Im Toten Winkel

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jimKaktus

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Im Toten Winkel


Die Blechhalle blendet mit Sonne. Weiß und gewellt liegt sie da. Unter einem Vordach öffnen sich automatische Türen. Ein Einkaufswagen. Du hörst das Rasseln seiner Räder über den Parkplatz. Eine Kinderstimme, die einen Worte langziehenden Kinderdialekt spricht. Das Kind erzählt irgendwas und die Frau lächelt dazu, müde, aber entspannt. Sie bremst am Heck eines roten Kleinwagens. Sie hebt Beutel in den Kofferraum, stopft nach. Flipflops, von dünnen Plastikbändchen am Fuß gehalten. Auf dem linken Fuß ist eine Tätowierung, eine winzige Elfe. Das Kind lacht. Der Einkaufswagen setzt sich unmerklich in Bewegung. Jetzt bekommt er einen kräftigen Stoß. Und rasselt los.

Mein Kind. Blitzschnell erfasst sie die Nicht-Ungefährlichkeit der Situation. Der Parkplatz ist abschüssig. Hinten rauscht die Straße. Aber soweit kommt der Wagen nicht. Er trudelt, stößt gegen ein parkendes Durchschnittsauto (Lackschaden) und kippt um. Das Kind heult.

***

Efeu umkraust die Front, eine grüne Gepflegtheit vortäuschend, die dem baulichen Zustand nicht entspricht. Bunte, schon etwas ausgebleichte Markisen schmücken leere, schmutzige Fenster, um die herum die gelbliche Farbe abblättert. Risse haben dort vielfache Verästelungen ausgebildet. Aber das sieht man nur im Winter. Unter dem Dach sind es wahrhafte Furchen, die quer von einer Seite zur anderen verlaufen. So tief eingekerbt sind sie - als wäre nicht allein der Anstrich spröde geworden, sondern auch der Putz von Verfall betroffen.
Mittig strebt ein verglaster, schmaler Erker aus der Fensterwand, ragt geradewegs auf die Straße hinaus und wirbt aufdringlich um Aufmerksamkeit. Ein Schild schreit mit Neonfarben CLUB X in den Tag hinaus . Nachts ist der Ruf noch lauter. Dann blinkt die Schrift, das heißt, eigentlich flackert sie periodisch, wie Maschinengewehrfeuer. Der Rhythmus sorgt für regen Zulauf während der dunklen Stunden.
Eine Regenrinne klettert das Haus hoch. Und gleich daneben lehnt ein Baum an der Wand, ein großer schlanker; komisch, dass er sich anlehnen muss. An seiner Spitze ist er gespalten. Der Spalt - der die Arbeit eines riesenhaften Holzfällers sein könnte - weist nach unten, auf seine Ursache: Es sind zwei Bäume, straff verwickelt, einander umschlingend in einer Art, die sie sich vom Efeugeranke der Balkonfront abgeschaut haben. Das Efeu ist ja gleich daneben. Säße jemand auf dem äußersten Ast, könnte er es berühren. Der Baum fängt Feuer, als die Hauswand zu einer einzigen Flamme wird.

***

Ein Männchen läuft die Straße entlang. Das bin ich, auf dem Weg zur Bushaltestelle. Der Bus kommt auch gleich und ich häng mich drunter. Ich fahr zum Bahnhof. Dort sitzt der Maler mit seiner Staffelei und porträtiert fette, amerikanische Touristen. Er hat mich gemalt. Es war meine Strickjacke, meine Jeanshose. Ich fahre jetzt hin. Ich muss es wissen.

Meine Kleidung (bis auf die Schuhe) hab ich einem Dreijährigen abgenommen. Sie ist mir etwas zu groß. Der Arsch! Aber er wächst nun nicht mehr. Ich bin zuweilen etwas cholerisch. Kann ich nichts für. Die Gene. Meine Schuhe hole ich mir aus Schuh-Sammel-Containern. Ich sammle auch Schuhe. Meine Größe ist die 43.

