Im Fadenkreuz (Drittes Kapitel)

IM FADENKREUZ

DRITTES KAPITEL


Wenn Müller gefragt wurde, warum er Polizist geworden sei, so zuckte er meist nur mit den Achseln und blieb die Antwort schuldig. Im Sektor D tat man die wenigsten Dinge aus eigener Überzeugung. Sicher, es lag in der Familie, und wenn man Müllers Lebenslauf unter die Lupe nahm, so erschien es logisch, dass der Computer des Arbeitsamtes diese und keine andere Entscheidung getroffen hatte. Es war etwa so, als hätte man einen Leistungssportler gefragt, „warum treiben Sie Sport?“ Schon als Kind hatte Müller einen Traum; sein ganzes Leben war darauf ausgerichtet, dieses Ziel zu erreichen. Er wollte im Personenschutz arbeiten und eines Tages neben der gepanzerten Limousine hertraben, in der sich der Marschall höchstpersönlich unter das Volk wagte. Nur einmal dachte er ernsthaft daran, seine Laufbahn als Polizist zu beenden. Es war an einem kalten Wintertag kurz vor Neujahr, als sieben Einheiten zusammengetrommelt wurden, um die alljährlichen Chaos-Tage niederzuschlagen. Jedes Jahr rebellierten die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger mit einer groß angelegten Demonstration gegen die desolaten Zustände in der Megalopolis. Demonstrationen waren ungesetzlich, und so verwunderte es niemanden, dass die Polizei mit äußerster Härte einschritt. Müller war mittendrin, als die Steine flogen und die Molotowcocktails abfackelten. Er bearbeitete gerade einen langhaarigen Freak mit Koteletten und einer entstellenden Hasenscharte, als sich eine junge Frau dazwischenwarf und die Schläge abfing. „Du Schwein“, schrie sie Müller an und wischte sich das Blut von der Nase, „warum tust du das? Ist es, weil man dich als Kind geschlagen hat, oder wofür willst du dich rächen?“
Müller hatte keine Zeit, die Frage zu beantworten, denn sie wurden auseinander gedrängt, und er sah die Frau nie wieder. Doch die Worte krochen ihm unter die Haut, nagten an seinem Herzen und brachten ihn schließlich so weit, um seine Versetzung zu ersuchen. Doch Polizeirat Ehlert lachte nur trocken, als Müller verlegen seine Gründe offen legte. „Müller, Sie werden doch jetzt nicht das Handtuch werfen! Ja, glauben Sie denn, Ihren Kollegen geht es anders? Es ist ein offenes Geheimnis, dass unsere Leute von Kindheit an mit Gewalt konfrontiert wurden. Aber wir vertreten das Gesetz, und das ist alles, was in diesem Staat zählt.“
Seitdem hatte Müller sich mit den Tatsachen abgefunden, und wenngleich sein beruflicher Traum nach dem letzten Karriereknick unerfüllbar erschien, erledigte er weiterhin seinen Job, ein wenig unbeholfen und tollpatschig zwar, aber mit zäher Beharrlichkeit. Im Vergleich zu seinen Vorgesetzten war er eine Mücke, und er konnte von Glück reden, dass sie ihn nicht gleich vom Tisch wischten, als die ersten beruflichen Misserfolge sich einstellten. So machte er seine Arbeit, voller Selbstzweifel und zu ständigen Kompromissen gezwungen. Auch der Tag im Alten Revier ging vorüber, die Leiche im Gebüsch und die misstrauischen Blicke der Autonomen, der Anruf von Lechner und sein Ärger über den aufdringlichen Informanten. Er musste mit Lechner kooperieren, was blieb ihm anderes übrig. Um seinem Unmut Luft zu machen, zerriss er einen Packen Zeitschriften, der für das Altpapier vorgesehen war. Dann hockte er sich stumpfsinnig vor den Fernseher, der Tag und Nacht lief, rauchte eine Fluppe nach der anderen und dachte sehnsüchtig an die dicken Stinkebolzen, die sich der Polizeirat jeden Tag genehmigte. Im TV lief die allabendliche Werbung, dann brachten sie eine Sendung über die großen Epidemien der Menschheit. Müller schnaufte wütend. Angefangen hatte es vor gut hundert Jahren mit Aids, Müller wollte gar nicht mehr wissen, was die Journalisten erzählten. Vielleicht steckte der Geheimdienst dahinter, vielleicht hatten die Außerirdischen die Hand im Spiel, oder es war ein seltsamer Schachzug der Evolution. Er hatte gehört, dass die Menschen in Afrika Affenfleisch verzehrten, was sollte man auch essen, wenn man nichts zu beißen hatte. Aber das war nur der Anfang. Es war kein Wunder, dass die Monokultur Krankheiten wie BSE mit sich brachte, und als ein wirksames Gegenmittel gefunden wurde, trat der nächste gefährliche Erreger auf den Plan: AAIC. AAIC entstammte definitiv aus dem Genlabor, und bis weit in das 22. Jahrhundert gab es niemanden, der die Seuche nicht fürchtete. Der Schmock im Fernsehen redete sich die Zunge wund, Müller stopfte sich schließlich Watte in die Ohren, um das leere Gerede nicht länger ertragen zu müssen.
