Ich verreise

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gareth

Mitglied
Ich bin auf dem Weg nach Eindhoven.
Ein Treffen der Projektgruppe "Neue Produkte". Wenn ich viertel vor Zehn aus dem Haus komme, reicht das gut. Zehn Minuten zum Bahnhof. Abfahrt 10:14Uhr. Sitzungsbeginn 16 Uhr. Gut, dass der Zahnarzt seine Praxis schon um acht Uhr früh öffnet. Pünktlich zum Verreisen hat es gestern angefangen, in meinem Zahnfleisch entzündlich und schmerzhaft zu pochen. Das ist Schicksal. Da hat man keinen Einfluss drauf. Natürlich habe ich schon eine Woche vorher erste Signale registriert, aber im Umgang mit schmerzhaften, d.h. potentiell leidvollen Erlebnissen, entwickeln wir wohl alle keine wirkliche Routine. Pünktlich um acht Uhr bin ich also da und werde zum Erfüllen der derzeitigen Formalitäten aufgefordert. Man erbittet meine Versichertenkarte und zehn Euro. Erstere zum Wiedermitnehmen, letztere zum Dalassen. „Das da ist ihre EC-Karte“, sagt die Helferin und hebt die Augenbrauen leicht an. Und dann, das müssen Frauen so machen, dafür können sie nichts, fügt sie hinzu: „mit der können wir hier jetzt nichts anfangen“. Und nach einer sehr kurzen Pause: „leider“, und nach noch einer kurzen Pause: „So. Jetzt. Genau. Die“. Und ins Ausatmen hinein: „o.k.“. Kurz danach, fünf nach acht, kümmert sich Dr. Schmitt um mein Zahnfleisch. „Zu sehen ist eigentlich nichts“, sagt er und führt ein sehr einfach geformtes, mit einer Spitze versehenes Instrument in meinen Mund ein. Dann, als ich gerade innerlich aufatme ergänzt er: „ups, na, jetzt blutet's aber doch recht kräftig. Das war schon vernünftig, dass sie noch gekommen sind. Aber, Moment. So“, er quält mich nur zwei Minuten, es genügt aber. "So, jetzt. Also, sie werden diese zwei Tage ohne weiteres in Urlaub fahren können“. „Es ist beruflich“, erinnere ich ihn. „Ja, trotzdem“, sagt er, „machen sie mal noch einen Termin aus. Wir sollten diese lose flatternden Teile besser weg schneiden, das hat ja damals auf der anderen Seite gut geholfen, oder haben sie da in letzter Zeit?“, „Nein“ sage ich, „da war gut“. „Sie wissen ja, die Probleme werden bleiben", plaudert er und spricht von Atrophie und Zahnersatz. „Also dann, nächsten Dienstag, 09:00 Uhr“ schließt er. Ich habe meinen Terminkalender vergessen. Wird aber schon nicht grad was wichtiges sein an dem Dienstag Morgen.

Als ich meine Jacke wieder anziehe, klimpert Kleingeld in der Tasche. Genau. Geld. Das hätte ich fast vergessen. Werd ja in Eindhoven ein Taxi brauchen. Zum Glück bin ich mit dem Fahrrad gefahren. Ein kurzer Ausflug in der Sonne am Bankautomat vorbei. Wird in 15 Minuten erledigt sein. Man muss nur die zeitlichen Abläufe großzügig planen. Dann noch andere Hosen und ein neues Hemd. Schuhe sind geputzt. Gute Vorbereitung. Habe ich gestern Nacht noch erledigt, als Letztes, gleich, nachdem ich um 23 Uhr noch einmal ins Büro gefahren bin. Der Ordner mit den Projektunterlagen war noch genau an der Stelle, wo ich ihn auf meinem Schreibtisch zum Mitnehmen bereit gelegt hatte. Man muss nur eine Ordnung haben. Dieses fiebrige Krankheitsgefühl ist offenbar auch weg, jedenfalls ist es deutlich schwächer als gestern Nachmittag. Ich denke, ich kann fahren.

