Immer nur Algarve

H

HFleiss

Gast
Wie wenn der Himmel sich nicht entscheiden kann, ob er blau sein will oder dunkelblau oder bleigrau, so hängt er über der Stadt, über der Stadt, die hier an der Hochbahn noch mehr Stadt ist als anderswo, wirklich schon verdammt genug Stadt, um aus ihr wegziehen zu wollen. Die U-Bahnen rattern vorbei, in beide Richtungen gleichzeitig, aber dem Park, in den ich geflüchtet bin, macht das nichts aus, er ist grün trotz des unentschiedenen Wetters, das jetzt eher dunkelgrau wird, mit einem scharfen Stich ins Schwarze, das Geratter der U-Bahnen, das jetzt in ein Donnern übergeht, lässt ihn kalt.

Die Bank, die ich endlich ausgewählt habe unter den vielen Bänken weitab der Straße, wo es jetzt auch donnert, aber von den vielen Autos, die durch die Stadt jagen, ist erschreckend kalt, ich bedaure, mir kein Sitzkissen mitgenommen zu haben, das Sitzkissen von meinem Schreibtischstuhl, aber dann würde meinem Chef noch eher auffallen, dass ich meine Mittagspause um ein Weniges überziehe, mit Absicht überziehe, denn ich brauche das Grün des Parks, meine Augen tränen, wenn ich den ganzen Arbeitstag lang nur auf den Bildschirm sehe. Ich mag keine Tränen, nicht ohne inneren Grund. Der Bildschirm ist für meine Kollegen überhaupt kein Grund zum Weinen, sondern ein Grund zur Freude, sagen sie. Damit sie nicht jeden Posten einzeln ausschreiben müssen, sie klinken sich nur in die Liste ein, markieren, was sie brauchen, und schon steht der Posten auf der Rechnung. Scharf wie die Luchse sind sie auch darauf bedacht, nicht auf einen insolventen Kunden hereinzufallen, und deshalb haben sie ein Verzeichnis neben ihrem Computer liegen, das sie mit dem Zeigefinger absuchen, bis sie wissen, mit dem Kunden geht alles in Ordnung. Ich bin erst ein halbes Jahr hier, ich habe die Probezeit hinter mir, aber mir steht eine solche Liste noch nicht zu, erst nach zwei Jahren, sagen sie. Mich töten ihre ewigen Reden vom letzten Urlaub an der Algarve, ich war noch nie an der Algarve und werde ihnen zum Trotz niemals an die Algarve in den Urlaub fahren, ich hasse die Algarve, obwohl ich sie nie gesehen habe. Ich ertrage meine Kolleginnen nur schwer, ich bin ihre Neue, ihre Außenseiterin, die sie brauchen, um einen Gesprächsstoff zu haben, wenn sie mal nicht über die Algarve reden.

Jetzt kommt ein Wind auf, sehr unangenehm, ich hätte mir die Jacke überziehen sollen, aber dann hätten alle gewusst, die geht in den Park zur Mittagspause, der Chef hat es doch verboten, und das wäre wieder ein Minuspunkt, ich hab gesagt, ich muss mal zur Bank, ein paar Mark abheben, dafür hatten sie alle Verständnis, und deshalb sitze ich jetzt hier und zittere.

Ich hab mir eine Flasche Milch bei dem Türken gekauft, der seinen Obst- oder Wasweißich-Laden nahe dem Park hat, der Türke hat mich angesehen, als wenn: Was will die denn hier, und dann hat er mir die drei Cent Wechselgeld nicht herausgegeben, seine Rache an der falschen Kundin, nämlich einer deutschen, und ich hab nichts gesagt, hab mir die Milchflasche gegriffen und bin hinausgegangen ohne ein Wort. Das war unhöflich, aber zu diesem Türken gehe ich nie wieder Milch kaufen, auch nicht mal einen Mittagsapfel, einen Jonasapfel, den mag ich am liebsten, und ich weiß doch sonst nicht, wo ich auf die Schnelle mal was einkaufen gehen kann in dieser gottverlassenen Gegend, wo es nur Wohnblöcke gibt und den Park und nichts sonst.