Er saugte an seiner Zigarette, als wolle er den Tabak verschlingen. Sie brachten jetzt einen Werbeblock, Zeit für die Konsumenten, den Gang zur Toilette anzutreten. Sicher pumpte das Wasserwerk wieder Millionen Liter durch die Leitungen, um den Bedarf zu decken. Wahrscheinlich hatte es irgendein gequälter Programmierer schon Wochen vorher errechnet, damit es keinen Engpass gäbe. Müller drückte müde seine Zigarette aus, murmelte halblaut: „die Außerirdischen“. Er hatte seine eigene Theorie entwickelt. Es wäre nicht klug gewesen, sie laut auszusprechen. Insgeheim vermutete er, dass der Planet kolonisiert werden sollte, um den Bewohnern von Alpha Centauri als neue Bleibe zu dienen. Als er Timo Lechner bis nach Nordafrika verfolgt hatte, war ihm einiges zu Ohren gekommen, das ihn an den offiziellen Nachrichtenmeldungen zweifeln ließ. Er hatte die Menschen gesehen, wie sie sich quälten und schufteten, um ein unwürdiges Leben im Untergrund zu führen. Niemand konnte ihm erzählen, dass all dieses Leid gewollt und bewusst herbeigeführt worden war. Die Krankheiten, das Leben in der Dunkelheit und der ständige Hunger: Es schien, als ob eine höhere Macht es darauf abgesehen hätte, die Menschen von der Erde zu verdrängen. Dann gab es Gerüchte von fliegenden Untertassen und geheimen Stützpunkten in der Wüste; auch das Hypernet und die Videoüberwachung schienen nur dazu zu dienen, jeglichen Widerstand zu brechen. Müller hatte lange Nächte wach gelegen und über das Schicksal der Menschheit gegrübelt, und wenn seine Theorie in manchen Punkten auch nicht ganz stringent erschien, so war er doch felsenfest von ihr überzeugt. Vielleicht würden sie ihn eines Tages doch zum Personenschutz versetzen, und er hätte die Möglichkeit, einen Blick hinter die Kulissen der hohen Politik zu werfen.
