Ich und meine Eltern

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THX

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Sehr geehrte Leser und Leserinnen,
Seit langem schon keimt in mir der Wunsch, in meinem stillen Kämmerlein allein in der Rückenlehne meines Sessels versinkend, während hinter mir die Sonne scheint und mich wie ein Heiligenschweif umfängt, in der Zeit, die mir noch verbleibt, meine Sicht der Dinge in Worte zu fassen, vor allem, was es mit dem Tod auf sich hat.
Jedoch liegt es mir fern, mich in philosophisches Kauderwelsch zu verstricken wie manch einer, dem die rechte Belehrtheit in eben diesen Dingen fehlt, der viel zu oft und zumeist aus Lebensüberdruss dazu geneigt ist, sobald er meint zu glauben, die Genialität seines Geistes zum Ausdruck bringen zu müssen. Nein, meine lieben Leser und Leserinnen, es ist nicht meine Absicht, Ihren Intellekt in einem unverschämten Maße herauszufordern. Vielmehr möchte ich Ihnen etwas aus meinem Leben erzählen, die Erfahrungen, die ich bisher gesammelt habe, und Ihnen dadurch einen Einblick verschaffen, wie der Tod letztendlich Teil meines Lebens geworden ist.
Allerdings, meine lieben Leser und Leserinnen, soll schon mal im Vorfeld gewarnt werden, dass die folgende Geschichte, die ich hier vorzutragen gedenke, auf einige von Ihnen möglicherweise allzu abgedroschen, wenn nicht gar melodramatisch wirken könnte, da ich mir eines Stils bediene, die man als trivial bezeichnen könnte. Wem derlei Gefühlsduseleien nicht behagen mögen, sondern Sachlichkeit und Objektivität, dem empfehle ich, hier und jetzt mit dem Lesen aufzuhören und sich einem Sachbuch zuzuwenden, der sich desselbigen Themas bedient, nur mit dem Verzicht auf Emotionalität und aus einem objektiven, distanzierten Standpunkt. Den Rest bitte ich für meine Vermessenheit, Ihre viel zu kostbare Zeit in Anspruch zu nehmen, und für meine aufgeblasene Sprache, die in der Tat nicht jedermanns Sache ist, hiermit um Verzeihung.
Ich hoffe, dass Sie, meine lieben Leser und Leserinnen, am Ende meines Vortrags keinerlei Groll gegen mich hegen und stattdessen über gewisse Dinge nachdenken, sei es auch für wenige Sekunden. Vielleicht werden Sie eine neue Einsicht erfahren und das Leben in einem völlig anderen Licht sehen. Aber das wäre doch zuviel verlangt. Schließlich bedarf es mehr als nur die Lebensbeichte eines Jungspunds, um etwas zu bewegen. Man sollte froh sein, wenn dieser überhaupt Zugang zu einem Publikum findet, das genug Geduld mit sich bringt, um dessen gedankliche Ergüsse bis zum Schluss zu ertragen.
Doch genug jetzt! Meine lieben Leser und Leserinnen, kommen wir nun zu der Geschichte, die ich Ihnen erzählen möchte. Sie beginnt am Tag, an dem ich erstmals dem Tod begegnet bin. Meine Mutter, eine Freundin meiner Mutter und mein Vater werden darin eine entscheidende Rolle spielen.

Ich bin sechs zu dem Zeitpunkt. Meine Mutter hat gerade den Frühstücktisch für uns gedeckt. Es gibt frisches Brot vom Bäcker, Erdbeer-Marmelade, Honig, Aufschnitt, Kaffee und Milch. Überall riecht es nach Mutters Lieblingsblume: Weißer Oleander. Der Raum ist voll von ihnen.
Mein Vater setzt sich hin. Ich knabbere gerade an meiner Brotscheibe, niemand scheint meine Gegenwart zu beachten. Zu meiner Linken liegt Vaters Zeitung. 4. April 1986. Es ist ein sonniger Tag.
Mutter schaut aus dem Fenster. Sie lässt ihre Gedanken schweifen wie jeden Morgen.
Vater fragt, wie es ihr heute gehe. Sie sagt, dass alles in Ordnung sei. Keinerlei Beschwerden. Die Tropfen, die sie gegen die Schmerzen nimmt, scheinen zu wirken. Um ihre Mundwinkel zeichnet sich ein Lächeln ab. >>Ich glaube, ich werde heute ein bisschen spazieren gehen<<, sagt sie.
>>Tu es<<, sagt Vater. >>Die frische Luft wird dir gut tun.<<
>>Okay…<<

Meine Mutter, liebe Leser und Leserinnen, war schon immer etwas schwermütig. Sie war einundzwanzig, als sie meinen Vater heiratete. Zuvor hatte man sie von klein an auf ein Leben als Hausfrau und Mutter vorbereitet, ihre Eltern hatten darauf bestanden. Sie waren sehr streng zu ihren vier Kindern gewesen, besonders zu ihr, weil sie die älteste war, und wenn sie versucht hatte, ihrem Schicksal zu entrinnen, so hatten die Züchtigungen der Eltern sie immer wieder eines Besseren belehrt.

Vater schlägt die Zeitung auf. >>Überanstrenge dich nicht<<, sagt er zu meiner Mutter.
Sie nippt an ihrer Kaffeetasse. Stille tritt ein. Alles, was man hört, ist, wie ich das Brot im Mund zerkaue.
Ich sage zu meinen Eltern, dass ich heute zuhause bleiben wolle. Mein Vater nickt, Mutter scheint es egal zu sein. Ich steige von meinem Stuhl hinunter. Es zieht mich ins Wohnzimmer, dort setze ich mich in den Sessel und schalte den Fernseher an.

Meine Eltern, liebe Leser und Leserinnen, sind an dem Tag seit zehn Jahren verheiratet. Wir leben in einem friedlichen Vorort, wo jeder jeden kennt. Das Haus, in das wir vor drei Jahren eingezogen sind, ist hübsch eingerichtet: Mutters Verdienst. Es hatte sie viele Monate gekostet, die richtigen Möbel zu finden. In zwei Jahren wird Vater sie gegen neue eintauschen. An den Wohnzimmerwänden hängen Bilder von uns, Erinnerungsstücke aus schöneren Zeiten, die längst vorbei sind. Auch sie werden in zwei Jahren verschwinden.
Mein Vater arbeitet in einer japanischen Autofabrik. Er ist für die Inspektion der Maschinen und deren Wartung zuständig. Von halb neun bis halb sechs ist er außer Haus, fünf Tage die Woche. Danach liegt er die meiste Zeit im Bett oder spielt mit seinen Freunden Poker. Er war sechzehn, als er meiner Mutter zum ersten Mal begegnete: Liebe auf den ersten Blick. Fünf Jahre später hatte er ihr bei einem Besuch auf dem Eifelturm einen Antrag gemacht.