Große Fußabdrücke, die ich hinterlasse. Doch keiner sieht mich je. Zu langsam sie, zu schnell ich. Ich sehe genau, jetzt kuckt keiner, jetzt dreht er oder sie sich weg. Mir bleibt noch genug Zeit die Schuhe neu zu binden, bevor ich vorbeihusche. Der Trick: man muss ganz nah an ihnen vorbei. Wenn sie nicht runterschaun, gibt es da einen Toten Winkel.

Ich hasse die Menschen. Ich will ihnen nicht begegnen. Sie übersehen dich oder sind freundlicher als nötig. Die Kinder zeigen mit dem Finger auf dich. Kinder hasse ich besonders. Und Frauen. Eine hat mal gelacht und gerufen: Ist der süß! Ich weiß, sie meinte es nicht böse. Ich bin ihr gefolgt und hab ihr den Hals umgedreht. Ich lasse mich nur noch sehen, wenn es absolut nicht zu vermeiden ist.

Offiziell heiße ich Samuel Münz. Aber das war mal. Früher. In der Schule haben sie mich gehänselt wegen meiner Größe. Meine Eltern haben sich bloß ein bisschen gewundert. Der Samuel, haben sie gesagt, wird noch mal richtig groß werden wird der! Wir sind ja auch groß! Bei manchen dauert es eben etwas länger! Als klar wurde, dass ich nicht mehr wachse, bin ich weg. Ich glaube, sie waren ganz froh drüber.

Seit etwa einem Jahr schlafe ich bei Benny, meinem Hund. Seine Besitzer rufen ihn Panther, aber er heißt Benny. Meist geben sie ihm mehr zu essen als er braucht. Gute Speisereste. Dadurch bin ich nicht mehr auf Abfall und Fertiggerichte aus dem Supermarkt angewiesen. Restaurantküchen waren mir auf die Dauer zu viel Stress. Man musste sich so exponieren, nämlich auf die Arbeitsplatte oder den Herd stellen, um ans Essen ranzukommen. Da blieb meist doch nur die Abfalltonne. Essen auf einem Teller ist schon was Anderes.

Wenn ich mich mal zivilisiert unterhalten möchte, spreche ich mit Pater Sebastian. Ich kam eines Tages zu ihm ins Kabuff, um zu reden, einfach so. Er will aber meine Beichte hören. Da schildere ich ihm halt ein paar meiner «Sünden». Er hat mir seine Nummer gegeben. Ehe ich das nächste Mal sündige, sollte ich ihn anrufen. Manchmal telefonieren wir noch. Ich ruf ihn an, stets von einer andern Telefonzelle. Ich glaube, er hat der Polizei einen Tipp gegeben. Deshalb geh ich nicht mehr hin. Ein lieber Kerl eigentlich. Leider versteht er mich nicht. Vielleicht ist der Maler anders. Randexistenzen verstehen einander. Mit Punks und Pennern kann ich allerdings nichts anfangen. Die sind mir zu dumm und zu besoffen. Einem Penner musste ich mit seiner Flasche die Kehle durchschneiden. Von so einem lass ich mich nicht auslachen. Außerdem brauchte ich neuen Gesprächsstoff für Pater Sebastian, glaub ich. (töte ja nicht grundlos irgendwelche Leute)

***

Als ich aus der Hütte komme, ist Benny schon aufgestanden. Er steht am Zaun und wedelt mit dem Schwanz. Wahrscheinlich Passanten. Benny würde auch Einbrecher mit Schwanzwedeln begrüßen. Schäferhunde sind die dümmsten. Mein Kopf schmerzt von gestern.

***

«Ich habe dich erwartet», sagt er.

«Ich weiß», sag ich.

Die Staffelei hatte drei Beine, um die herum ein Tuch gehängt war. Ich stand wie in einem zu ihm hin offenen Zelt.

«Sie nennen mich Hieronymus. Weil ich wie Hieronymus Bosch male. Es ist die einzige Art wirklich zu malen

«Bin nicht beeindruckt», sag ich. Er lacht und verfällt in einen grausigen Raucherhusten. Wenn er atmet klingt es wie eine dicke, eingekochte Bohnensuppe, die gluckernd auf dem Herd meiner Eltern steht.

«Wie der Vater, so der Sohn.»

«Du kennst meinen - ? Du? Du bist nicht mein Vater. Mein Vater ist Gustav Münz.»

