für sie - die Zeit, in der ihn interessierte, was sie über seinen Körper denkt, ist längst vorbei und so weiß er eigentlich nicht, warum er es überhaupt tut. Sie wird gegen zwanzig Uhr von ihren Freundinnen nach Hause kommen, ihn flüchtig auf die Wange küssen und das war es. Eine ganz normale Ehe.
[ 6]Doch es war einmal anders und das ist der Grund, warum sie am frühen Nachmittag in ihrem besten Kostüm hier in diesem Kaffee sitzt. Sie wurde einmal begehrt, wahrscheinlich sogar geliebt und etwas in ihr kann sich nicht damit abfinden, dass es vorbei sein soll, für immer.
[ 6]Frauen wie sie gibt es wie Bernstein an der Ostsee und man muss sich nur nach ihnen bücken, um eine schöne Erinnerung zu haben. Es ist der Grund, warum ich hier sitze, immer, wenn mich meine Geschäfte nach Schwerin führen - wie auch in jede andere Stadt. Ich sammle solche Erinnerungen. Sie stehen mir zu, denn das Leben besteht nicht nur aus Arbeit.
[ 6]Mein gut gewählter Platz mit der Wand im Rücken und neben dem Durchgang für das Personal wird sie bald zwingen, einen zweiten Blick auf mich zu werfen. Das wird über eine halb erhobene Kaffeetasse hinweg geschehen, vielleicht auch über den verzuckerten Rand eines Cocktailglases, verstohlen, in der Hoffnung, ich würde ihn nicht bemerken. Das glaubt sie tatsächlich. Dabei wünscht ihr Unterbewusstsein nichts sehnlicher, als das ich genau das tue - sie bemerken und ihr zeigen, dass sie wichtig genug für mich ist.
[ 6]Ein Caipirinha kommt für sie und wenig später ihr zweiter Blick für mich. Meiner ruht einen Sekundenbruchteil auf ihr, dann blicke ich aus dem Fenster. Sie ist nicht aufregend genug, signalisiere ich ihrem Unterbewusstsein und zwinge es so zum Handeln.
[ 6]Irritiert blickt sie sich im Kaffee um. Sie weiß nicht, wie es weiter geht - ihr Verlangen schon. In wenigen Minuten werden der Alkohol und ihr Unterbewusstsein einen Weg gefunden haben. Sie wird mir einen dritten Blick zuwerfen, direkter diesmal und zuvor wird sie ihre Sitzposition verändert haben. Entweder wird sie die Beine übereinanderschlagen oder sie wird sich eine Winzigkeit zu mir drehen. Nicht so, dass es einem Beobachter auffallen würde, aber deutlich genug für mich, der ich weiß, auf was ich zu achten habe. Dann wird alles sehr schnell gehen und mit ein wenig Glück kann ich heute Abend noch nach Hamburg zurückfahren. Andrea wird sich freuen, wenn ich einmal auf einer Geschäftsreise nicht über Nacht bleibe. Nicht, dass es wichtig wäre - nur einfacher.
[ 6]Ihr dritter Blick kommt und dreißig Sekunden später sitze ich an ihrem Tisch. Sie hat sehr schöne, gepflegte Hände mit einem auffallenden Ring und langen, perlmuttfarben lackierten Nägeln - die gleiche Farbe, die auch das Innenfutter meines Anzugs hat. Ein guter Anknüpfungspunkt. Die Unsicherheit in ihrem Blick weicht der Bewunderung, als ich ihr von der Londoner Savile Row erzähle und dass dort das Schneiderhandwerk noch wirklich goldenen Boden hat - genau wie die Hotels hier in der Touristenhochburg Schwerin. Ob sie als Schwerinerin schon einmal in einem Schweriner Hotel übernachtet hat?
[ 6]Mein Schwenk überrascht sie, doch nicht ihr Unterbewusstsein. Es hat schon lange begriffen, in welche Richtung die Reise geht und während ihr Kopf die Hand sich zornig um das Glas krampfen lässt, rötet das Verlangen ihre Wangen.
[ 6]Es ist Zeit, ihre Hand zu nehmen. Warm ist sie, fast heiß und samtweich und zum ersten Mal ruht ihr Blick voll bewusst auf mir. Eine Frage ist in ihren Augen und ich beantworte sie. Natürlich will ich mit ihr schlafen. Sie weiß es doch seit dem Moment, als ich an diesen Tisch kam. Hätte es dafür einen anderen denkbaren Grund geben können? Warum wäre sie sonst hier?
[ 6]Wieder diese Gehemmtheit in ihren Augen, aber dann siegt das Verlangen und statt Unsicherheit steht plötzlich Entschlossenheit in ihnen. Sie hat sich entschieden, rutscht zu mir herum, lehnt sich mit ihrem duftenden Haar an mich und fährt mir mit langen Nägeln unter dem Anzugsakko über die Brust.
[ 6]So etwas mag ich nicht in der Öffentlichkeit. Ich fasse ihre Schultern und drücke sie zurück. Sie seufzt und das mag ich noch viel weniger. Gefühlsduselei, eine typische Frauenreaktion. Ich will so etwas nicht, ich will eine Erinnerung - und sie wird in wenigen Stunden eine sein. Eine schöne, da bin ich mir sicher, bei diesem Körper.
[ 6]Sie zuckt die Schultern und strafft sich. Gut so. Sie hat mich verstanden. Oder doch nicht? Ihr Blick fesselt meine Augen und etwas ist darin, das da nicht hingehört. Etwas Böses. Was soll das? Der Böse in diesem Spiel war schon immer ich, es hat mich nie gestört und was andere Leute über mich denken, interessiert mich nicht.
[ 6]Sie greift nach meiner Hand und legt sie mit einem leisen Lächeln über ihre. Ich ziehe meine Hand weg und winke damit nach der Kellnerin. Ein kurzer Schmerz in der Handfläche erregt meine Aufmerksamkeit. Habe ich mich an ihrem seltsamen Ring verletzt? Ich schaue auf meine Handfläche, aber da ist nichts außer einem winzigen Blutstropfen.
[ 6]Natürlich erscheint die Bedienung sofort und es wird Zeit, ins Hotel zu gehen. Doch mir wird plötzlich heiß und etwas macht mir den Hals so eng, dass ich kaum Luft bekomme. Alles verschwimmt um mich herum wie in einem Nebel und ich weiß, was das ist. Hat mich doch eine Biene erwischt. Aber wieso habe ich das nicht bemerkt? Ich taste nach der Spritze in meiner Brusttasche, sie wird mich retten. Aber da ist keine mehr.
[ 6]Die Frau schaut mich an wie ein seltenes Insekt. Warum tut sie das, statt mir zu helfen? Dann setzt sich eine zweite Frau zu ihr. Sie sieht aus wie Andrea. Und während ich verzweifelt nach Luft ringe und doch weiß, dass ich sie nie mehr bekommen werde, packt Andrea die Frau im mitternachtsblauen Kostüm zärtlich im Nacken, küsst sie hart und lange auf den Mund und ihre Augen brennen dabei mit vernichtendem Feuer in meinen.
 