Meine Eltern verabschieden sich voneinander. Vater gibt Mutter einen zaghaften Kuss auf die Lippen, zu mir sagt er, ich solle den Tag nicht vor dem Fernseher verbringen, und geht. Ich merke, dass etwas fehlt. Doch was ist es, frage ich mich. Es macht mich auf jeden Fall traurig. Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen und sie nie wieder geöffnet.
Ich schaue aus dem Fenster, hebe den Blick zum Himmel hin. Ein helles Blau erstreckt sich über die Erdkugel. Dahinter verbirgt sich das Weltall, ein einziges Vakuum. Einmal habe ich mir vorgestellt, wie es wohl wäre, darin zu schwimmen. Ich würde nichts spüren, nichts sehen und auch nichts hören, Stille und Frieden würden meinen Körper umfangen und Jahrtausende übers Land ziehen in einem einzigen Atemzug. Ich wäre frei und müsste mir keine Gedanken machen.

Meine Mutter räumt den Frühstücktisch auf. Dabei fällt eine Tasse. Sie schlägt auf den Boden auf und zerschellt in kleine Stücke. Mutter fährt erschrocken zurück. Eine Träne quellt aus ihrem rechten Auge. Sie wischt ihn sich mit einer raschen Handbewegung weg.
Als sie sich hinunterbeugt und die Scherben aufhebt, schneidet sie sich am Zeigefinger. Blut tropft aus der Wunde, es ist ein tiefer Schnitt.

Das Zerschellen der Tasse hat mich aufhorchen lassen. Ich renne in die Küche und frage Mutter, was passiert sei. >>Nichts<<, sagt sie. Sie sitzt auf ihren Knien so, als würde sie jemandem um Gnade anflehen.
Ich sehe die Spuren einer Träne auf ihrer Wange und den Bluttropfen. >>Soll ich ein Pflaster holen<<, frage ich meine Mutter. >>Nein<<, sagt sie zu mir. Sie wolle es selber tun. Außerdem sei es nicht so schlimm, wie es aussähe. Man habe für eine Sekunde nicht aufgepasst. Es ist einfach so geschehen. Einfach so.
Ich richte meinen Blick auf den Boden. Er ist voller kleiner Scherben: Vaters Kaffeetasse, ein Souvenir aus New York, die zweite, die in dieser Woche zu Bruch gegangen ist. Mutter wird immer ungeschickter. Aber sie kann nichts dafür. Es sind die Medikamente, die sie jeden Tag einnimmt. Sie beeinträchtigen ihre motorischen Fähigkeiten.

Vor einem halben Jahr hatte Mutter über schreckliche Übelkeit geklagt. Sie war zu vier verschiedenen Ärzten gegangen. Erst bei einer genaueren Untersuchung hatte man in ihrem Unterleib Krebsgeschwüre entdeckt. Es sind nun zwei Wochen vergangen, seitdem man ihr die Gebärmutter entfernen musste. Sie hat jeden Tag unerträgliche Schmerzen. Manchmal wacht sie mitten in der Nacht auf, schließt sich im Badezimmer ein und weint stundenlang um das, was sie verloren hat.

Ich gehe ins Wohnzimmer zurück. Im Fernseher läuft „Calimero“, meine Lieblingszeichentrickserie. Sie handelt von einem kleinen schwarzen Küken, das eine Eierschale auf dem Kopf trägt. Mit seinen Freunden erlebt er in jeder Folge lustige Abenteuer.

In der Zwischenzeit hat Mutter die Scherben vom Boden aufgehoben. Jetzt ist der Abwasch an der Reihe. Danach wolle sie einkaufen gehen. Sie fragt, ob ich Lust habe, sie zu begleiten. Als Belohnung dürfe ich mir etwas Süßes beim Bäcker aussuchen. >>Okay<<, sage ich. Doch dazu wird es nicht kommen.

Um halb zehn erhalten wir Besuch von Mutters bester Freundin. Ihr Name lautet Madame Tullin. Sie hat sich vor zwei Jahren von ihrem Mann getrennt.
Ich hasse diese Frau. Denn jedes Mal, wenn sie zu uns kommt, wirft sie mir einen herablassenden Blick zu. Einmal hat sie mich ein unverschämtes, kleines Ding genannt. Es ist kein Wunder, warum sie selbst keine Kinder hat.
Madame Tullin verbringt viel Zeit mit meiner Mutter. Sie ziehen sich meistens ins Schlafzimmer zurück. Mich lassen sie allein im Garten spielen. Vater weiß nichts davon. Er wird es auch nie erfahren. Das habe ich meiner Mutter versprochen.

Ich werde gebeten, für eine Weile raus zu gehen. Man wolle gerne unter sich sein. Mutter hat immer diesen Glanz in den Augen, wenn Madame Tullin uns einen Besuch abstattet. Es ist, als würde sie durch ihre Gegenwart all ihre Sorgen vergessen.
Ich begebe mich in den Garten, meine Mutter und Madame Tullin ins Schlafzimmer. Zehn Minuten vergehen. Aus den zehn Minuten werden schließlich zwanzig.
In unserem Garten steht ein alter Baum. Wenn man bis zur Krone hochklettert, kann man die gesamte Nachbarschaft überblicken. Ich brauche mich nur an drei, vier Äste zu schwingen, schon bin ich oben.

Madame Tullin und meine Mutter halten sich noch immer im Schlafzimmer auf. Sie bemerken mich nicht, obwohl Madame Tullin gelegentlich aus dem Fenster schaut, das Blätterwerk verhindert, dass ich von ihren argwöhnischen Augen entdeckt werde. Mutter sitzt auf der Bettkante, den Kopf ganz tief nach unten gebeugt. Ihr Gesicht wird von ihrem Haar bedeckt. Doch es sieht aus, als weine sie.
Madame Tullin dreht sich zu ihr um. Sie legte eine Hand auf ihre Wange, eine zärtliche Berührung, die nicht unerwidert bleiben soll. Die Luft in dem Zimmer scheint zu knistern. Ich fühle eine wohltuende Wärme in meinem Unterleib. Mit jedem Moment wird sie intensiver. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn. Ich höre, wie mein Herz kräftig gegen meine Brust trommelt, unentwegt, schneller, immer schneller. Es ist das erste Mal, dass ich so etwas erlebe.
Mutter schlingt die Arme um Madame Tullin’s Taille. Sie schaut zu ihr auf. Ihre Blicke treffen sich. In ihrem spiegelt sich Verzweiflung wider.
Madame Tullin beugt sich zu meiner Mutter herunter. Beide schließen ihre Augen, fassen sich gegenseitig an den Haaren an.