Im Fernsehen spielten sie jetzt die Nationalhymne, es war kurz nach Mitternacht. Müller setzte sich an den Computer und gab eine Bestellung auf. Er hatte mit einem Mal großen Hunger, zählte die Minuten, bis es in der Rohrpostleitung summte und er ein frisches Essenspaket in Empfang nehmen konnte. Es gab Mischfleisch mit grünen Bohnen. Die Nationalhymne verklang, und natürlich läutete das Telefon, als er gerade den ersten Bissen verschlungen hatte. Es war die Telefonistin eines Marktforschungsinstituts. Sie bestand darauf, dass Müller ihr einige Fragen beantwortete – das sei gesetzliche Vorschrift – und quetschte ihn über seine aktuelle Lebenssituation aus. Wieviel er verdiene, ob er bei guter Gesundheit sei, ein Auto besitze. Müller ärgerte sich und legte schließlich einfach den Hörer auf, nachdem er vergeblich darauf hingewiesen hatte, dass es schließlich mitten in der Nacht sei. Das Essen war schon kalt, und das Fernsehprogramm wurde immer grauenhafter. Jetzt zeigten sie auf allen Kanälen gleichzeitig eine dümmliche Talkshow, die sich mit dem Problem des toten Kamerawinkels in Privatwohnungen beschäftigte. Plötzlich brach das Bild zusammen, und Müller lachte kurz auf, denn auf dem Bildschirm erschien für eine Sekunde das Konterfei des verstorbenen Querulanten Timo Lechner. Wiewohl ein ganzes Rudel von Programmierern Tag und Nacht daran arbeitete, den teuflischen Virus aus dem Netz zu entfernen, schien es ihnen nicht zu gelingen, das Wettrennen für sich zu entscheiden. Lechner hatte unzählige Dateien im Hypernet hinterlegt, mit deren Hilfe sich der Virus ständig selbst modifizierte, Passwörter abfing, Zugangsberechtigungen knackte und Programme infizierte. Müller hatte den Eindruck, dass der Tag X immer noch nicht erreicht war und irgendjemand fieberhaft an dem Programmcode arbeitete, doch welches Ziel die Softwarepiraten verfolgten, war ihm absolut schleierhaft. Im Fernsehen zeigten sie jetzt das Testbild, und Müller genoss jede Sekunde der Sendestörung, denn die Fernsehapparate waren so konstruiert, dass man sie nicht ausschalten konnte. Die Freude währte jedoch nicht lange, denn kaum hatte er sich zurückgelehnt und sich eine Zigarette angezündet, klingelte schon wieder das Telefon. Müller riss den Hörer von der Gabel, schnaubte wütend, „was ist?“ Doch aus der Leitung antwortete ihm nur ein trockenes Lachen. Es war sein Kollege Seltz . „Hör mal, Müller, ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Schwing deinen Arsch vom Sofa, du wirst gebraucht.“
Er gab Müller den Einsatzbefehl, dann legte er auf. Müller fluchte. Er raste die Treppe herunter, setzte sich ins Auto und gab mächtig Gas, denn Seltz hatte jenen gewissen Ton in der Stimme, der kolossalen Ärger ankündigte. Am Einsatzort war die Hölle los. Fünfzig SEK-Beamte traten sich gegenseitig auf die Füße, Sturmhauben wurden angelegt, Dienstwaffen durchgeladen, jeder wartete auf das Kommando des Polizeirats. „Was ist denn hier los“, fragte Müller atemlos, und Seltz nahm sich eine Minute Zeit, ihm die Sachlage zu erklären. Ein Anwohner war anscheinend durchgedreht, hatte seine Nachbarin als Geisel genommen und drohte jetzt Amok zu laufen. Er sei mit zwei Messern bewaffnet, richte eines davon gegen sich selbst, das andere gegen die Beamten und sei kurz davor, die Geisel zu ermorden. Man habe versucht, ihm mit Tränengas beizukommen, doch anscheinend sei er völlig unempfindlich gegen das Reizgas, wohingegen alle Kollegen mit tränenden Augen den Rückzug angetreten hätten. „Dein Auftritt, Müller, jetzt hast du die Chance, deinen Ruf wiederherzustellen.“