A

aligaga

Gast
Hallo @Rainer,

du flutest dieses Forum mit allerlei G'schichterln und wunderst dich bestimmt, dass niemand darauf reagiert.

Das liegt in der Hauptsache daran, dass du nur an deinem eigenen Kram interessiert zu sein scheinst und dich das, was andere so Tag und Nacht hervorbringen, überhaupt nicht kümmert.

Wenn du Kritiken haben möchtest, solltest du die Zeit und den guten Willen aufbringen, selbst solche zu verfassen, auch wenn das oft ein recht undankbares G'schäfterl ist. Dieses Forum lebt von der Interaktion. Wenn's jeder nur so machte wie du, wär's bald mausetot. Und das wär doch schade, oder nicht?

Also mach hinne, wie sie in dem von dir offenbar wenig wertgeschätzten Osten zu sagen pflegen.

Gruß

aligaga
 
Boing!

Für gewöhnlich erkenne ich Zaunpfähle, wenn sie mich am Kopf treffen *lach*.
Ist ein Missverständnis, dass aus meinen Erfahrungen in einem anderen Forum beruht. Dort bedeutete seine Meinung sagen, dass die eigenen Texte regelrecht zerfetzt wurden bis hin zu persönlichen Angriffen. Aus diesem Grund hatte ich vor, abzuwarten, bis bei mir die ersten Kritiken eintreffen, um mich daran "auszurichten".
Deine Antwort entnehme ich, dass es vielleicht hier anders sein könnte. Nun gut, ich denke, trotz meiner 55 bin ich noch lernfähig. wir werden sehen.
Und was das Thema "Osten" angeht - ich habe vor zwei Jahren einen gutbezahlten Job im "Westen" aufgegeben und arbeite wieder in Schwerin zum gesetzlichen Mindestlohn, weil ich meine Heimat über alles liebe. Bitte den Protagonisten und seine Meinung nicht mit dem Autor und seiner Meinung verwechseln. :)
So weit, so gut. Ich bedanke mich für dein "Einnorden" und will versuchen, mich danach zu richten.

Danke Dir und liebe Grüße.
Rainer
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Erste Lesung

Spontane 9er-Wertung von mir - also Daumen hoch.