Mutters Locken schimmern im Licht der Sonne. Sie sind blond und geschmeidig, aber nicht echt. Ihre richtigen sind ihr ausgefallen. Seitdem meine Mutter aus dem Krankenhaus raus ist, trägt sie eine Perücke. Als ich sie eines Morgens zufällig mit kahlem Kopf erwischte, habe ich lachen müssen. Mein Vater hat mir deshalb eine Ohrfeige gegeben.
Madame Tullin streichelt Mutters Wange. Ihre Lippen nähern sich den ihren.
Ich bekomme einen Schreck. In meiner Kehle drängt sich ein Schrei auf. Doch ich halte ihn zurück. Etwas in mir drin sagt, ich solle still bleiben.

Madame Tullin wendet sich von Mutter ab. Sie muss sie regelrecht von ihr stoßen. Für eine sehr lange Zeit starren die beiden Frauen sich gegenseitig an. Eine unangenehme Atmosphäre breitet sich im Schlafzimmer aus. Es ist, als würde ein Schatten die Erde bedecken, sie in tiefe Dunkelheit stürzen und alles Leben in sich aufsaugen. Von Leidenschaft ist nun keine Spur mehr zu sehen. Sie ist erloschen. Einfach so. Von einer Sekunde auf die nächste.

Hass steigt in mir hoch. Ich spüre, wie Madame Tullin immer mehr zur Bedrohung für mich wird. Was denkt sie sich dabei, meine Mutter so zu behandeln. Sie ist eine Schlange, die alles, was ihr in die Quere kommt, verschlingt, ein gefräßiges Ungetüm, einzig auf sein eigenes Wohlbefinden bedacht.

Nach fünf Minuten verlässt Madame Tullin schweigend das Schlafzimmer. Sie geht hinaus, steigt in ihr Auto und fährt los. Mutter läuft ihr nach. Doch es gelingt ihr nicht, sie zurückzuhalten. Es ist das letzte Mal, dass ich Madame Tullin sehe. Sie wird nach New York fliegen und sich dort niederlassen. Das Geld dafür hat sie sich von ihrem Ex-Mann besorgt. Er hat eine eigene Firma und ist froh, sie endlich los zu sein. Niemand wird Madame Tullin vermissen, besonders ich nicht.
Ihr Auto verschwindet in der Ferne. Mutter bleibt wie erstarrt auf der Straße stehen. Für eine sehr lange Zeit rührt sie sich nicht vom Fleck. In ihren Augen sammeln sich Tränen.
Ich renne zu ihr hin, nehme ihre Hand und flehe sie an, wieder zurück ins Haus zu kommen. >>In Ordnung<<, sagt sie.
Es vergehen zwei Stunden. Mutter verbringt sie auf der Couch. Sie starrt in die Leere mit ein und demselben entgeisterten Ausdruck auf dem Gesicht. Es ist kaum mehr Leben darin zu finden. Was sich um sie herum abspielt, scheint sie nicht mehr zu interessieren. Madame Tullin, ihre beste Freundin hat sie verlassen. Ihr Abschiedkuss auf den Lippen ist noch ganz frisch. Es muss sich warm angefühlt haben, als sie sich berührten, innig und voller Leidenschaft. Ihre Wangen sind noch immer ganz rot, die Erinnerungen so greifbar nah, man möchte für immer in ihnen verweilen. Unendliches Glück ist ihr gerade eben widerfahren. Und doch hat man ihr an diesem Tag, in jenem einzigen Augenblick gleichzeitig alles Leben genommen. Madame Tullin, ihre beste Freundin, ist auf dem Weg nach New York, in ein Land viele tausende Meilen von ihr entfernt. Sie werden sich nie wieder sehen. Sie weiß es. Deshalb steht sie auf, geht ins Badezimmer und schließt sich ein.

Die nächsten Stunden ziehen schleppend an mir vorüber. Ich hocke im Schneidesitz vor der Badezimmertür und warte darauf, dass Mutter endlich herauskommt, um das Abendessen zu machen. Doch sie wird es nicht tun.
Um sechs kehrt Vater von der Arbeit nach Hause zurück. Er fragt mich, was ich da tue. >>Auf Mutter warten<<, sage ich.
>>Wie lange ist sie schon da drin<<, fragt Vater.
>>Ich glaube seit sieben Stunden.<<
>>Und sie ist seitdem nicht mehr raus gekommen?<<
Ich schüttle den Kopf.
Vaters Gesicht wird mit einem Mal blass. Er lässt seine Aktentasche fallen und rennt zur Tür. Sein Klopfen bleibt unerwidert.
Ich gehe zur Seite, drücke meinen Rücken an die Wand.
Vater beginnt nach Mutter zu rufen. Er bricht mit dem Gewicht seines Körpers die Tür auf. Eine Flasche Reinigungsmittel fällt ihm vor die Füße. Sie ist leer. Neben ihr liegt Mutters Hand.
Ich höre, wie mein Vater einen entsetzten Schrei ausstößt. Er sinkt zu Boden, das Gesicht zu einer hässlichen Fratze verzerrt, es fällt mir schwer darin meinen Vater wieder zu erkennen. Seine Arme umklammern eine leblose Hülle. Ich weiß, es ist meine Mutter. Ihr Mund ist voller Schaum. Sie atmet nicht mehr, trotzdem sieht sie aus, als würde sie nur schlafen und in jedem Moment wieder aufwachen.
>>Hol Hilfe!<<, sagt mein Vater zu mir.
Doch es ist längst zu spät. Vater und ich sind uns darüber im Klaren. Tief in unserem Innern wissen wir: Mutter ist tot. Man wird sie in drei Tagen in einem braunen Sarg der Erde überlassen, in ihrem schönsten Kleid, und sie unter einem Berg Rosen begraben. An diesem Tag wird es regnen wie auch am Tag danach.

So bin ich zum ersten Mal dem Tod begegnet, meine lieben Leser und Leserinnen. Ich war sechs, als es passierte. Sicher werden Sie denken, dass ich durch das schreckliche Erlebnis von Alpträumen heimgesucht werde, in denen sich jener Tag, an dem meine Mutter mich verlassen hatte, immer und immer wieder aufs Neue wiederholt. Tatsächlich liegen Sie mit Ihrer Vermutung nicht falsch. Manchmal wache ich mitten in der Nacht schweißgebadet oder mit Tränen in den Augen auf und glaube, ihre Nähe zu spüren, manchmal schreie ich sogar und weiß danach nicht mehr, warum. Aber das kommt eher ganz selten vor. Trotzdem: Der Geist meiner Mutter ist bis heute noch allgegenwärtig und daran wird sich wohl kaum etwas ändern. Ich habe mich zwar im Laufe der Jahre an ihre ständige Nähe gewöhnt und sie als Teil meines Lebens hingenommen, aber es erschreckt mich doch ein klein wenig, wenn mir zum Beispiel etwas Kaltes über den Rücken fährt und ich mich wie aus einem Reflex heraus umdrehe in der Hoffnung, ihr Antlitz wieder zu sehen, das von Jahr zu Jahr immer blasser wird.

