Impressionen am Vormittag

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Oh Graus, oh weh! Ein Krampf im Bauch! Irgendwas spricht zu mir, stichelt, meckert, will eine Mordsaufmerksamkeit oder was. Sieht schlecht aus mit einer Antwort, sowieso. Das ganze Szenario ist eigentlich schrecklich. Häßlich. Nix gut, gar nix. Nix zu machen. Gut, es ist halt der Matheunterricht. Aber der hat's in sich! Oder eben nicht. Egal, wie supererwachsen, megareif und eben aufgeklärt man sich auch wähnte, nach dem Klingeln ist Polen verloren. Endgültig der Ofen aus. Ich bin ein wehrloses Kind, ein schutzloses, ahnungsloses Ding, einem diktatorischen Brutaloweib ohne Aussicht auf Rettung ausgeliefert. Bevormundet, daß es kracht. Vielleicht reizt mich das ein wenig. Oder sagen wir: läßt es gewisse Spannungen entstehen.
Als erstes sind meine beiden Nebensitzer dran, Kalle und Macke. Nee, natürlich haben die nicht so cool-schmissige Namen, heißen eigentlich nur Armin und Michael, was aber auch nicht weiter schlimm ist.
"Der Armin und der Micha reden die ganze Zeit über Mädchen und passen nicht auf!"
Da ärgern die beiden sich natürlich schön, weil ich sie grundlos verpetzt habe bei der Lehrerin. Armin wird weggesetzt und Michael putzt sich vor Aufregung die Brille, ich bin ein wenig amüsiert. Da meine einzigen beiden Freunde in der Klasse nun für den Rest des Tages ziemlich beleidigt sein werden, überlege ich, was sich sonst noch mit der kostbaren Zeit anstellen läßt. Man muß heutzutage ja sorgfältig rationieren, es nutzt doch alles nix.
Die Welt retten. Oder mit Mädchen rummachen. Oder so ähnliche Sachen. Das sind gute Pläne. Hinter mir niest jemand übertrieben laut. Ich bin also nicht der einzige, der sich langweilt, der genervt ist und eigentlich extrem kotzbrockig drauf in diesem Moment. Vor allem wegen der Milliarden Bakterien, die dieser Bazillentransporter geradewegs in Richtung meiner eigenen Schleimhäute ausgestoßen hat. So was Blödes! Da sitzt jahrelang also ein ekelhafter Infektionsherd hinter mir und ich merk's noch nicht mal. Ich bin ja hier eh vollkommen falsch.
Klar, ist alles wichtig. Gutes Abi. Wichtige Sache. Gutes Studium. Gutes Geld. Gutes Haus. Gute Familie. Gutes Leben. Klar, ist alles wichtig, ich geb's ja zu. Mindestens so wichtig, wie mal ein Buch von Nietzsche gelesen zu haben und Sex in verschiedenen Stellungen zu kennen. Zu können. Und, leck mich doch am Arsch, ich nehme meinen Auftrag, ein unserer Kultur und Geschichte würdiger, wo nicht sogar gescheiter Bildungsbürger zu werden, richtig ernst. Ich glaube daran.
Ich nehme deshalb auch gleich einen Schluck aus meiner Pulle zuckerfreien Iso-Aktiv-Sport-Grapefruitgeschmack-Getränks und mir steigen Tränen in die Augen. Die Lehrerin zeigt mir nämlich ihren nicht gerade akkuraten Rücken respektive ihr noch viel weniger akkurates oder vielmehr potthäßlich-moosgrün konstituiertes Oberteil und meine Erektion ist dahin. Oder war nie da.
Wieso trinke ich diese Plörre eigentlich? Diese Plörre Grapefruit-Zuckeraustausch-Fischmehl-Rotz (Zuckerersatz? Ernährungslehre?), das wie abgestandenes Sperma o.ä. schmeckt, jedenfalls so ähnlich aussieht. So ähnlich.
Ich hab doch eh ein Attest für den Sportunterricht. So what?
Ich bin einfach nicht belastbar genug. Nicht kräftig genug. Eine Mimose. Und es gibt nicht mal ein Attest für Mathe. Gegen Mathe. Nein, es hilft auch keine Salbe gegen Gleichungssysteme.
Oder eins für modernes Leben. Eine Art Führerschein. Nein, ein Lebensschein, das Gegenteil vom Totenschein halt. Klar, man muß auch so irgendwie durch. Man bräuchte aber schon mehr Drogen dafür. Oder weniger von diesen häßlich-grünen Oberteilen. Oder mehr Geld.
Nüchtern ist der Mist ja schon schwer zu ertragen. Auf Drogen wird's besser. Oder schlimmer, je nachdem.
