Im Angesicht der Gerechtigkeit

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mikhan

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Im Angesicht der Gerechtigkeit

„Das Gericht verurteilt Sie aufgrund der geschilderten Umstände zum Tode. Das Urteil wird in drei Tagen vollstreckt. Die Verhandlung ist hiermit geschlossen.“

Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal, nur der Angeklagte blieb ganz ruhig. Mit erhobenem Kopf starrte er in die Menge, ohne dabei eine bestimmte Person zu fixieren. In seinem Kopf aber herrschte große Unruhe. Die Stimme des Richters war nur eine von vielen Stimmen, die er vernahm. Da war die Stimme seiner Frau: „Jetzt ist es also soweit gekommen, unser Baby wird seinen Vater nie kennen lernen. Ich habe dich immer davor gewarnt, dich auf diese Sache einzulassen. Wir haben doch alles, was wir brauchen, was kümmern dich die anderen Menschen? Was willst du damit beweisen? Die, die du bekämpfst, sind so viel mächtiger als du, was kannst du schon erreichen?“ Da war aber auch die Stimme seiner Mutter: „Dein Vater wäre sicher stolz auf dich. Auch er hat sein Leben für die Demokratie gegeben. Allerdings ist er auf der Straße, in Freiheit gestorben, du weißt, es war die Zeit der großen Demonstrationen. Heute gibt es keine Demonstrationen mehr, doch die Regierung ist dieselbe geblieben. Die Menschen sind stumm geworden, sind in tiefer Lethargie verfallen Dein kurzer Aufschrei hat sie nicht zu wecken vermocht. Und doch war er nicht umsonst, zumindest möchte ich das glauben.“ Und da war die Stimme seines Anwalts: „Ich kann nichts mehr für Sie tun. Ihr Urteil steht bereits fest. Ich dachte immer, Gleiches mit Gleichem zu vergelten sei grausam. Doch was hier geschieht, ist noch viel grausamer. Was haben Sie denn schon getan? Ihre Gedanken verbreitet, weiter nichts. Verbotene Gedanken. Wie aber können Gedanken verboten sein?“.

„Das Gesetz mag gelten für wen es will, für mich jedenfalls nicht“, rief der Angeklagte plötzlich aus.
„Es gilt auch für dich, es ist auf deine Zustimmung nicht angewiesen.“, schrie der Richter wutentbrannt.
„Ist das Gerechtigkeit?“
„Du kannst es nennen, wie du willst.“
„Dann nenne ich es Gewalt.“
 

Druckmaus

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Hat mir gut gefallen.
Kurz knapp und präzise.
Die Geschichte weckt in mir die Neugierde nach mehr, sie bietet dir Stoff für einen Roman, den ich gern lesen würde.

Gruß Druckmaus
 

mikhan

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Hallo Flammarion, hallo Druckmaus!

Vielen Dank für die wohlwollende Kritik.
Tatsächlich überlege ich gerade, den Stoff in einer längeren Erzählung weiter zu verarbeiten, andererseits hat die jetztige Kurzform den Vorteil ohne alles Beiwerk auf die zentralen Aussagen fixiert zu sein. Mal schaun...

Grüße Mikhan
 



 
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