Mittlerweile sind seit ihrem Tod fünfzehn Jahre übers Land gezogen, ich bin jetzt einundzwanzig und mache mir immer noch meine Gedanken über die einzelnen Faktoren, die zu jener Tragödie geführt hatten, und frage mich, ob ich eine Schuld daran trage. Sie müssen nämlich bedenken, zu jenem Zeitpunkt war ich erst sechs, ein kleines, unwissendes Kind, für das die Welt Geheimnisse birgt, die über sein Verständnis hinausgehen: Eine riesengroße weiße Fläche voller Wunder und zugleich unsäglicher Schrecken. Aber wenn man dem Tod ins Gesicht sieht, sich traut, ihn als das anzuerkennen, was er wirklich ist - und zwar als etwas Endgültiges, das, was uns alle verbindet - verlieren die Dinge, die einem wundersam und Furcht erregend erscheinen, letzten Endes an Bedeutung,
Als meine Mutter Selbstmord begangen hatte, hatte man mir weiszumachen versucht, sie sei in den Himmel aufgestiegen, zu unserem Schöpfer, und von dort werde sie immer ein wachsames Auge auf mich werfen. Anfangs hatte ich es geglaubt. Der Schmerz, den ich damals verspürt hatte, hatte mir keine andere Wahl gelassen, als mich an jedem kleinen Zweig zu klammern, der mir hätte Trost spenden können – und was gibt es Tröstlicheres für ein Kind, zu wissen, dass der Mensch, den es verloren hat, in irgendeiner Form weiter besteht?
Doch mir wurde nach einer Weile klar, wie der Glaube an ein Paradies, in dem wir uns eines Tages wieder sähen und unendlichen Frieden erführen, Religion und deren schützende Hände, Institutionen, in denen wir Beistand erhoffen, wie trügerisch sie sein können. Zu dieser Erkenntnis war ich zwei Monate nach Mutters Beerdigung gelangt.

Es ist Anfang Juni 1986. Ich trage ein weißes Kleid. Die Sonne brennt über unseren Köpfen: 30 Grad. Man ist froh ein schattiges Fleckchen für sich zu haben. Es ist zehn Uhr. Ich bin im Kindergarten. Ein neuer Junge ist in unsere Gruppe gekommen. Er ist ein halbes Jahr jünger als ich, aber genauso groß, trägt blaue kurze Hosen und ein weißes T-Shirt, auf dem ein Rennwagen abgedruckt ist. Wir spielen miteinander. Ich finde den Neuen interessant und möchte mich mit ihm anfreunden. In meiner mädchenhaften Vorstellung von Romantik wird er zu meiner allerersten Liebe – für genau dreißig Minuten.
Er fragt mich, was meine Eltern so machen. Seine sind im Krankenhaus tätig, erzählt er mir. Der Vater ist Arzt, er verrichtet schwierige Operationen am Herzen, die Mutter ist Oberkrankenschwester und wiegt fast 100kg. Sie wohnen in einem zweistöckigen Haus mit Swimmingpool und einem riesengroßen Garten. Zur ihrer Sicherheit haben sie eine Mauer um ihr Grundstück bauen lassen. Letztes Jahr habe man nämlich versucht, in ihr Haus einzubrechen, als sie in Hawaii im Urlaub waren, erzählt er mir. Er hat mit seinen Eltern schon viele Länder bereist: China, Indien, Japan, Australien, Brasilien, Kenia und Ägypten. Seine Lieblingssängerin ist Tina Turner, die er mal live auf einem Konzert erleben durfte.
Ich sage, dass mein Vater darauf aufpasst, dass die Maschinen in seiner Fabrik einwandfrei funktionieren, und dass meine Mutter im Himmel sei, um von dort über mich zu wachen.
Der Neue schaut mich zuerst ganz verdutzt an. Dann fängt er plötzlich an lauthals zu lachen. >>Es gibt keinen Himmel<<, sagt er.
Ich widerspreche ihm, indem ich mich auf die Bibel stütze.
>>Wenn so etwas wirklich gibt, wo, glaubst du, ist der Himmel<<, fragt der Neue.
>>Na, da oben<<, antworte ich. >>Hinter den Wolken.<<
>>Da ist nichts<<, sagt der Neue. >>Ich bin viele Male mit dem Flugzeug geflogen und ich habe noch nie Gott oder das Paradies gesehen. Das sind doch alles nur Märchen, damit wir immer brav bleiben.<<
Ich prügle auf ihn ein. Die Kindergärtnerin eilt zu uns hin und zerrt mich von ihm weg. Später wird mein Vater mich ausschimpfen und sagen, dass Mädchen sich nicht mit Jungs schlagen sollen, es gehöre sich nicht. Mutter wäre zutiefst bestürzt, wenn aus mir ein freches Kind wird. In den nächsten Wochen werde ich mir Gedanken über den Himmel machen und zu dem Schluss kommen, dass es ihn vielleicht nicht gibt.

Wenn man noch klein ist und ganz fest an etwas glaubt, um ihn später als Lüge zu entlarven, geht einem ein wichtiger Teil in seinem Leben verloren. Man beginnt sich zu fragen, ob nicht alles eine einzige große Lüge ist, und läuft Gefahr, dass seine wohl behütete Welt nach und nach in sich zusammenfällt.
Als ich an die Existenz eines Jenseits, wo die Verstorbenen ein friedliches Dasein fristen, und an die Glaubwürdigkeit der Erwachsenen zu zweifeln begann, war gleichzeitig eine zerstörerische Wut in mir erwacht, die zumeist auf meinen Vater gerichtet war und worunter der Mann, den ich eigentlich über alles liebe, schrecklichen leiden musste, obwohl ihn keine Schuld trifft - nur war er nicht ehrlich zu mir. Das war auch der Grund, warum ich ihm viele Jahre lang den Zugang zu mir verweigert hatte und nicht imstande war, einem anderen Liebe zu schenken. Allzu gerne möchte ich die Zeit zurückschrauben und dem wütenden Kind, das ich damals war, ins Gewissen reden, damit ihm ein folgenschwerer Fehler erspart bleibt. Ich wünschte, ich wäre für meinen Vater eine gute Tochter gewesen. Ich wünschte, ich hätte ihm weniger Kummer bereit. Stattdessen habe ich dreizehn Jahre meines Lebens vergeudet. Dreizehn Jahre, die mir niemand zurückgeben kann. Dreizehn Jahre verschwendete Zeit. Aber das ist nichts im Vergleich dessen, zu der Tatsache, dass mein Vater bis zuletzt versucht hatte, mir eine glückliche Kindheit zu gewährleisten, und wegen meiner Borniertheit an den Rand der Verzweiflung gebracht wurde - und von dort ging es weiter in einen dunklen Abgrund.