«Du meinst diesen Gustav Münz?» Er zeigte mir ein Bild mit zwei dämlichen Strichmännchen drauf, einem Mann und einer Frau. Schief und zweidimensional gezeichnet. Das Bild hätte auch ich gemalt haben können. Als ich vier war.

«Sollen das meine Eltern sein oder was.» Es hätten jedermanns Eltern sein können.

Er hatte meine Reaktion beobachtet, ging aber nicht auf meine Worte ein. Er war völlig absorbiert von meinem Anblick.

«Phantastisch. Mein Leben lang hab ich auf diese neue Qualität von Inspiration gewartet. Ich wusste, dass es sie gibt. Dass meine Vorstellung mir lebendige Bilder zeigen wird, die nur ich sehe. - Ich muss malen.» Und wie ein Besessener fuchtelt und kratzt er mit seinem Pinsel über die leere Leinwand. «Ja! Das ist es! Endlich seh ich dich nah! Das ist es! Sieh doch nur ... diese ... lebendige Kraft!»

Ich schaute es mir an. Ein exzentrisches Gewirr von Strichen, aus denen sich meine Gestalt schälte. Der Typ ist gaga. Was Ernsthaftes ist mit ihm nicht anzufangen.

«Ich seh schon, Alter. Du willst gar nichts von mir wissen. Ich geh dann.»

«Aber ich weiß doch alles über dich.» Er unterbrach die Schmiererei und nahm aus dem Stapel fertiger Bilder ...

Da war die Frau in der Gasse. Da war der Penner in seinem Blut, der brennende Beichtstuhl von Pater Sebastian. «Du liest Zeitung, na und?» Aber woher wusste er, wie alles aussah? Der Schuppen am Hafen, die Chapka des Penners, die Unterwäsche der Frau, die Laterne. «Du hast mich bespitzelt.»

Er war wieder in seine Kunst versunken und warf nur flüchtige Blicke auf mich, sein Modell. Er schien jede meiner Regungen aufzuzeichnen. Mein Abbild hatte schon 100 Arme.

«Das sieht überhaupt nicht aus wie ich.»

»Das werd ich wohl besser wissen als du. Du bist meine Vorstellung.«

Der alte Sack fing an, mich zu nerven. Doch ich hatte auch langsam das - absurde! - Bedürfnis, mich zu überzeugen, dass ich noch ich war und ein Mensch. «Ach ja?» machte ich. Ich schlüpfte aus meinem Staffelei-Zelt und schlug auf dem Platz vor Scharen von Leuten einen Purzelbaum. Keiner beachtete mich. Der Irre malte und lachte. Ich trat einem Mann ins Schienbein, er ging weiter mit starrer Miene. Ich schrie und warf mich vor ein Trio glatzköpfiger junger Burschen. Sie gingen mit festen Schritten weiter.

***

Benny kommt angelaufen und leckt meine Blessuren. Die Jungs hatten anständige Stiefel. Manchmal muss man einem alten Sack eine Schere in den Hals rammen, um wahrgenommen zu werden, um sich real zu fühlen. Sein letztes Bild hab ich mitgehn lassen - und seine Latschen natürlich. Liegt alles bei den Schuhen im Keller. Bennys Besitzer wirds nicht weiter wundern, wenn sie mal ein Bild finden. Die Schuhberge, die ihr Hund da, wie sie meinen, zusammengeklaubt hat, finden sie auch nur «total lustig». Eine neue Party-Anekdote also! Benny ist für sie nicht mehr alsein modisches Accessoire. Aber das ist ok. Ich streichel ihn und er mich. Es ist die Selbst-Vergewisserung, die ich hin und wieder brauche. Wenn keiner dich wahrnimmt, wie sollst du wissen, dass du existierst? Da ist es gut, manchmal was über sich in der Zeitung zu lesen. Benny zwickt mich in die Schulter. Er will was sagen. Ja, wenn er sprechen könnte und womöglich Brüste hätte und weniger Behaarung - unser Leben wär optimal. Mal sehen, was heute anliegt. Vielleicht ein Spaziergang durch die Gärten, Früchte essen. Irgendwas Entspanntes.
 



 
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