Eine 10 hätte es werden können, wenn ich am Wendepunkt nicht das "Huch!"-Gefühl vermisst hätte oder wenigstens den Tonfallwechsel, der mir bei so einer Umkehrung der Lage normal erscheinen würde. Inhaltlich übernimmt sie die Kontrolle, er müsste seine Entspanntheit verlieren und die oben beschworene Energie aktivieren. Lösungsvorschlag: Kürzeres Sätze, weniger "Füllstoff" bzw. "Zusatzgedanken" – reines Handeln sozusagen. So?:

So etwas mag ich nicht in der Öffentlichkeit. Ich fasse ihre Schultern und drücke sie zurück. Sie seufzt und das mag ich noch viel weniger. Gefühlsduselei, eine typische Frauenreaktion. Ich will so etwas nicht, ich will eine Erinnerung - und sie wird in wenigen Stunden eine sein. Eine schöne, da bin ich mir sicher, bei diesem Körper.
Sie zuckt die Schultern und strafft sich. Gut so. Sie hat mich verstanden. Oder doch nicht? Ihr Blick fesselt meine Augen und etwas ist darin, das da nicht hingehört. Etwas Böses. Was soll das? Der Böse in diesem Spiel war [strike]schon[/strike] immer ich[strike], es hat mich nie gestört und was andere Leute über mich denken, interessiert mich nicht[/strike].
Sie greift nach meiner Hand und legt sie mit einem leisen Lächeln über ihre. Ich ziehe meine Hand weg und winke damit nach der Kellnerin. Ein kurzer Schmerz in der Handfläche erregt meine Aufmerksamkeit. Habe ich mich an ihrem seltsamen Ring verletzt? Ich schaue auf meine [strike]Handfläche, aber da ist nichts außer einem winzigen Blutstropfen[/strike] Handfläche. Ein Blutstropfen.
Natürlich erscheint die Bedienung sofort und es wird Zeit, ins Hotel zu gehen. Doch mir wird plötzlich heiß und etwas macht mir den Hals so eng, dass ich kaum Luft bekomme. Alles verschwimmt um mich [strike]herum wie in einem Nebel und[/strike] herum – ich weiß, was das ist. Hat mich doch eine Biene erwischt. Aber wieso habe ich das nicht bemerkt? Ich taste nach der Spritze in meiner Brusttasche[strike], sie wird mich retten[/strike]. [strike]Aber da[/strike] Da ist keine mehr.
Die Frau schaut mich an wie ein seltenes Insekt. Warum tut sie das[strike], statt mir zu helfen? Dann setzt sich eine zweite Frau zu ihr.[/strike]? Sie muss mir helfen! Eine zweite Frau kommt, setzt sich. [strike]Sie sieht aus wie[/strike] Andrea. Und während ich verzweifelt nach Luft ringe und doch weiß, dass ich sie nie mehr bekommen werde, packt Andrea die Frau im mitternachtsblauen Kostüm zärtlich im Nacken, küsst sie hart und lange auf den Mund und ihre Augen brennen dabei mit vernichtendem Feuer in meinen.
Vielleicht bekommst du auch noch hin, dass oben die "Genuss-Teile" (die "Jagd") und die "Info-Teile" (wer ist er, was mach er) ein bisschen verschiedener klingen. Einen so einfachen Tipp wie zum Wendepunkt hab ich da allerdings nicht parat.

Übrigens: Gedankenstriche sind lange Striche und mindestens zwei Fehler fielen mir auf:
wie sie die Dienstboten zu behandeln hatte und [strike]das [/strike] dass Tennis und Golf wesentlich mehr Spaß machen[red]KOMMA[/red] als aus meinen Diktaten Geschäftsbriefe zu formen.
Eventuell ist sowas auch später noch drin, ich war nur vom Text zu sehr gefesselt, als dass es mir aufgefallen wäre.
 
So viel Mühe!

Hallo Jon,

herzlichen Dank für die Mühe, die du dir gemacht hast. Dein Kommentar hilft mir sehr und enthält viel, was mich weiterbringt. Auch in anderen Texten.
Ich hoffe, ich komme in den nächsten Tagen zu einer Überarbeitung.

LG
Rainer
 
K

Karn Hardt

Gast
Gefällt mir gut, ein paar Ideen habe ich noch dazu. Diese folgen noch (ich tippe gerade mit dem Handy ...) :)

LG
 

rag

Mitglied
Ich habe bisher nur diesen Text gelesen. Aber er macht mich neugierig auf mehr. Frage: es erscheint mehrmals das Wort Kaffee. Da wohl nicht das Getränk gemeint ist wäre da nicht Café passender?
 



 
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