Ich bin vierzehn. Helmut Kohl ist für eine weitere Amtsperiode zum Bundeskanzler gewählt worden.
Es ist zehn vor elf. Ich bin mit meinen Hausaufgaben beschäftigt: Mathematik der siebten Klasse, einfache Bruchrechnung. Gleichzeitig schaue ich mir einen billigen Horrorfilm über einen verhaltensgestörten Jungen an, der bei jeder Kleinigkeit ausrastet und die Menschen in seiner Umgebung nacheinander umbringt. Angeblich soll der Film auf einer wahren Geschichte basieren. Ob es nun wahr ist oder doch bloß reine Marktschreierei, interessiert mich nicht im Mindesten. Nachdem ich gehört habe, dass zwei Zwölfjährige in England ein Kleinkind entführt und diesen später auf bestialische Weise getötet haben, wundert mich nichts mehr. Die Welt ist ein grausamer Ort. Je älter man wird, desto deutlicher wird einem diese Tatsache bewusst. Ich spüre, wie ich auf das Ende meiner Kindheit zusteuere, aber es macht mir nichts aus. Jedem trifft dieses Schicksal eines Tages. Ich bin keine Ausnahme.
Vater kommt heim. Ich höre, wie er die Tür aufschließt, und weiß an seinem schwerfälligen Gang, dass er die letzten beiden Stunden mal wieder in seiner Stammkneipe verbracht hat. Er ist betrunken. Seine Alkoholfahne ist bis in mein Zimmer zu riechen.
Ich gehe ins Wohnzimmer. Mein Vater hat sich auf die Couch fallen lassen. Er schläft. Sein Hemd stinkt nach Schnaps und Erbrochenem. Am nächsten Morgen wird er mit einem heftigen Kater aufwachen.
Am liebsten würde ich ihm jetzt ein Kissen aufs Gesicht drücken wie der verhaltensgestörte Junge aus dem Horrorfilm. Doch mir fehlt der Mut dazu – wieder einmal. Ich hole eine Decke und hülle meinen Vater darin ein. Die Nacht kann manchmal sehr kalt sein.

Seit dem Tod meiner Mutter hatte mein Vater zu trinken angefangen. Jeden Abend nach Dienstschluss fuhr er in seine Stammkneipe, um dort den Frust zu ertränken. Mit siebenunddreißig hatte er schon die Leber eines Alkoholkranken. Der Verlust seiner Frau, die er seit seinem sechzehnten Lebensjahr liebte, und die Abneigung der eigenen Tochter, die er täglich zu spüren bekam, hatten dazu beigetragen, dass er den Boden unter den Füßen verlor. Trotzdem hatte er sich beharrlich an die Hoffnung geklammert, irgendwann wieder glücklich zu werden.
Ich erinnere mich, wie er in manchen Nächten in Tränen ausgebrochen war. Er war dann immer nach oben in die Dachkammer gegangen und hatte in einer alten, verstaubten Truhe unsere Familienfotos herausgekramt. Sein ständiges Nachtwandeln hatte mich angewidert.
Als ich schließlich in die Pubertät gekommen war und die Hormone bei mir verrückt gespielt hatten, hatte ich mich fast jeden Tag mit meinem Vater gestritten. Wir hatten uns angeschrieen, uns gegenseitig Vorwürfe gemacht – schon wegen Nichtigkeiten waren wir uns an die Haare geraten. Mit achtzehn erkannte ich nach einer fürchterlichern Auseinandersetzung, die beinahe in eine Schlägerei ausgeartet wäre, dass die derzeitigen Spannungen ein Zusammenleben mit meinem Vater unmöglich machten, und beschloss daher, mir eine eigene Wohnung zu suchen. Die fand ich auch mithilfe einer guten Schulfreundin, mit der ich später eine WG gründete. Mein Vater hatte am Tag meines Auszugs versucht, mich zum Bleiben zu bewegen. Doch alles war längst beschlossene Sache. Ich wollte mein Leben endlich selbst in die Hand nehmen und meine Vergangenheit hinter mich lassen.
In spätestens zehn Monaten würde ich aber meinen Entschluss bereuen.

Ich bin neunzehn und besuche die 12. Klasse. In einem Jahr werde ich Abitur machen. Meine beiden Leistungsfächer sind Englisch und Geschichte. Ob ich zu den Prüfungen überhaupt zugelassen werde, weiß ich nicht. Mein letztes Zeugnis zeigt, dass ich noch einiges tun muss. Man hat mich schon mehrmals zum Jahrgangsleiter gesandt, der mich immer wieder darum gebeten hat, regelmäßig zum Unterricht zu erscheinen. Ich habe schon sechzig Fehlstunden. Das Halbjahr hat erst vor drei Monaten angefangen.
Es ist der 3. November. 8:30 Uhr. Ich hätte eigentlich jetzt Sport. Aber weil ich gestern bis Mitternacht in der Kneipe gekellnert habe, beschließe ich, die ersten beiden Stunden zu schwänzen. Mir ist egal, was der Jahrgangsleiter dann sagen wird. Ich mache mir nichts aus der Zukunft. Mich interessiert nur das Hier und Jetzt.
Vor zwei Tagen hat mein Vater mich besucht. Er schaut mindestens dreimal die Woche bei mir vorbei, um sich zu vergewissern, dass es mir auch gut geht.
Inzwischen streiten wir uns nicht mehr so oft. Ich habe mein Leben und er seins. Man muss sich damit abfinden – früher oder später. Für meinen Vater ist die plötzliche Einsamkeit, die ich bei ihm zuhause zurückgelassen habe, nach wie vor schwer zu ertragen, aber ich bin mir sicher, dass er sich daran gewöhnen wird. Jedenfalls ist es für uns beide das Beste. Wir hätten uns sonst weiterhin unnötig wehgetan und das konnte und durfte ich nicht mehr zulassen – zu meinem und vor allem zu seinem Wohlergehen.