Müller wusste nicht recht, wie ihm geschah, denn Seltz reichte ihm die Ausrüstung, klopfte dann aufmunternd auf seine Schulter, grinste blöde und zischelte: „dann mal los.“ Ehe er wusste, wie es weitergehen sollte, befand sich Müller mitten unter dem Sondereinsatzkommando, der Polizeirat gab den Befehl zum Sturm, und die Truppe schwärmte aus. Zehn Beamte schwangen sich durch das linke Fenster, zehn durch das rechte, ein mutiger Beamter riss dem Amokläufer die wehrlose Frau aus den Händen und verschwand durch das Treppenhaus. Plötzlich traten alle den Rückzug an, das war nicht abgesprochen, und Müller stand allein vor dem Verrückten, in der Rechten die Walther, am Gürtel die Handschellen. Er überlegte nicht lange, setzte zu einem Schulterwurf an und wand der Zielperson das Messer aus der Hand. Dabei löste sich ein Schuss. Die Handschellen klickten, und der Verbrecher lag reglos am Boden. Seltz lugte vorsichtig durch das Flurfenster und applaudierte hämisch, als er Müller unversehrt über dem Amokläufer kauern sah. „Das hast du gut gemacht, Kollege. Dumm ist nur, dass du dem Mistkerl das rechte Ohr abgeschossen hast. Das werden sie in den Abendnachrichten wohl mühevoll retuschieren müssen.“
Müller seufzte gottergeben, sah sich dann erst einmal in aller Ruhe um. Die Wohnung war völlig verkommen, dreckige Kleidungsstücke und alte Zeitungen bedeckten den Boden, nicht einmal das Bett war freigeräumt. Pin-up-Girls grinsten von den Wänden, und Müller war verblüfft, als er eines der Poster von der Tapete riss, denn dahinter steckte ein ganzes Bündel Geldscheine, säuberlich in der Mitte zusammengeknickt. Müller steckte die Scheine ein und kletterte dann aus dem Fenster zu den Kollegen. Auch Arenz war mit von der Partie. Er verkniff sich das Lachen, führte Müller dann in den Hausflur, um ihm etwas zu zeigen. Er drehte einen Ziegelstein um, und darunter lauerte – Müller konnte es kaum glauben – ein fetter weiblicher Skorpion. Daneben lag die tote Hülle eines kleineren männlichen Skorpions, den das Weibchen anscheinend getötet und aufgefressen hatte. Arenz nahm den Ziegelstein in die Hand und schmetterte ihn dann auf das reglose Tier, das noch einmal wütend zischte und dann sein Leben aushauchte. „Siehst du, Müller, es stimmt wirklich, was sie in den Nachrichten sagen. Die Viecher sind mittlerweile fast überall.“ Müller zwang sich ein Lächeln ab, aber im Grunde war ihm speiübel, alles, was er jetzt brauchte, war ein guter Schluck Malzkaffee, denn an Schlaf war sowieso nicht mehr zu denken. Seltz dagegen gähnte herzhaft und murmelte, „ich leg mich in die Koje. Du wirst es nicht glauben, was ich letzte Nacht geträumt habe.“
„Was?“
„Ich sah den Marschall, im Fadenkreuz.“
Arenz schluckte, sah sich vorsichtig nach der Fernsehkamera um, klopfte dem Kollegen dann wohlmeinend auf die Schulter. „Schlaf dich aus, Kamerad. Wir gehen erst mal Würstchen essen am Hauptbahnhof.“
Seltz trottete müde davon, und Arenz schubste Müller ins Auto, kurbelte die Scheibe herunter und summte leise, „Würstchen essen, Würstchen essen.“ Dann erkundigte er sich wohlwollend, ob Müller schon Erfolge bei den Ermittlungen erzielt habe. Müller verneinte, woraufhin Arenz erklärte, er werde Müller später zu einem Verhör mitnehmen. „Eine Überraschung, Müller.“
Sie kamen zum Hauptbahnhof, nötigten den Verkäufer, das Geschäft mitten in der Nacht zu öffnen und aßen die Würstchen. Es bestand ein Abkommen zwischen den Geschäftsleuten und der Polizei. Die Beamten durften sich in allen Geschäften gratis versorgen und sahen im Gegenzug über alle dunklen Geschäfte hinweg, die sich am Bahnhof abspielten. Arenz redete ohne Punkt und Komma auf Müller ein und erklärte ihm lang und breit, er solle die Geschichte mit dem FKK vergessen und sich auf die wesentlichen Dinge konzentrieren. „Das ist doch nur ein Haufen von infizierten Radikalen, die sich allein für ihre Erkrankung rächen wollen. Glaub mir, die wahren Drahtzieher sitzen woanders.“
Müller nickte und nahm noch einen Schluck Kaffee. Sie beendeten den Imbiss, und Müller ließ sich bereitwillig von Arenz mitzerren, um mit ihm zusammen die Büros des Bundesgrenzschutzes am Bahnhof zu betreten. Arenz führte ihn in ein Hinterzimmer, wo auf einer gekachelten Bank ein übernächtigter Freak aus dem Alten Revier kauerte, grüne Bomberjacke, Zigarette im Mundwinkel. Arenz baute sich vor ihm auf.
