Ich war unterwegs

eprager

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Ich war unterwegs. Ich war seit Jahr und Tag unterwegs. Ich war seit Jahr und Tag unterwegs in einem Wald wie er tiefer nicht sein könnte. Ich weiß nicht wie lange ich schon umher wanderte, aber auch wenn ich es wüsste, täte es nichts zur Sache. Eins steht fest: Die Wanderung ist mein Leben und mein Leben ist ganz und gar Weg. Um mich herum seit eh und je Bäume. Die Bäume trugen Namen, führten ein eigenes Leben, dachten, fühlten wie ein jeder Wanderer, waren selbst Wanderer, waren selbst Suchende. Heute weiß ich, dass auch ich für die vielen Bäume und die Wanderer in ihnen, nichts anderes bin als ein Baum. Durch unsichtbare Bänder waren sie untereinander verbunden; sie kommunizierten über ihr Blattwerk, wenn es sich im Winde wog. Im Lauf der Jahre hatte auch ich ihre Sprache gelernt und konnte mich so mit ihnen verständigen, mit unterschiedlichem Erfolg. Die Bäume schenkten Leuten wie mir ihre Früchte, doch nur wenn sie freundlich gesinnt waren, waren diese auch wirklich genießbar, wobei manche von ihnen sogar köstlich im Geschmack waren. Leider hatten alle Früchte einen Fehler: Man konnte sie nicht aufbewahren; man musste sie schnell und frisch essen sonst verfaulten sie in Windeseile; dies machte es unmöglich sie mit sich herum zu tragen. Dennoch ernährten sie mich; wie sollte ich ohne Nahrung wandern, wie ohne sie suchen. Mit ihnen als Ernährern ließ es sich recht gut leben. So hätte ich mich an einen Platz in diesem Wald legen können, an dem ich von wohlgesinnten Bäumen umringt gewesen wäre, hätte mich ausruhen und meine Suche beenden können. Aber etwas in mir trieb mich weiter, trieb mich fort von Orten dieser Art, hieß mich aufstehen und die Suche fortsetzen, denn mit der Zeit wurden diese Früchte entweder fad, bitter oder sie schlugen mir auf den Magen. Manchmal trifft man einen Baum wieder an Orten an denen man ihn nie vermutet hätte. Man grüßt freundlich, nimmt vielleicht eine seiner Früchte in Empfang, geht vorbei, blickt sich vielleicht noch einmal der alten Zeiten gedenkend um und setzt schließlich den Weg fort. Es gibt auch Gebiete in diesem Wald, die besonders unwirtlich und teilweise sogar etwas furchterregend sind. Manchmal dauert es Tage bis man wieder auf einen Baum trifft, dessen Frucht genießbar ist. Eine solche Phase hatte ich kürzlich: Es waren fast 2 Wochen vergangen, seitdem ich das letzte Mal etwas zu mir genommen hatte. Mein Hunger wuchs. Ich traf auf Bäume, sprach zu ihnen, schmeichelte ihnen, doch ihre Früchte blieben hart, sauer, ungenießbar. Schließlich war mein Hunger aufs Äußerste angewachsen. Ich fühlte mich schwach, immer schwächer. Ich wusste, dass ich nun bald etwas essbares finden musste oder mein Weg wäre für immer beendet. Ich begann mich laut dafür zu verfluchen, dass ich mich nicht an einem geruhsamen Plätzchen niedergesetzt hatte und den möglicherweise immer fader werdenden Geschmack der Früchte akzeptiert hatte. Denn so wären mit der Zeit vielleicht meine Geschmacksnerven verkümmert, aber ich hätte gelebt (im Nachhinein ist mir bewusst, dass ich auf ein Leben dieser Art gut hätte verzichten können, denn was bringt es zu leben ohne Ziel, ohne zu wissen, wohin die Suche führen würde). Die Bäume begannen sich schon über meine störenden Flüche zu ärgern, schüttelten schon ihr Astwerk über mich, da erblickten meine müden Augen etwas in weiter Ferne, das mich schneller laufen ließ: Ich sah eine Art gleißendes Licht. Ich begann zu rennen, meinen schwachen Körper vergessend. Insgeheim fürchtete ich, es könnte Einbildung sein, möglicherweise eine Art Fata Morgana (die Bäume erzählten sich, diese gäbe es auch im Wald, wobei ich das bezweifle), doch je näher ich kam desto heller wurde das Licht und als ich schon ziemlich nah war, erblickte ich ein Schild, dessen Aufschrift ich jedoch nicht lesen konnte. Die Helligkeit entpuppte sich als große Lichtung. Es war dies die erste ihrer Art, die mir zu erblicken vergönnt war. Der Boden war übersät von den schönsten Wiesenblumen, die ich je gesehen hatte. Bienen summten umher auf der Suche nach Blütenstaub, den es in rauen Mengen gab. Am gegenüberliegenden Rand der Lichtung plätscherte ein kleiner Bach, dessen Wasser so klar war, wie man es sich nur