Um ganz ehrlich zu sein, meine lieben Leser und Leserinnen, habe ich nie aufgehört, meinen Vater zu lieben. Der Hass, mit dem ich ihm damals begegnet war, war Folge meines Unverständnisses auf die Verlogenheit der Erwachsenen und die Art und Weise, wie sie mit dem Tod umgehen.
Mein Vater hatte nach Mutters Beerdigung alles, was ihn an sie erinnerte, weggeworfen, die Möbel, ihre Kleider, die gesamte Einrichtung, lediglich die Fotos hatte er behalten, sicher verwahrt in einer schweren Truhe, wofür nur er den Schlüssel besaß. Man kann es ihm nicht verübeln. Ich hätte es vielleicht auch getan, obwohl ich insgeheim weiß, dass das der falsche Weg ist. Es ist mehr eine Flucht als eine Lösung. Um Frieden zu finden, sich mit seiner Vergangenheit ins Reine zu kommen und sie endgültig hinter sich zu lassen, muss man zuerst dem Tod ins Gesicht sehen, sich mit ihm auseinandersetzen, ihn als das anerkennen, was er ist, nämlich das absolute Ende, das uns immer an die Vergänglichkeit allen Seins erinnert, und ihn letztendlich akzeptierten. Man braucht ihn nicht unbedingt zu lieben, nur lernen, ihn als Teil seines Lebens aufzufassen.
Jeder stirbt eines Tages, so sehr es einem auch schwer fällt, sich diese Tatsache ständig vor Augen zu führen, man kommt nicht drum rum. Aber wenn man dem Tod immer ins Gesicht sieht, sich seiner ewig währenden Präsenz gewahr wird und ihn als solches hinnimmt, verliert man die Angst vor ihm und vermag hinter seiner gnadenlosen Fassade eine Schönheit zu entdecken, die das Leben kostbarer erscheinen lässt. Ich selber musste vor dieser Erkenntnis viel Leid ertragen. Dennoch bin ich froh, zu ihr gelangt zu sein. Letztendlich, meine lieben Leser und Leserinnen, zählen nur die neuen Einsichten, die man durch einen Fehler gewinnt.

An jenem kalten Novembertag, ungefähr siebenundfünfzig Tage vor der Jahrtausendwende, sollte ich, ohne es zu ahnen, ein zweites Mal den Tod kennen lernen.

Der Winter steht vor der Tür. Draußen weht ein eisiger Nordwest-Wind. Er reißt die restlichen Blätter von den Ästen der Bäume und wirbelt sie auf den Straßen herum.
In zwei Tagen werde ich mit meinem Vater essen gehen. Ich habe freie Auswahl, die Rechnung geht auf ihn. Mir schwant italienisch vor. Griechisch wäre auch nicht schlecht.
9 Uhr. Die erste große Pause fängt bald an, im Anschluss: Die dritte Stunde.
Zeit zum Aufstehen, sage ich zu mir. Man wolle nicht gänzlich den Tag im Bett bleiben und die Schule schwänzen. Mir stehen zwei Stunden Mathematik bevor.
Ich gehe unter die Dusche, kleide mich ein, packe meine Sachen und begebe mich auf den Weg zur Schule. Frühstück lasse ich ausfallen.
Das Laub auf den Straßen glänzt golden. Es riecht nach Regenwasser und raschelt unter meinen Füßen, wenn ich darauf trete. Heute ist ein schöner Tag, etwas kalt für meinen Geschmack, aber nichtsdestotrotz verheißungsvoll. Man möchte ihn am liebsten im Freien, an der frischen Luft verbringen.
Ich bin in fünfzehn Minuten auf dem Schulhof. Wir haben neben dem Haupteingang eine Raucherecke. Meine Clique und ich halten uns dort die meiste Zeit in den Pausen auf.
Nicolette, eine meiner besten Freundinnen seit dem Kindergarten, teilt mir mit, dass einige Lehrer nach mir gefragt hätten. Der Direktor wolle mich sehen, sagt sie. Man sei schon seit heute Morgen fieberhaft auf der Suche nach mir.
Ich frage nach dem Grund.
Nicolette und der Rest der Clique zucken mit den Achseln.
Bestimmt möchte der Direktor sich mit mir über meine Fehlstunden unterhalten, denke ich.
Als die Pause zu Ende geht, begegne ich meinem Sportlehrer. Er verlangt von mir zu wissen, wo ich in den ersten Stunden gewesen sei. Das Sekretariat habe versucht, mich telefonisch zuhause zu erreichen. Ich erzähle ihm, man habe mir kürzlich die Leitung gekappt, weil ich die letzten drei Rechnungen nicht bezahlen konnte.
Mein Sportlehrer bringt mich in das Büro des Direktors. Dessen Sekretärin ist froh, dass man mich doch noch irgendwie finden konnte, gleichzeitig hat sie einen betroffenen Ausdruck auf dem Gesicht. Ich ahne Schlimmes.
Der Herr Direktor sitzt an seinem Schreibtisch. Er wirft mir einen forschen Blick zu und bittet mich, Platz zu nehmen.
>>Ich weiß, warum ich hier bin<<, sage ich zu ihm. >>Es sind meine Fehlstunden. Ich werde von der Schule fliegen, nicht wahr?<<
Der Direktor verzieht eine irritierte Miene. >>Nein<<, sagt er kopfschüttelnd. Er räuspert sich. Sein gemäßigter Tonfall jagt mir einen Schrecken ein. Ich habe ihn noch nie so erlebt, sonst ist er nämlich immer streng.
>>Es geht um Ihren Vater<<, sagt er schließlich.
Mich beschleicht eine fürchterliche Vorahnung. Ich glaube, plötzlich die Stimme meines Vaters zu hören, wie sie meinen Namen ruft und immer leiser und leiser wird, bis sie endgültig verstummt.
>>Was ist mit ihm<<, frage ich den Direktor. Aber eigentlich will ich nicht, dass er mir antwortet. Ich weiß, tief in mir drin: Meinem Vater ist etwas Schreckliches zugestoßen.

Am 3. November 1999 hatte mein Vater auf dem Weg zur Arbeit einen Schlaganfall erlitten, war von der Fahrbahn abgekommen und mit dem Auto gegen eine Straßenlaterne geprallt. Eine halbe Stunde später hatte sein Herz aufgehört zu schlagen. Alle Wiederbelebungsversuche waren gescheitert. Um 9:05 Uhr wurde er von den behandelnden Ärzten, die bis zuletzt um sein Leben gekämpft hatten, für tot erklärt.
Mein Vater war an dem Tag fünfundvierzig. Noch ein Monat und er hätte seinen sechsundvierzigsten gefeiert.
Man erzählte mir, dass er die ganze Zeit bewusstlos gewesen sei und deshalb nicht gelitten habe.