Die Milch ist gut, ich habe einen tiefen Zug gemacht, die halbe Flasche ist leer, schade, dass ich nicht weiß, wie ich sie jetzt wieder verschließen kann, das Silberpapier will sich nicht wieder raufklemmen lassen. Ich stell die offene Flasche in die Handtasche, angle mir eine Zigarette aus der anderen Taschenecke und hoffe, dass mir die Milch nicht in die Tasche kippt. Ich mache den ersten Zug und lehn mich auf der Bank zurück, die mir jetzt ein bisschen wärmer vorkommt als vorhin, da knirschen Schritte auf dem Weg, die Schritte nähern sich meiner Bank, und ich tu so, als ob ich nichts gehört hätte, damit mich nicht irgendso ein Penner, von denen es hier massenhaft geben soll, haben mir meine Kolleginnen gesagt und dann gleich ein neues Gesprächsthema gehabt, nämlich über Vergewaltigungen, damit mich also nicht irgend so ein Penner auf die Dämliche anquatscht.

Es ist wie ein Überfall, ein richtiger Überfall, nur dass die beiden Frauen mir keine Pistolen vor die Nase halten, sondern breit lächeln, und ich sehe, ihre Zähne sind falsch, es sind lauter Goldzähne, und plötzlich begreife ich: Zigeunerinnen oder Sinti oder Roma, aber ich kann doch nicht immer denken Sinti oder Roma, ich denk lieber kürzer Zigeunerinnen, die sollen doch immer Goldzähne im Mund haben, das ist ihre Rente und ihre Lebensversicherung, falls es ihnen mal schlecht geht, dann lassen sie sich die Goldzähne ausreißen, und die Welt ist bei denen wieder in Ordnung. Die beiden sehen auch wirklich wie Zigeunerinnen aus, wie ich sie mir immer vorgestellt habe, mit langen weiten Röcken, bunt wie Pfingstochsen, zum Schreien, an ihren Fingern glänzt es vor lauter Ringen, sie wollen mir mit ihrer Fingersprache etwas klarmachen, aber ich versteh nur Deutsch und Englisch, und so sage ich how are you, aber sie reagieren nicht, sie fuchteln mit ihren klappernden Armreifen vor meinem Gesicht herum, dass ich aufspringe, ich habe was gegen so engen Körperkontakt.

Das hätte ich nicht tun sollen, denn die beiden Frauen fangen nun an in meiner Handtasche zu wühlen, und eine greift sich die offene Milchflasche, riecht dran und behält sie in der Hand. Ich stehe vor Staunen mit offenem Mund da, ich kann nichts sagen, aber die mit der Milchflasche redet und redet, ich versteh kein Wort, sage aber okay.
Das versteht die Frau, sie setzt die Flasche an und trinkt meine Mittagsmilch mit einem Zug aus, als sei es Rum oder Wodka oder so. Du gutt Mensch, sagt sie, als die Flasche leer ist, noch ein bisschen kurzatmig, gutt Frau, gutt Frau.

Die beiden betätscheln mich noch ein bisschen, und immer wieder gutt Frau, gutt Frau, auf Wiedersehn, auf Wiedersehn, sie winken, bis sie wie ein Spuk hinter den Büschen verschwunden sind. Ihre Stimmen höre ich noch lange, sie reden sehr laut und lachen, vielleicht amüsieren sie sich darüber, dass sie wieder mal eine von diesen dämlichen Deutschen überrumpelt haben.

Nun muss ich aber machen, dass ich reinkomme, sonst gibt es wirklich Ärger, ich seh schon die Blicke meiner Zimmerkollegin, die nur darauf wartet, dass ich einen Fehler mache. Sie ist sauer, weil sie mit der Beförderung noch nicht dran ist, aber zu ihrem Ärger ich in diesem Frühjahr, sie muss noch ein halbes Jahr warten, und das vergisst sich nicht so leicht, ich muss mich wirklich beeilen.
Der Himmel will auch nicht mehr so recht, er ist jetzt schwarz wie Kohlengrus, mit dem der Weg bestreut ist wie im Winter bei Glatteis, der Wind frischt auf, er ist schon eine steife Brise, ich zittere wieder, verdammt ich muss rein, meine Mittagspause ist nun wirklich zu Ende, und ich habe sie noch nicht mal ein bisschen überzogen, keine zwei Minuten, ach was, nur knapp anderthalbe. Na, das war ein Spaß, das mit den Zigeunerinnen, ich werde die Geschichte für mich behalten, wer weiß, was bei meinen Kolleginnen dabei herauskommt, wenn ich sie ihnen erzähle. Die sitzen im Frühstückszimmer und quatschen wie immer von ihrem letzten Urlaub an der Algarve, da werde ich ihnen doch nicht ihren letzten Urlaub versauen und das von meiner kürzlichen Bekanntschaft erzählen. Weiß Gott nicht.
 



 
Oben Unten