Um 9 Uhr bin ich mit dem Geld wieder zuhause, sammle in Ruhe die notwendigsten Tabletten, Pillen und Salben von ihren verschiedenen Deponien in der Wohnung und fülle sie in meinen Kulturbeutel. „Wenn man Dir zusieht“, sagt meine Frau wenig später, während ich den Koffer einräume. Ihr Blick ist eine Mischung aus Verwunderung, Nachsicht und leisem Spott. „Da tust Du was rein und dann wieder raus und dann wieder rein. Auf, zu und wieder auf und wieder zu“, „Ja“, sage ich. Früher, vor Jahren, hat sie mir meinen Koffer gepackt, wenn ich verreisen musste. Ich habe gerade den altmodischen, schweren Notebookrechner mit seinem nur unwesentlich leichteren Netzteil wieder aus dem Koffer heraus genommen. Ich wüsste nicht, für was ich ihn brauchen sollte. „Hast Du Deine Brieftasche?“ Ja genau. Das ist wahr. Gestern hatte ich die andere Jacke an. Guter Hinweis. "Was machst Du eigentlich da in Eindhoven?“ „Das weiß ich nicht so genau“. Sie glaubt mir nicht. Ich kann es ihr ansehen. Aber es stimmt. Wenn ich etwas über die geplanten Diskussionen wüsste, hätte ich es erheblich einfacher. Und ich könnte ihr vernünftig antworten. Theoretisch jedenfalls. Meine Frau hat aber Vertrauen in mich. Beruflich. „Was mir gerade noch einfällt“, sage ich, „ich kann ja nicht ohne Mantel gehen. Es sieht zwar wahrlich nicht nach Regen aus, aber wer weiß. Ich könnte ja einfach die helle Jacke nehmen, die ist leicht und nützt doch was bei Wind“. „Du bist doch noch kein Rentner“, sagt meine Frau. Das sagt sie, weil ich diese Jacke von meinem Vater geerbt habe. „Die Dunkelgraue“, sage ich, „sieht noch viel altmodischer aus“. Die Helle hat sogar eine Handytasche innen. Was daran rentnermäßig sein soll, würde mich wirklich mal interessieren. „Ich kann aber auch den leichten, hellen Mantel nehmen, den ich damals Jürgen abgekauft habe“, biete ich als Kompromiss an. Der wäre meiner Meinung nach genau richtig, aber der ist total zerknittert. „Den müsste man vielleicht nur mal noch kurz aufbügeln“ sage ich so leichthin und unaufdringlich, wie es mir möglich ist. Plötzlich habe ich den Verdacht, vielleicht doch ein paar hilfreiche Dateien da irgendwo in meinem Rechner abgespeichert zu haben. Ich packe also das Notebook sicherheitshalber doch wieder in den Koffer, mitsamt dem Netzteil. Dafür muss ich die kleine Ledermappe mit den Schreibutensilien wieder heraus nehmen. Der schmale Ordner mit den Projektunterlagen passt jetzt mit Gewalt gerade noch in die Seitentasche des Koffers. „Mach ihn nicht kaputt“ sagt meine Frau. Dann sehe ich, dass es schon nach 9:50 Uhr ist und beschließe, einfach ohne Überjacke zu fahren. Was soll sein. Es ist warm und sonnig und so weit ist Eindhoven ja auch wieder nicht weg, klimageographisch gesehen. Meine Frau nimmt den hellen Mantel wieder vom Bügelbrett herunter und stellt das Bügeleisen weg. Die Ersatzhose passt jetzt nicht mehr hinein. Ich darf eben beim Essen die Serviette nicht vergessen. Ich überlege, ob ich doch eine zusätzliche Tasche mitnehmen soll. Dann wären alle Probleme gelöst. Aber nein, ich habe mir vorgenommen, nur mit einem einzigen Gepäckstück zu fahren und damit Schluss. Meine Frau steht an der offenen Wohnungstür und sieht auf ihre Armbanduhr, während ich auf dem Koffer knie. Er ist sehr schwer. "Hast Du Deine Fahrkarte und das Handy?" Im Gehen nehme ich das eine vom Telefonschränkchen und das andere vom Buchregal im Flur.