Obwohl man es mir abgeraten hat, habe ich darauf bestanden, ihn noch mal zu sehen.
Ich werde in einen kalten Operationsraum in der Notaufnahme gebracht. Mein Vater liegt dort, eingehüllt in einem weißen Laken. Sein Mund ist zu einem zaghaften Lächeln geformt. Es macht den Eindruck, als schlafe er nur.
Ich betrachte seinen Körper. Er hat seit Mutters Tod an Gewicht zugelegt, der einst vor Kraft trotzende Mann, der er einmal war, wirkt um etliche Jahre gealtert. Furchen haben sich in sein Gesicht gegraben. Das Haar ist strähnig, es fühlt sich wie Stroh an. Ich streichle ihm sanft über die Wange, berühre seine Lippen, sie sind etwas blau angelaufen und ganz trocken. Tränen sammeln sich in meinen Augen, als ich merke, dass sein Körper noch immer ganz warm ist.
Irgendwas regt sich. Ich schrecke zurück, beruhige mich aber wieder. Es war bloß eine Sinnestäuschung, sage ich zu mir.
Mein Vater ist tot, nur noch ein Stück Fleisch auf einem Operationstisch, umgeben von allerlei Geräten, die nach Desinfektionsmittel riechen. Er ist tot, für immer weg.
Wie friedlich er doch da liegt so, als würde er in einem süßen Traum verweilen. Ich möchte meine Arme um ihn schlingen und ihm eine Decke sein. Aber ich traue mich nicht. Zu groß ist die Angst, ihn bei seinem Schlaf zu stören. Er soll in Ruhe gelassen werden, genauso bleiben wie er jetzt da liegt mit diesem friedlichen Lächeln.
Ich lege meine Hände aufs Gesicht und fühle, wie es in ein Tränenmeer verschwindet. Mich beschleicht eine schreckliche Leere, die sich unentwegt in mir ausbreitet und mich langsam von innen verschlingt.
Mein Vater ist tot. Erst gestern hatte er mich gefragt, ob ich Lust hätte, mit ihm am kommenden Freitag zu Abend zu essen. Ich hatte mir nichts dabei gedacht und „ja“ gesagt. Wir wollten in ein Restaurant gehen und uns dort den Bauch voll schlagen. Er hatte mir mit einem Lächeln versprochen, dass er alles selbst bezahlen möchte. Ich bräuchte mir um die Rechnung keine Sorgen zu machen, das waren seine Worte gewesen.
Es ist niemand da, der mir sagt, dass mein Vater nun im Himmel sei zusammen mit meiner Mutter, auf Ewig vereint, und dass er von dort über mich wachen würde. Ich bin allein. Mir fehlen seine neunmalklugen Ratschläge, unsere ständigen Streitereien, sein befreites Lachen, unsere hitzigen Diskussionsrunden während des Essens, sein grausiger Gesang unter der Dusche – einfach alles, was mit mir und meinem Vater zu tun hatte.
Er hat mich verlassen wie damals meine Mutter, und wieder einmal hatte ich nicht die Gelegenheit gehabt, mich von dem Menschen, der eine wichtige Rolle in meinem Leben innehatte, zu verabschieden, ihm zu sagen, dass ich ihn über alles liebe. Ich wünsche mir, mehr Zeit mit ihm verbracht zu haben, statt immerzu vor seiner Nähe ausgewichen zu sein.
Er ist an einem Ort, den ich nicht erreichen kann, und nun bin ich diejenige, die mit der Einsamkeit nicht fertig wird. Ich möchte, dass er die Augen öffnet und mich fest in seine Arme einschließt. Wieso habe ich mich früher vor seinen innigen Umarmungen gesträubt, ihn jedes Mal weggestoßen, wenn er mir seine Liebe zeigen wollte? War sein Wunsch, dass ich ihn wieder als meinen Vater anerkenne, denn so verwerflich?
Ich hätte mich ihm mehr öffnen sollen. Vielleicht hätten wir uns dann wieder besser verstanden, jeder den anderen, und uns gegenzeitig um Vergebung gebeten, damit wir die Vergangenheit, die uns noch immer verfolgt hatte, endgültig abschließen konnten, um ganz von vorne anzufangen.

Nachdem mein Vater beerdigt wurde, bin ich noch ein Mal in unser altes Haus gegangen und habe auf der Dachkammer jene schwere Truhe aufgeschlossen, in der sich unsere Familienfotos befanden. Aber nicht auf einem einzigen der Fotos war mein Vater zu sehen, nur ich und meine Mutter. Er hatte nur die von uns aufbewahrt, nicht von sich.
Trotzdem bin ich nicht traurig darüber. Denn immer, wenn ich mir die alten Familienfotos anschaue, weiß ich, dass das Abbild meines Vaters auf ihnen in irgendeiner Form vorhanden ist, und spüre die Liebe, die er für die beiden Personen auf den Fotos gehegt hatte, jene Momente, die er unbedingt festhalten wollte. Warum sonst hatte er sie in dieser Truhe eingeschlossen und sie wie einen kostbaren Schatz behandelt?

Ich weiß, dass es keinen Trost für mich gibt.
Der Tod, meine lieben Leser und Leserinnen, hat mir alles genommen, die beiden wichtigsten Menschen in meinem Leben, und ich hatte nichts getan, um ihn daran zu hindern. Er hat sie an einen weit entfernten Ort gebracht, wo mir der Zutritt verwehrt wird, und mir eine tiefe Wunde in die Brust gerissen. Ich bin allein. Niemand ist da, an dessen Schulter ich mich anlehnen kann, bis auf diese unerträgliche Leere. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich mit ihm auseinanderzusetzen.

Seit dem Tod meines Vaters sind inzwischen fast zwei Jahre vergangen. Ich habe in der Zeit versucht, nicht mehr so oft an ihn zu denken. Jede Erinnerung hatte fürchterlich geschmerzt. Aber wie sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, ihn auf Dauer aus meinen Gedanken zu verbannen.
Schließlich habe ich es Leid gefunden, der Konfrontation der Tatsachen ständig aus dem Weg zu gehen. Ich begriff, dass ich mich ihnen entgegen treten musste, andernfalls würde ich niemals Frieden finden und sämtliche Freuden vergessen, die es auf der Welt gibt. Also tat ich das, was nötig war: Ich versuchte, das wahre Gesicht des Todes zu ergründen, seine unzähligen Facetten, indem ich ihn schlicht und einfach in Frage stellte.
Was ist der Sinn hinter all dem Schmerz, den man durch ihn erleidet? Warum sterben Menschen, ohne dass es dafür einen ersichtlichen Grund zu geben scheint, und warum bringen uns deren Ableben dazu, das Leben in einem anderen Licht zu betrachten? Ich habe viel Zeit damit verbracht, wenigstens eine Antwort auf eine dieser Fragen zu finden.
Wenn eine Person, die man gekannt hat, plötzlich tot ist, verschwinden gleichzeitig die Barrieren, die ihn daran gehindert haben, offen über jenen, der verblichen ist, zu sprechen. Man bringt seine unverhohlene Meinung gegenüber der Person zur Sprache, lästert über sie ab oder gibt seine wahren Gefühle, die man für ihn in all der Zeit gehegt hat, aber zum Zeigen außerstande war, in einem schmerzhaften Akt preis. Der Tod vermag die Lebenden zu sich selbst zu verhelfen. Er nimmt ihnen die Angst, sich vor allen zu offenbaren, veranlasst sie, endlich das kundzutun, was schon lange in ihnen geschlummert hat, und gräbt ihr Innerstes aus ihnen heraus. Wenn sich zudem noch herausstellt, dass es sich bei dieser einen Person um jemanden handelt, den man geliebt hat, nötigt er sie, sich dieser Liebe zu erinnern. So ähnlich war es bei meinem Vater.