Gleichwohl ist die Mathematik, philosophisch betrachtet jedenfalls, ja hochinteressant. Behaupten jedenfalls die Mathelehrer. Und die MathelehrerInnen. Vollständig logische Systeme, die... ich schweife ab und mein Nebensitzer spricht. Er spricht mit Gott. Oder zu Gott? Er erzählt ihm von Cola und Fleisch. Ich merke zu spät, daß er mich meint und nicht Gott. Er spricht davon, daß sich Fleisch, erst einmal in Cola eingelegt, unwiederbringlich auflösen wird. "Erschreckend", gebe ich zu bedenken. Schon einige Tage, ach was, Minuten, Millisekunden dürften genügen, ein halbes Schwein vermittels eines Fläschleins der bekannten Braunbrause ratzfatz wegzuätzen! Die Amis haben das Zeug ja erfunden! Ob die vielleicht auch in Abu Gharib...? Zuzutrauen wär's ihnen ja!
Schlimm ist das ja alles trotzdem. Die Umweltzerstörung, der Krieg, Enthauptungen im Fänsän, Lochfraß bei der Waschmaschine, die ultrafiesen Politiker und nicht zu vergessen: die Zigarettenpreise! Schlimm! Ganz schlimm!
Angewidert lecke ich den letzten Tropfen Grapefruit-Zucker-Surrogat-Panschzeug aus der Flasche und das Mädchen am Tisch nebenan beginnt zu würgen. Ich hingegen schenke dem Unterricht meine volle Aufmerksamkeit. Jedenfalls bis - es sind Minuten vergangen, die mir wie Sekunden vorkamen in meiner Lethargie (vgl. Allergie) - ein immer noch schwerst auf Cola fixierter Michael gleich noch einmal von mir verpetzt wird. Dieses Mal hatte er die Hand in der Hose. Sage ich. Nur noch zwei Stunden Unterricht neben Michi, das wird sicher lustig.
Am Nachmittag, plane ich, werde ich dann erst mal schön Wodka trinken oder was lesen, was mit Humor oder so. Dann ist auch schon Schicht mit Mathe, denn es klingelt.
Klar, werfe ich ein, ich könnte auch gleich was trinken. Oder mal was Revolutionäres machen. Oder es irgendwie verbinden. Ach, das wär doch schön. Obgleich ich sicher weiß, daß man, hat der Dämon Alkohol erst richtig zugeschlagen, eh viel zu träge und lahmarschig wird, um noch groß was hinzubekommen. Wird wahrscheinlich auch besser sein, ich hab zwei linke Hände. Diese ganzen vitalen Kämpfer für das Gute, die sich so inbrünstig und hochmotiviert ins Geschehen stürzen... ich bewundere sie. Sie haben noch Kraft. Sie sind sehr sexy. Computer, Fernseher, Umwelt, Dummheit, Faschismus... alles ganz schlimm! Alles voll aus dem Ruder gelaufen.
Ich habe ja selbst Bauchschmerzen davon. Kann aber auch an dem verdammten Phenylanalin liegen, was sie meiner prima Limo beigemengt haben. Diese Panscher! Kein Wunder, daß die Welt so am Arsch ist. Bei der Limo und den Zigarettenpreisen wundert mich gar nix mehr.
Und die Schule erst! Die macht noch viel kaputter. Ja nun. Manchmal. Eigentlich paßt die Schule ganz gut zum Rest. Wäre doch seltsam, wenn alles cool liefe und nur die Schule wäre scheiße. Nee, andersrum. Vor mir liegt Pratchetts "Die Farben der Fantasie", in dem von einer Scheibenwelt die Rede ist, die von einer großen Schildkröte getragen wird. Das heißt, nein, so ist es nicht. Die Schildkröte trägt vier Elefanten und die tragen ihrerseits die Scheibe. Und auf der Scheibe leben die Figuren des Romans. Gutes Buch. Könnte man jedenfalls schnell meinen. Nicht so gut wie Nietzsche, klar. Obwohl ich über Nietzsche auch nicht viel sagen kann, klar. Hinter mir klingelt ein Handy. Ein Glück, ich habe endlich Kopfschmerzen und vergesse für einen Augenblick das Stechen in der Magengegend. Ich sollte mir noch so ein Iso-Aktiv-Dingensda reinhauen. Glaube ich. Vielleicht nur Einbildung. Nee, ist es nicht. Das kann es nicht mehr sein, seit es im Internet tausende Seiten mit der Beschreibung der Traumluzidität gibt. Zufolge jener kann man im Traum feststellen, daß man träumt. Indem man versucht, Kleingedrucktes oder die Uhrzeit zu lesen, sich des Namens und Wohnortes zu entsinnen oder den Lichtschalter zu betätigen. Bleibt das Licht aus, träumt man. Als ich zu Hause ankomme, versuche ich es logischerweise gleich. Es bleibt zappenduster. Kein Wunder, die Birne ist hinüber. Ein Glück!
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
jaja,

die jugend! zu allem fähig und zu nischt zu jebrauchen.
deine geschichte gefällt mir. vor allem, wenn am schluss mit birne die omme gemeint ist, also der kopf des jungen.
ganz lieb grüßt
 
Das ist nicht fiktiv. Und es sind mehrere Stellen darin, die nicht eindeutig sind und es auch nicht werden sollen.
Schöne Grüße
 



 
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