In Romans Netz.Ein Liebestagebuch

Einige Bemerkungen zum neuen Roman von Dieter Schlesak

Der neue Roman Dieter Schlesaks ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen, die räumlich getrennt sind und ihren Mangel an Nähe durch das neue Medium des Internets zu kompensieren suchen. Roman Templin, alternder Schriftsteller und Emigrant aus dem Osten, lebt im italienischen Exil. Er fühlt sich nirgends zu Hause, zieht sich in die Einsamkeit zurück und findet im Schreiben das Rezept "erlöst" zu werden aus seiner phantomartigen Existenz im Nirgendwo. Eigenartige Phantasien und Halluzinationen durchziehen ihn und er ist geneigt, ihnen Glauben zu schenken, bis diese sich konkretisieren in der Gestalt der dreiundzwanzigjährigen Nadine, die er beim Chatten kennenlernt. Nadine, die "Marktleiterin" einer Lebensmittelkette im düsteren Leuna ist und mitten im Leben steht, erweckt die Sehnsüchte Romans wieder zum Leben. Der Schriftsteller - sein Vorname verweist zwingend auf den Schriftsteller - erlebt eine neue Leidenschaft, die sich durch das gegenseitige Mailen und Chatten schnell zu einer romantischen Liebesbeziehung entwickelt. Roman brauchte nur"seinen besten Freund" den Computer anzuschalten und er erlebte die "stärkere Wirklichkeit" die Nachricht von seiner Nadine, die ihm zum essentiellen Beweis seiner eigenen Existenz wird. Als Schriftsteller ist Schreiben für ihn lebensnotwendig, Schreiben aber, das sofort ankommt, beim Freund, bei der Geliebten, ist ... das LEBEN.
Die Kommunikation der Liebenden über das Medium Computer wird immer intimer und offenbart die verborgenen Sehnsüchte der Protagonisten. Die urspüngliche Euphorie des zu einander gefunden habens, verkehrt sich nach einer Zeit unweigerlich in ihr Gegenteil. Die Abwesenheit des anderen im wirklichen Leben macht den beiden immer mehr zu schaffen. Die abstrakte, körperlose Gegenwart des anderen ist zwar unabdingbar, um die Nähe zu erzeugen, deren beide bedürfen, sie ersetzt jedoch nicht die körperliche Nähe und die Berührung des anderen in seiner jeweiligen Wirklichkeit. Sie bleibt gespenstisch, weil sie eine Gegenwart suggeriert, die über die grosse äußere und auch innere Entfernung hinwegtäuscht.
"Dass ich einfach das schreibe, was ich tue, ist halbwegs wie eine Ersatzdroge!" Roman erlebt die Augenblicke der Erfüllung ebenso wie die Zweifel und Ernüchterungen einer Liebe, von der er getrennt ist durch eine "Mattscheibe". Diese Liebe, die ihm real erschien durch seinen "besten Freund", den PC, fährt ihn durch sämtliche Phasen der Leidenschaft. Er pendelt zwischen überbordenden Gefühlen und tiefen Enttäuschungen.
Nostalgische Erinnerungen kommen allmählich in Roman hoch an die "wirklichen" körperhaften Liebesbeziehungen in seiner Jugend. Roman findet die alten Briefe von Hannah, die später seine Frau wurde und es noch immer ist. Er liest auch seine Briefe an sie und erinnert sich an die Zeit, in der er noch hinter dem "Eisemen Vorhang" gelebt hatte. Da verspürt er sie wieder, die fade Verkommenheit und das Eingesperrtsein, die Angst, dass die Stacheldraht-Grenze ihn und Hannah, die in Frankfurt lebte, sie für immer trennen könnte.
Die Gegenwart Romans ist jedoch ausgefüllt durch Nadine. In ihren elektronischen Briefen beschreibt sie die Zustände in der ehemaligen DDR und ihre mutigen Versuche, die Hindernisse und Schwierigkeiten', mit denen sie Tag für Tag konfrontiert wird, zu meistern. Nadine passt sich nicht dem tristen Alltag in den neuen Bundesländern an, sie lässt sich nicht von der offenkundigen Sterilität des Lebens anstecken. Die Liebe bleibt ihr als ein Hoffnungsschimmer. Jedoch die Absurdität siegt am Ende. Der Abstand zwischen Roman und Nadine ist zu groß. Die Liebe scheitert letztendlich. Aber da ist ja auch noch Hannah und der Satz, dass jeder des anderen Empfindlichkeiten, Schwächen, Macken, ja auch den jeweiligen Lover akzeptieren muss - machen wir uns nichts vor- das gehört zur Treue, „wie das Salz zum Ei". So wird am Schluss auch das ganze künstliche Licht Romans in einer Gewitternacht gekappt, das Buch von der "Festplatte" gelöscht, und Roman bleibt zurück, im Schein des leise knisternden und wärmenden Kaminfeuers.