„Wie heißt du?“
„Das wissen Sie doch, Kommissar.“
„Ich will es noch einmal hören.“
„Kalle. Kalle Nickel.“
„Also gut, Kalle. Was weißt du über eine Person namens Zappa?“
Kalles Augen verengten sich vor Schreck, und er stotterte benommen, diesen Namen nie gehört zu haben. Arenz gab ihm eine Ohrfeige. „Wie war das? Wie war das mit der Geschichte von dem Mord am Bahndamm?“
Kalle gab auf. Er erzählte, in jener Nacht auf der Suche nach einem Pennplatz in den Schrebergärten herumgestromert zu sein. Dann hätte er das Pärchen gesehen. Es war an sich nichts Ungewöhnliches, in jener Gegend Homosexuelle zu sichten, aber irgendetwas stimmte nicht an der Sache. Von weitem sah es so aus, als ob die beiden sich eng umschlungen hielten und Küsse tauschten. Aber Kalle hätte schwören können, in der Hand des Strichers ein Messer aufblitzen zu sehen, das er dem Freier tief in die Magengrube rammte. Dann sank der Freier zu Boden, und der Täter zerrte ihn tiefer ins Gebüsch, verdrückte sich dann entlang der Bahngleise hinüber zu dem besagten Haus, das seit über hundert Jahren als Bollwerk der Autonomen galt. Kalle habe es vorgezogen, auch das Weite zu suchen. Voller Panik sei er durch das Gebüsch gebrochen und kam erst wieder zu Atem, als er in einem Bewässerungsgraben landete und bis auf die Haut durchnässt war. „Sie müssen mir glauben, Herr Kommissar! Ich war es nicht.“
Arenz nickte, und er kam auf seine erste Frage zurück. „Also, was ist mit Zappa?“
„Ich darf es nicht sagen. Sie würden mich töten.“
Arenz boxte Müller gegen die Rippen, und sie verließen das Verhörzimmer. „Siehst du, Müller. Es geht hier nicht um das FKK und nicht um den Schwarzmarkt, sondern allein um Zappa. Dies war auch dein ursprünglicher Auftrag. Glaub mir, da braut sich etwas zusammen, und wenn du dieses Mal wieder versagst, ist es endgültig vorbei mit deinen Karriereplänen.“
Müller seufzte. „Also gut, Zappa. Aber wie soll ich meinen Job erfüllen, wenn ihr mich mitten in der Nacht zu irgendwelchen Sondereinsätzen aus dem Bett klingelt?“
„Ich verspreche dir, es war das letzte Mal. Von nun an wirst du keinen Gebrauch mehr von Telefon und Funkgerät machen. Meldung erstattest du im Aufzug.“
„Im Aufzug?“
„Ebenda. Überall in der Stadt sind Aufzüge, und jeder von ihnen wird abgehört. Du musst nur Acht geben, dass du alleine bist, wenn du den Fahrstuhl betätigst, und dann erstattest du wie gewohnt Meldung. Und vergiss nicht, wir wollen alles wissen. Wo du hingehst, wen du triffst, was du vorhast. Und denk nicht, du könntest dich dieses Mal wieder aus der Affäre ziehen. Es ist deine letzte Chance.“
Müllers Kopf summte. „Deine letzte Chance, deine letzte Chance...“ Er hustete müde. „Tut mir leid, ich muss zum Rechenzentrum. Meine Schaltkreise sind völlig durcheinander.“
„Ist nicht drin. Deine Reedukation ist beendet. Von nun an bist du auf dich selbst gestellt.“
„Aber ihr könnt mich doch nicht so gehen lassen! Manchmal bin ich kurz vor dem Durchdrehen.“
„Tut mir leid. Damit musst du alleine fertig werden. Im empfehle dir, einen auf behindert zu machen, vielleicht zeigt der Polizeirat dann einen Funken Mitleid.“
Er gab Müller einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, dann schickte er ihn wieder auf die Straße. Müllers Kopf summte noch immer. Er entschied sich, zu Fuß nach Hause zu gehen. Auf dem Rückweg begegnete er einer Horde Schwarzer Sheriffs, die verstohlen grinsten. „Ist das nicht der tumbe Müller?“
„Erzähl.“