Bahnsteig 3. Reservierung für Wagen 28, Platz 26. Ich habe noch gute 30 Sekunden, bevor der Zug einfährt. Für das Studium des Wagenstandsanzeigers hat es allerdings nicht mehr gereicht. Ich verfüge leider nicht über die Fähigkeit, bei einfahrenden Zügen die Wagennummern abzulesen. Zahlen sehe ich genug, aber sie sehen alle nicht wie Wagennummern aus. Der Zug besteht aus zwei aneinander gekoppelten ICEs. Es gibt also in der Zugmitte, wo sich zwei Triebwagen gegenüber stehen, keinen Durchgang. Das bedeutet, wenn ich jetzt vor der falschen Hälfte stehe, war es das mit der Reservierung. Nein. Direkt vor mir steht der Wagen 28. Das Glück des Tüchtigen. Ich steige sofort ein. Zum Auffinden meines Sitzplatzes habe ich nun ausreichend Zeit. Bei den Platznummern geht es mir ähnlich, wie bei den Wagennummern. In Flugzeugen und Bahnwagen sind diese Schilder in der Regel an Stellen angebracht, die außerhalb meiner Blickrichtungen liegen. Ich habe das nie verstanden.
Eine Stunde unterwegs. Alles deutet bisher darauf hin, dass ich im richtigen Zug bin. ICE bis Düsseldorf, steht in meinen Reiseinformationen. Zwei Stunden Gelegenheit, ungestört die Unterlagen durchzuarbeiten. Aber wenn ich schon mal in Ruhe alleine unterwegs bin, will ich doch erst noch kurz in meine Beethoven CDs reinhören. Brendel. Klaviersonaten. Meine ständigen Begleiter. Ich lehne mich zurück. Da ist es auch schon. 'Beethovens schönstes Lied' hat Kempff den zweiten Satz der 27. genannt. Ich würde nicht streiten wollen, deshalb. Eine ergreifend schlichte und schöne Melodie. Ich nicke sanft ein. 13 Uhr, kurz vor Mönchengladbach. Jetzt lohnt es sich auch nicht mehr, den Ordner auszugraben, bei der dauernden Umsteigerei. Es erscheint mir vernünftiger jetzt, aufmerksam auf die Durchsagen zu achten. Da wird schon noch etwas Zeit sein im Hotel vor Beginn der Besprechung.

Eindhoven. Es ist kalt, windig und es regnet in Strömen. Keine Jacke. Kein Mantel. Kein Schirm. Im Hotelzimmer fällt mir ein, dass ich vergessen habe, mir vom Taxifahrer die Quittung geben zu lassen. Was mein Zahnfleisch betrifft, so könnte ich nicht sagen, dass das Pochen nachgelassen hätte. Ich hoffe, dass die Schmerzen meine Konzentration nicht zu stark beeinträchtigen. Das könnte meinem Renommee als Fachmann abträglich sein. Es ist ja davon auszugehen, dass die Kollegen einerseits meine 40 Jahre Berufserfahrung schätzen, in erster Linie werden Sie aber wohl von meiner Entschlussfreudigkeit und von meinem raschen, sicheren Urteil profitieren wollen.
 
L

Lotte Werther

Gast
An gareth,

Eine Geschichte mit hohem Wiedererkennungswert. Und deshalb habe ich sie gern gelesen und mit Schmunzeln in den Mundwinkeln.

Dein zahnfleisch-blutender Eindhoven-Reisender ist ja in der Tat ein alter Hase, was Reisevorbereitungen angeht. Seine Gesten kamen beim Lesen so an, wie du sie beabsichtigt hast: umständlich, linkisch, unsicher.

