Immer wieder dieser Traum

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"Mach Licht, Frau", sagte mein Großvater manchmal in der Abenddämmerung, "da oben können wir noch lange genug im Dunkeln liegen." Mit oben war nicht das himmlische Jenseits gemeint, an das er nicht glaubte, sondern unser etwas höher gelegener Friedhof.

Den besten Blick auf den Friedhof hatte man vom Bahnhof aus. Das Jenseits war eben eine Reise ohne Wiederkehr. Blickte man vom Bahnsteig nach Norden, sah man unmittelbar in den schwarzen Mund einer Tunnelöffnung wie in das Ofenloch eines Krematoriums hinein. Davon löste sich der Blick gern und glitt den steil ansteigenden Hang darüber hinauf. Er war mit Dornengebüsch bewachsen, völlig unzugänglich und wurde oben von der weiß verputzten Leichenhalle im neoromanischen Geschmack gekrönt. Ein Aussichtscafé konnte nicht schöner liegen. Die Kuppe, die die Eisenbahn im Tunnel unterfuhr, war ein einziges Gräberfeld. Seit fünf Generationen bestatteten die Einwohner da ihre Toten. Meine Großeltern hatten mir wiederholt gesagt, sie würden auch einmal dort liegen. Der Gedanke war mir unbegreiflich. Und ich war noch niemals durch den Tunnel gefahren.

Ich träumte immer wieder den gleichen Angsttraum. Darin spazierte ich vom Bahnhof zum Haus der Großeltern. In Höhe des Tunnelmundes, genau unterhalb der Leichenhalle, näherte sich mir ein von zwei wilden braunen Pferden gezogener Leichenwagen. Es handelte sich dabei um einen einfachen Pritschenwagen ohne Verdeck, wie ihn die Bauern zum Transport von Rüben oder Kartoffeln benutzten. Wie mich die Pferde sahen, fielen sie sogleich in scharfen Galopp. Der Leichenwagen holperte und schlingerte, der Sarg sprang auf und nieder. Ich wich zurück, voller Entsetzen - zu spät: die Pferde bäumten sich bereits hoch auf und setzten dazu an, mich niederzutrampeln. Schon spürte ich ihre Hufe - und erwachte, von tiefem Schrecken erfüllt.

Beim Aufwachen aus diesem Traum stürzte ich eines Nachts aus meinem hohen Bett und renkte mir dabei das Schultergelenk aus. Meine Leute fürchteten, man würde mir einen mächtigen Gipsverband anlegen und das ruhig gestellte Gelenk würde nie mehr seine volle Funktion erlangen. Daher brachten sie mich nicht zu einem Chirurgen oder Orthopäden in der Nähe. Stattdessen trat meine Großmutter mit mir die Reise zu einer Wunderheilerin an. Sie erfreute sich eines sagenhaften Rufes. In Wirklichkeit war sie eine geschickte Heilpraktikerin, die aus dem Fehlen jeden medizinischen Titels so viel Nutzen zog wie der Doktor in der Stadt aus seinem. Rasch und schmerzlos wurde das Gelenk von ihr wieder eingerenkt. Meine Großmutter jedoch spürte die geheimnisvolle Kraft, die von jener Schamanin ausging, als sie mich berührte. Jahrelang noch pries sie die wundersame Heilung in bewegten Worten.

Auf der Fahrt nach Norden hatte ich erstmals den Tunnel unter dem Friedhof durchfahren - und ich war zurückgekehrt! Ich war also genesen, wenigstens was die Schulter betraf. Und der Traum mit dem Leichenwagen kehrte auch nicht wieder. Dafür träumte ich nun andere Angstträume.
 
R

Rose

Gast
Hallo Arno,

ein ernstes Thema hast du hier zu Papier gebracht. Hut ab! Gern gelesen.

Blumige Grüße
Rose
 



 
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