„Also, wenn es nach mir ginge...“
„Was dann?“
„Dann würde man ihn direkt hier auf der Straße an eine Leine sperren, und jedes Mal, wenn einer vorbeikäme, müsste er bellen.“
„Keine schlechte Idee.“ Sie lachten und schlenderten locker weiter. Müller biss sich auf die Zähne. Seine Tarnung war schon jetzt völlig durchlöchert, wie sollte er da verdeckte Ermittlungen führen? Wahrscheinlich war er nur das arme Schwein im Präsidium, das für den Job gerade gut genug war. Wer ging schon freiwillig ins Alte Revier? Mit den Füßen kickte er eine tote Taube vor sich her, merkte plötzlich, dass er schon vor seiner Wohnung stand. Er schritt die Treppe hoch, öffnete die Wohnungstür. Unter der Tür hatte jemand einen anonymen Brief durchgeschoben. Die Buchstaben waren aus Zeitungen ausgeschnitten, der Text lautete: „Duck dich, Bullenschwein.“ Sicher kam der Brief vom FKK. Es war ein großer Fehler gewesen, sich in die Angelegenheiten der Radikalen einzumischen. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Er beschloss, die direkte Konfrontation zu suchen und wählte die Nummer der FKK-Aktivistin, die er sich notiert hatte: Natascha Kiefer. Das Telefon tutete, und eine Frauenstimme meldete sich am Apparat: „Wer ist da?“
Müller stutzte, wiederholte: „Wer ist da?“
Schweigen.
Müller lachte verbissen. „Wie nennt man das jetzt? Doppelte Negation?“
Etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein, und die Frau – er war jetzt sicher, dass es Natascha Kiefer war – schwieg noch immer. „Also gut“, druckste Müller herum, „dann schönen Tag noch.“ Er hängte ein, gerade als er am anderen Ende der Leitung hörte, „warte mal.“ Jetzt war es zu spät, und er verfluchte seine Unsicherheit. Er konnte verstehen, dass Armin Lechner von der Frau fasziniert war, aber ihm ging es nur um die Ermittlungen, und wenn es der Sache diente, Interesse vorzutäuschen, so hatte er dagegen keine Einwände. Von ihm aus gönnte er Lechner die Frau, wenngleich er mutmaßte, dass es in diesem Haus sowieso unkontrollierbar war, wer wann wo mit wem geschlafen hatte. Wahrscheinlich war es dort anders nicht auszuhalten. Und Müllers Herz gehörte schließlich Bianca Lorenz, obschon er sich nicht traute, offen bei ihr anzurufen und seine Sympathie einzugestehen. Noch immer gab es eine Reihe von Verhaltensrepertoires in seinem Innersten, die die Reedukation unbeschadet überstanden hatten. Er setzte seinen Walkman auf, ließ den Techno auf voller Lautstärke laufen und ging noch einmal auf die Straße, um sich die Beine zu vertreten. Es war jetzt schon früher Morgen, aber was besagte das schon. Manchmal verfluchte er sein Schicksal, denn es schien eine einzige Spirale von Pech und Zerstörung zu sein. Die Sperrstunde war vorüber, und in den Schächten fuhren wieder einige Autos. Er ging über einen Zebrastreifen, da kam ihm ein junger Bursche entgegen, der mit knapper Not einem Auto ausweichen musste. Müller musste unfreiwillig lachen. „Sie sind doch noch jung und beweglich, legen Sie mal einen Zahn zu.“ Der Bursche grinste und grüßte verhalten. Müller setzte seinen Weg fort. Erst viel später, als er schon ein paar Straßenecken weiter war und es zum Umkehren zu spät war, fiel ihm ein, dass er das Gesicht kannte. Es war Sesai Karabulut, und Müller war sich sicher, dass der junge Bursche gewiss nicht so früh auf den Beinen war, um die Spatzen zu füttern.


© 2001 by Marcel Sommerick
 



 
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