Die daneben stehende Ehefrau mit leicht spöttischem Blick ist genau so wenig wegzudenken, wie der alte Koffer und die beinahe vergessenen wichtigsten Dinge: Handy und Fahrkarte.

Die Helle hat sogar eine Handytasche innen. Was daran rentnermäßig sein soll, würde mich wirklich mal interessieren..

Ja, was ist nun wirklich rentnermäßig an einer hellen Jacke? Die Tatsache, dass sie mit Vorzug von Rentnern getragen wird. Helles Beige muss es sein, dann noch Ballonseide, wenn möglich, und natürlich mit gestrickten Bündchen an Ärmeln und zwingend auch die Länge, die nur bis zum Hosenbund reichen darf.

Im Kontrast zum Text steht dann, natürlich auch gewollt von dir, die trockene Überlegung:

Es ist ja davon auszugehen, dass die Kollegen einerseits meine 40 Jahre Berufserfahrung schätzen, in erster Linie werden Sie aber wohl von meiner Entschlussfreudigkeit und von meinem raschen, sicheren Urteil profitieren wollen.

Der im Privaten linkische, umständliche Reisende wird im Beruf zum sicheren, geschätzten Kollegen und Fachmann. Und wie gut, dass die Ehefrau dies auch weiß.

Was den Text an sich angeht, gareth, hat er sich flüssig lesen lassen. Ich störte mich an der Stelle:

Ich packe also den Notebook sicherheitshalber doch wieder in den Koffer, mitsamt dem Netzteil....

Heißt es nicht "das Notebook"?

Und den ersten Absatz bitte ersatzlos streichen. Er ist völlig überflüssig. Die Geschichte beginnt mit:

Ich bin auf dem Weg nach Eindhoven....

Und dies ist keine Anregung, sondern ein Imperativ.

Lotte Werther
 

gareth

Mitglied
Liebe Lotte Werther,

die ganze Zeit über hatte ich während des Schreibens so ein unbestimmtes Gefühl, als hätte sich frühzeitig in die Geschichte ein Abschnitt hinein geschlichen, der vollkommen überflüssig sei. Durch Deine tatkräftige Mithilfe ist es jetzt gelungen, ihn zu identifizieren und unschädlich zu machen. Ich spreche Dir meinen Dank aus :eek:)

Den stand bei Notebook, weil es in diesem Fall als Kurzform des zuvor verwendeten Begriffs Notebookrechner gedacht war. Ich habe es aber der Klarheit halber in ein das umgewandelt.

Ach, könnten doch nur alle Leselupe Mitglieder in den Genuss Deiner Kommentare kommen.

Dies antwortet dir, in einem Anflug von Uneigennützigkeit
gareth
 

majissa

Mitglied
Hallo Gareth,

es ist ja eigentlich eine eher unspektakuläre Geschichte, jedoch so spannend niedergeschrieben, dass man am Text förmlich kleben bleibt. Das ist dir gut gelungen. Was mir noch gefällt: Der leise Erzählton, die unaufdringliche, sanft zubeißende Ironie und die bildhafte Sprache. Beispielsweise hier: "Meine Frau steht an der offenen Wohnungstür und sieht auf ihre Armbanduhr, während ich auf dem Koffer knie." Das war wie Kopfkino. Gut bzw. realistisch auch die Dialoge beim Zahnarzt.

Was mich gestört hat, war der teilweise sehr abgehakte Stil, die einzeln dahingestreuten Worte. Das wirkte auf mich wie eine Lesebremse. Ich erwärme mich selbst für die prägnante Aussage, meine aber, dass ein Satz ein solcher bleiben und nicht grob zerhackt werden sollte.

Die Platznummern im Flugzeug sehe ich auch nie. ;)

Lieben Gruß
Majissa
 
C

casy01

Gast
Wunderbar


Realtität gepaart mit den Schuss Ironie und Humor

die den Leser dazu verführen es zu Ende zu lesen

mit Freude

was ich auch hatte

war meine heutige gute Nacht Bettlektüre
 



 
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