vorstellen kann. Die Sonne spiegelte sich in ihm und bescherte einem ein Glitzern in allen Farben des Regenbogens. Vögel zwitscherten so wunderschön, dass man hoffte es würde nie Abend werden, damit sie nie aufhörten ihr heiteres Lied zu singen. In der Mitte der Lichtung jedoch stand ein einzelner Baum, der meine Ankunft freundlich, aber nicht überschwänglich zur Kenntnis zu nehmen schien. Er war von schönem Wuchs, sein prächtiges Blattwerk wiegte sich sanft im leisen Wind. Doch soll man keineswegs meinen, er sei völlig anders gewesen als alle Bäume, die ich bisher gesehen hatte. Im Gegenteil: Äußerlich war er ein ganz normaler Baum, der sich nur in Details von anderen absetzte. Doch innerlich wusste ich dass er keineswegs so durchschnittlich war, wie es den Anschein machte. Es gibt da eine Legende, die einem der Wind manchmal nachts erzählt. Wenn alles still ist im Wald, beginnt er ab und zu ein leises Lied zu singen. Mit einer zarten Melodik erzählt er von besonderen Bäumen. Diese Bäume gewähren, der Legende nach, ihre Frucht nur einem einzigen bestimmten Wanderer. Diese Frucht soll die perfekte sein, für den jeweiligen Suchenden. Wenn er sie einmal gekostet hat, will er angeblich nie wieder eine andere kosten. Sie verliert für ihn nie an Geschmack, sie bleibt immer gleich süß, gleich würzig, gleich salzig, je nach dem wie der Empfänger es mag. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass ich einen solchen Baum gefunden hatte. Da fiel mein Blick auf das Schild, das ich aus einiger Entfernung gesehen hatte. Es war ein kleines Holzschild, das an einem Pfahl angebracht war, der mir bis zum Bauchnabel ging. Moos hatte sich an diesem gebildet und ließ ihn noch verwitterter und morscher aussehen als er ohnehin schon war. Das Schild schien seit Ewigkeiten, an dieser Stelle zu stehen und darauf zu warten gelesen zu werden. Im Nachhinein frage ich mich, wer es dort angebracht hat, habe ich doch in all den Jahren noch nie ein anderes menschliches Wesen in diesem Wald zu Gesicht bekommen. Doch mit solch unbedeutenden Gedanken beschäftigte ich mich in diesem Moment nicht. Ich nahm nun auch die Aufschrift auf dem Schild wahr. Es stand darauf nur ein einziger Satz: Willst du die Frucht, so rede. Und eins stand fest: Ich wollte diese Frucht, wie ich noch nie zuvor in meinem Leben etwas gewollt hatte und so begann ich zu reden. Ich sprach von allem, was mir einfiel und ging dabei auf den Baum zu. Ich erzählte ihm mein gesamtes Leben, meine gesamten Erfahrungen, alles, was ich bisher erlebt hatte, alles, was ich wusste. Meine Geschichten zerfielen zu Sätzen, meine Sätze zerbrachen in der Luft zu Worten, meine Worte fielen zu Boden und zersprangen dort zu Buchstaben, die sich in Form von Sand und Staub anzusammeln begannen. Nach und nach verschwanden die Wiesenblumen, die Bienen, der Bach, das Gezwitscher der Vögel, einfach alles wurde von meinen Geschichten bedeckt. Ich ging langsam weiter, immer wackliger in den Knien. Mein Wortschwall schien nie zu enden. Das Laufen fiel mir immer schwerer und mit ihm das Atmen. Ich blickte besorgt auf meine Füße, besser gesagt dorthin, wo ich meine Füße erwartet hatte. Denn ich wusste nun, wieso mir das Gehen so schwer fiel. Ich steckte bis zu den Knien im Sand, kam kaum vorwärts und einen Augenblick später konnte ich mich gar nicht mehr bewegen. Stattdessen zog mich irgendetwas in die Tiefe. Ich flehte den Baum an mir zu helfen, mir seine Äste zur Rettung zu reichen. Aber meine Bitten versenkten mich nur noch tiefer im Sand. Ich war in Treibsand geraten, aus dem es keinen Ausweg gab; nicht einmal Schweigen half jetzt noch. Traurige Abschiedsworte sprechend sank ich immer tiefer, blickte den Baum ein letztes Mal an und war schließlich völlig versunken. Ich wurde weiter hinabgezogen, um mich war es stockfinster. Vom Druck des auf mir lastenden Sandes verlor ich dann irgendwann das Bewusstsein. Niemand weiß, wie lange ich mich in diesem Zustand befand. Ich weiß nur, dass ich vor wenigen Stunden erwacht bin. Ich bin sterbensmüde, habe unglaubliche Schmerzen und einen beißenden Hunger. Aber ich werde mich aufraffen. Ich werde mich aufraffen, Nahrung suchen und weiter wandern. Immerhin weiß ich jetzt, was ich suche.
 



 
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