Ich glaube kaum, dass wir uns so nahe gekommen wären wie jetzt, wo er nicht mehr bei mir ist, zumindest nicht so schnell. Der Tod hatte alles beschleunigt. Er hatte mich dazu gebracht, mich intensiver mit meinem Vater zu beschäftigen, und mich an die Liebe erinnert, die ich die ganze Zeit vor ihm versteckt hatte. Ich erkannte, dass ich in den letzten Jahren mir selbst etwas vorgemacht hatte. Die Wut auf jenen Mann, der für mein Leid verantwortlich zu sein schien, mein ganzer Hass, nichts von alldem ist wahr gewesen! In Wirklichkeit habe ich ihn geliebt, nur hatte ich die ganze Zeit Angst vor diese Liebe gehabt. Ich habe mich ihrer verschlossen, einen schlimmeren Fehler als diesen kann keiner machen.
Jemanden seinen Hass spüren zu lassen, ist einfach, doch jemanden zu lieben, bedarf es viel Mut. Ich glaube, der Grund für meine Angst damals geht auf jenen Vorfall zurück, am Tag, an dem meine Mutter für immer von uns gegangen war.

Meine Mutter, meine lieben Leser und Leserinnen, war eine Frau, die sich nach Liebe verzehrt hatte. Nachdem sie aber zu der Erkenntnis gelangt war, dass sie diese Liebe in der Welt der Lebenden nicht finden würde, hatte sie sich für den Tod entschieden, ungeachtet des Leides, das sie damit hervorrufen würde. Die Liebe hatte sie umgebracht, das zumindest hatte ich all die Jahre geglaubt. Aber ich hatte mich geirrt. Nicht die Liebe hatte sie umgebracht, sondern vielmehr das Unvermögen, Liebe zu nehmen und sie danach zurückzugeben und eine neue zu suchen, sobald diese eine Liebe verschwunden ist.
Es ist besser, sie erfahren zu haben und für sie zu sterben, als sich vor ihr auf Ewig zu verschließen. Ich habe das viel zu spät verstanden und meinem Vater so viel Leid beschert. Es gibt nichts, was es wieder gut machen könnte. Wäre ich doch nur nicht so dickköpfig gewesen.

Mein Vater, meine lieben Leser und Leserinnen, hatte bis zuletzt nie die Hoffnung auf eine zweite Chance aufgegeben. Er hatte mich geliebt, auch wenn diese Liebe von mir unerwidert geblieben war. Ich hatte es ihm wirklich nicht leicht gemacht, dabei hatte ich mir nichts anderes als sein Wohlergehen gewünscht. Vielleicht hätte ich irgendwann, wenn die Spannungen zwischen uns vollends verschwunden wären, ihm gesagt, wie viel er mir bedeutet, doch die Zeit hatte sich gegen mich verschworen.
Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, die Schmerzen und Schuldgefühle, die mich lange gequält hatten, sind zwar immer noch da, aber ich habe gelernt, mit ihnen zu leben.
Ich bin mir nun über meine wahren Gefühle im Klaren, deutlicher als damals, deutlicher als jemals zuvor, dafür sollte ich dem Tod dankbar sein, denn ohne ihn würde ich heute noch immer im Dunkeln tappen und meinen Vater unnötig wehtun.
Alles hat einen Sinn, meine lieben Leser und Leserinnen, das Leben eines jeden wie auch dessen Tod, man muss ihn nur anerkennen, dadurch wird einiges einfacher zu ertragen.
Das Dasein auf Erden ist für uns alle befristet, der Tod einer nahe stehenden Person erinnert uns stets daran. Aber es gibt etwas, das ewig bestehen bleibt, und das ist die Liebe, die wir den Menschen schenken, die uns wichtig sind, in der Hoffnung, dass sie diese Liebe über die gesamte Welt verstreuen und dass wir, die verblichen sind, durch unser Geschenk eine Form der Unsterblichkeit erlangen.

Ich habe keine Angst mehr vor dem Tod, weil ich jetzt genau weiß, was er wirklich ist, und habe ihn als solches akzeptiert. Eines Tages werden auch Sie, meine lieben Leser und Leserinnen, es verstehen – früher oder später. Jeder wird sich irgendwann auf der Suche nach Erlösung damit auseinandersetzen müssen, ob er es will oder nicht, davor die Augen zu verschließen, ist lediglich eine Verzögerung des Unausweichlichen, dabei wird alles danach viel leichter, die Augen werden einem geöffnet und er beginnt, langsam aber sicher zu verstehen.

Der Tod, meine lieben Leser und Leserinnen, ist dafür da, damit Leute wie ich das Leben zu lieben und zu schätzen lernen. Manchmal bedeutet sie auch einen Neuanfang…
 

Gandl

Mitglied
Hi THX,
elf Seiten Tagebuch! ... Uff ...! Aber schon nach den ersten Zeilen, wusste ich, dass ich meine Mittagspause für den Text „opfern“ werde ... – und ich wurde belohnt! Sehr sogar! Ein großartiger Text. Anfangs hielt ich ihn für Fiction. Später dann hab ich ihn 1:1 als Tagebuch gelesen. Mit wachem Blick schilderst du Leben, und reflektierst das Gesehene klug.
Ich bin sehr gespannt auf das von dir Folgende.
Gruß
Gandl
P.S. und herzlich willkommen in der LeLu!
 

THX

Mitglied
Ursprünglich veröffentlicht von Gandl
Hi THX,
elf Seiten Tagebuch! ... Uff ...! Aber schon nach den ersten Zeilen, wusste ich, dass ich meine Mittagspause für den Text „opfern“ werde ... – und ich wurde belohnt! Sehr sogar! Ein großartiger Text. Anfangs hielt ich ihn für Fiction. Später dann hab ich ihn 1:1 als Tagebuch gelesen. Mit wachem Blick schilderst du Leben, und reflektierst das Gesehene klug.
Ich bin sehr gespannt auf das von dir Folgende.
Gruß
Gandl
P.S. und herzlich willkommen in der LeLu!

Danke für das nette Lob.

Bei den elf Seiten handelt es sich um einen Auszug meines Erzählbandes, das ich nach meinem Romandebüt im Herbst 2005 bei dem Verlag, bei dem ich unter Vertrag stehe, veröffentlichen werde. Mein Verleger und ich wollen erst einmal sehen, wie sich mein Erstlingswerk verkauft, danach erfolgt die Veröffentlichung meines Erzählbandes irgendwann im Jahr 2006.
 



 
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