Ich sehe etwas, was du nicht siehst.

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Cynthia

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Ich sehe etwas, was du nicht siehst

Wie so oft gehe ich mit Georg in der Nähe des Wohnheimes spazieren. Ich schiebe seinen Rollstuhl den kleinen Berg hinauf und wir gehen durch die nahe gelegene Siedlung. Georg lacht. Die Sonnenstrahlen wärmen seine Haut. Er schaut interessiert den vorbeifliegenden Vögeln nach.

Georg ist 50 Jahre alt und wohnt schon viele Jahre in einem Wohnheim für behinderte Menschen. Für mich ist er nicht nur mein Job, sondern ein Mensch, den ich im Laufe der Jahre sehr gut kennen gelernt habe. Früher konnte er noch gehen. In unserem Fotoalbum haben wir ein Foto auf dem wir beide in einem Park spazieren gehen. Er, bestimmt drei Köpfe größer als ich, mit weit ausholenden Schritten an meiner Hand.
Seit ein paar Monaten ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Laufen kann er nicht mehr alleine, aber stehen und mit einer Gehhilfe kurze Strecken zurücklegen. Georg trägt einen Helm, denn immer wieder bekommt er unvorhersehbare Anfälle.
Er lacht mich mit seinen großen braunen Augen fröhlich an, wenn ich morgens in das Heim komme und begrüßt mich mit lautem Gejohle. Georg redet sehr gerne und viel. Ich verstehe, was er sagt. Fremde Menschen schauen mich immer fragend an und ich „dolmetsche“. Georg ist aber nicht immer nur gut gelaunt! Wenn es ihm nicht gut geht oder er Ärger mit einem anderen Bewohner hat zeigt er dies ohne Skrupel. Er schreit und beschimpft die Mitbewohner.
Es gibt Tage, da wiederholt er ein und denselben Satz wieder und wieder. Er fragt dann etwa, „wo ist Klaus“? und das zig Mal obwohl ihm schon mehrmals gesagt wurde, „Klaus ist einkaufen gegangen“. Georg fragt so lange, bis ich ihm in die Augen schaue und sage „Wo ist Klaus?“ Plötzlich huscht ein Lächeln über sein Gesicht und er sagt „Einkaufen?“ „Ja, genau!“ Von nun an ist die Frage beantwortet. Der Kreis seiner Gedanken wird unterbrochen und er kann sich anderen Dingen zuwenden.

Auf unserem Spaziergang begegnen uns Anwohner der Siedlung. Sie sind daran gewohnt, in der Nähe des Wohnheimes zu leben und kennen auch den einen oder anderen Heimbewohner. Dennoch ereignen sich immer wieder Situationen, die mich sehr nachdenklich werden lassen...
Eine ältere Dame kommt uns entgegen, sie schaut uns nicht an, bis sie dicht neben uns angelangt ist. Ich grüße freundlich und lächle sie an. Auch Georg lächelt. Sie grüßt zurück und es kommt ein kleines Gespräch in Gang. „Ja, das ist schon schwer... dass sie das so können.“ „Also ich finde es nicht schwer, es ist meine Arbeit und sie macht mir Freude.“ „Ja, die Menschen sind ja auch bestimmt dankbar für jede Hilfe.“ Georg schaut die Dame sehr konzentriert mit seinen großen braunen Augen an. Ein Tropfen Speichel fließt hinunter auf seine Jacke. Die Dame schaut dezent zur Seite.
"Gut, dass es Menschen wie sie gibt, die das machen können."
Wir gehen weiter und ich denke mir, wie schade es doch ist, dass die „normalen“ Menschen so wenig Gelegenheit haben zu erfahren wie einzigartig und liebenswert jeder unserer Heimbewohner ist. Wie schade ist es, dass sie außer Mitleid nichts für sie empfinden können. Schwer ist es nicht für die Behinderten. Sie haben in den seltensten Fällen Vorurteile oder festgefahrene Ansichten. Sie haben auch keine Scheu vor den Anderen. Sie sind offen, ehrlich, herzlich und in den meisten Fällen glücklicher als der ein oder andere „Gesunde“.
Sie können in ihrer Einfachheit so viel vermitteln. Das wirklich Wichtige und Wertvolle. Für den Einen kann es schon das Größte sein, dass ich ihm eine schöne bunte Folientüte mitbringe, in die er seine Legosteine hineinsortieren kann. Der andere ist glücklich, wenn ich mir einen Vormittag lang Zeit für ihn nehmen kann und wir einfach nur mit dem Zug von Stadt zu Stadt fahren.
Für Personen, die es nicht gewohnt sind mit Menschen wie Georg Kontakt zu haben, ist es schwer, in einem so großen erwachsenen Mann die Seele eines drei-, sechs- oder neunjährigen Jungen zu erkennen. Sie haben Hemmungen und Scheu sich auf das Unbekannte einzulassen. Schade, sonst könnten sie auch sehen, was ich sehe. Diese Menschen sind nicht so arm, wie oftmals geglaubt wird.
 

Josef

Mitglied
Hallo Cynthia!
Eine klare und eindrucksvolle Beschreibung dessen, was man im Umgang mit Menschen erleben kann. Es hat mich an meine Zivildienstzeit erinnert.
Ausgezeichneter Schreibstil, der ohne Moralisierung auskommt.
Viele Grüße!
 



 
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