Ihr Leben

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Sie sitzt am Tisch. Sie wartet. Ihr Kopf schmerzt. Im Wasser löst sich eine Tablette. Es ist nicht die erste. Das Wasser sprudelt und schäumt. Sie schaut mit leerem Blick in das Glas. Die Tablette steigt an die Oberfläche. Das Wasser sprudelt nicht mehr so stark. Die Tablette wird zu weißen Flocken, die durch das Wasser treiben. Sie zersetzen sich. Das Wasser wird wieder klar.
Ihre erschöpfte Hand nimmt das Glas. Sie trinkt. Meistens hilft es wenig gegen ihre Kopfschmerzen. Mit den Kopfschmerzen ist es wie mit dem Schnee. Sie kommen, sie bleiben, sie verschwinden. Im Moment bleiben sie. Sie bleiben immer öfter. Sie bleiben wie die Schmerzen im Rücken. Sie bleiben wie die Schlaflosigkeit, die sie nachts umherwandern lässt. Der Arzt hat gesagt, ruhen Sie sich aus. Sie hat sich nicht ausgeruht.
Sie hat ihm Frühstück gemacht. Sie hat sich angehört, was er heute zu erledigen hat. Sie hat ihn zur Arbeit geschickt. Sie hat die Kinder geweckt. Sie hat sie angezogen und gewaschen. Sie hat ihnen Essen gegeben. Sie hat das Badezimmer geputzt, während die Kinder das Schlafzimmer durcheinander brachten. Sie hat die Küche aufgeräumt, als die Kinder im Wohnzimmer den Saft verschütteten. Sie hat seine Mutter abgeholt. Sie hat sich zeigen lassen, wie sie seine Socken stopft. Sie hat die Knöpfe an seine Hemden genäht. Sie hat die Wäsche gewaschen und die gewaschene aufgehängt und die trockene gebügelt. Sie hat die Flecken aus dem Wohnzimmerteppich gewaschen. Sie ist mit den Kindern zum Spielplatz gegangen. Sie hat die Mütter der anderen Kinder betrachtet, wie sie mit ihren Männer glücklich waren. Als sie zu Hause war, hat sie die Fenster geputzt. Sie hat wieder die Kinder gefüttert. Sie hat die Küche geputzt und die Kinder in die Badewanne gesetzt. Sie hat sie gewaschen und sie mit Schaum vollgespritzt. Sie haben gelacht. Sie hat den Haushalt gemacht. Am Abend hat sie ihm Essen gekocht und gewartet, dass er nach Hause kommt. Sie hat die Kinder ins Bett gebracht und ihnen vorgelesen. Sie hat versucht ihre Rückenschmerzen zu vergessen. Sie hat die Kopfschmerzen zurückgedrängt, bis sie die Wohnung sauber gemacht hatte. Sie hat das Essen warmgehalten und gewartet. Sie hat Tabletten geschluckt und gewartet. Sie hat sich nicht ausgeruht. Sie wird sich auch morgen nicht ausruhen.
Sie sitzt am Tisch. Ihre Hände umschließen das Glas. Es ist leer. Sie vermisst ihre Mutter. Sie seufzt leise, als sie seinen Schlüssel in der Tür hört.
 
I

inken

Gast
Liebe Ann-Kathrin

...sie sollte die Kinder nehmen und einfach verschwinden.
Ein bedrückendes Schicksal schilderst du da in deinen kurzen knappen Sätzen sehr nachvollziehbar, obwohl mir ein wenig zu viel die geputzt wird an einem Tag.
Liebe Grüße Inken.
 

tina Y

Mitglied
hallo,

bin beeindruckt!!!!!!!!!
super geschrieben.
konnte deine zeilen ERleben und zurück blieb ein gefühl der beklemmung und erkenntnis:SO IST ES (leider) oft.

liebe grüsse, tina
 
G

Guest

Gast
Hallo Ann-Kathrin,

obwohl hier keine Spannung zu spüren ist, hast Du die Story ganz gut hinbekommen. Du beschreibst einen Alltag wie er so häufig vorkommt. Ich wette, diesen Alltag wird sie nie verlassen, obwohl sie es so gern möchte. Wäre aber mal schön, eine Fortsetzung zu lesen. Vielleicht wagt sie ja doch noch den Schritt!?!

Gruß,
GUIDO
 
Hallo Guido!

Es ging mir auch in diesem Text nicht so sehr um die Spannung als vielmehr um die Beschreibung ihres Alltags, der stets gleich abläuft und von ihr nur als ermüdend und bedrückend empfunden wird.
An eine Fortsetzung habe ich bisher noch nie gedacht, weil ich der Ansicht bin, dass sie dieses Leben nicht ändern wird. Sie mag zwar den Wunsch dazu haben, doch liegt dieser in weiter Ferne wie ein Traum. Ihr fehlt es an der Stärke, diesen Traum auch zu leben.
 



 
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