Fragmente aus: Chatterleys in Romans Netz
Liebesbriefe Und die Vögellust


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(Meine homepage: http://www.geocities.com/transsylvania )


Und er schrieb ihr auch gleich zurück und immer mehr angesteckt, wie besessen von diesem Wunder, jedoch auch auf "Selbsterhaltung" bedacht, und im Versuch, sie in seinen Raum reinzuziehen, schrieb er leicht ironisch, als habe er immer noch nicht begriffen, daß es höllisch ernst geworden war:

"Ja, mein liebstes nadinchen, ich stecke tatsächlich tief in meiner arbeit, ich möchte dir auch etwas von dieser arbeit schicken, damit du weißt, woran ich schreibe, und was mich so sehr beschäftigt, nämlich der andauernde abschied; außer dem naumburger liebesphantom hab ich auch noch ein anderes, nämlich ein todesphantom, und ich gehe also fast schon aus prinzip mit phantomen und mit abwesendem um; und du beschreibst mir dafür deine mir so unbekannte, weil ebenfalls abwesende stadt, deinen für mich so schmerzlich abwesenden alltag, die weniger schmerzlich abwesende REWE, für die du arbeitest, und das vergiftete Leuna, wo du arbeitest? Ok! Ich kopiere dir mein abwesend-anwesendes Ich als einen schrieb für dich und schicks als attach file mit...
Ich küsse dich, mein herz,
dein Roman!"
Und ihre Antwort:
"Du, mein liebster Roman, ach, ich hab deine mails erhalten, und war ganz wuschig, und hab geheult dabei. ich sitze wie so oft auch jetzt in meinem büro in leuna und seh auf die zimmerdecke oder auf die zimmerwände dieser bruchbude, die mal abgebrannt war; und sieht aus, wie zu schlimmsten ostzeiten, das sag ich dir! und wie eine traumwandlerin starre ich diese wände hier an, an manchen stellen noch rauchgeschwärzt, brandspuren, das glaubst du nicht! starre darauf, bis ich meine, dass die sich zu drehen beginnen und ein loch entsteht, und ich da durchsehen kann, du oder wenigstens ein engel durchkommt oder vielleicht auch nur die sterne; du weisst, wie ich sie liebe, und das allerschönste thema heisst: "du bist mein hellster stern!"
aber zur zeit, da habe ich oft so unerträgliches kopfweh! ist es der herbst jetzt und der viele nebel bei uns oder ist es das gift hier, so dass mir die augen tränen, ich ganz geschwollene augen habe!? und ich frier ja auch oft in den kleidern, so dass ich mich bis zum hals zudecken muss, auch wenn es im zimmer ganz warm ist, zittere ich dann wie espenlaub, gestern wieder! ach, ich bin so allein, mein liebster, und will nicht allein bleiben; alleinsein tut so weh, seit meiner kindheit hab ich diese verletzliche stelle in mir gespürt. weisst du, woher das kommt, du hast ja immer danach gefragt, wie es ist mit meiner familie; ich hab nur eine halbe, und als kind bin ich so allein gelassen worden; es ist schrecklich, schatzi, meine mutter hatte versucht, sich das leben zu nehmen, wegen meines stiefvaters, der sie schlug, du musst es wissen: der brutale scheisskerl, der war doch gefängniswärter im stasi-gefängnis "roter ochse" in halle! wenn ich da vorbeigehe, zittere ich noch heute bei diesem unheimlichen klobigen roten backsteinkasten, der verbirgt nichts, der ist aus angst gebaut, aus lauter nackter roter angst, und meine mutter hat damals versucht sich das leben zu nehmen, um diesem schwein zu entkommen, das sag ich dir! dieser mann hat sie ja andauernd verprügelt; ich hör auch jetzt noch ihr weinen, ihre schreie, und alles verkrampft sich in mir! und ich seh es noch heute vor mir, und im traum kommt es immer wieder, meine mutter lag da und regte sich nicht; ich seh es immer vor mir: wie sie wachsbleich daliegt, wie sie von fremden männern in weiss abtransportiert wird, und dann, bei euch war es ja auch so, es war überall im osten so: in eine heilanstalt eingeliefert wurde, in die zwangsjacke kam, gefesselt wurde; zwei jahre musste sie in der geschlossenen anstalt bleiben; ich kam zu meiner guten oma, der russischlehrerin; und ich sehnte mich so sehr nach meiner mutter, dass ich den ganzen tag heulen musste; ich war ja auch erst drei jahre alt!"
Um 16. Uhr war Schluß im Büro; dann fuhr Nadine über die Autobahn, oft recht rasant, in 45 Minuten über Weißenfels bis Naumburg; ich hatte sie schon oft gebeten, vorsichtiger zu fahren ... bei dem Verkehr zur Stoßzeit! Und ich hatte sie gebeten, auch das Handy nicht zu benützen! Ja, Vati, sagte sie dann.
16 h 45 war sie zu Hause und konnte ihre mail losschicken, heute wieder wie jeden Tag:
"mein liebster Roman, es ist jetzt 17.00 uhr und ich habe endlich feierabend. es war wieder mal ein total beschissener montag. es ist der absolute saustall hier in leuna. normalerweise könnten die das haus abreißen, da ist einfach nichts mehr zu machen. muß jeden tag 2 stunden fahrt in kauf nehmen (hin und zurück). das einzig gute daran ist, daß ich meine ideen und meine kraft in diesen laden stecken kann.
möchte so viel verändern und neu gestalten, daß meine zeit kaum ausreichen wird. als heute morgen 7.00 uhr der wecker klingelte, war ich am überlegen, ob ich denn nicht im bett bleiben soll. es war so kalt und grau, daß ich mich quälen mußte, meine augen zu öffnen. hatte dann diese nacht (wie jede nacht) einen wunderschönen traum. laß mich ihn dir erzählen: es war an einem samstag-nachmittag. ich schlenderte durch die stadt und sah mir die schaufenster an, ging in eine kneipe, um einen kaffee zu trinken, und träumte so vor mich hin. ich beschloß in unseren guten alten dom zu gehen. als ich so durch die räume ging und mir alles ansah, überkam mich eine seltsame wahrnehmung: ich hatte den geruch eines reifen und gutaussehenden mannes in der nase, und eine gänsehaut lief mir über den rücken, ein gefühl, das mich zittern ließ, als würde mich jemand beobachten, nur daß keiner zu sehen war. mein bauch wurde ganz warm, ich fing an zu glühen, und dies wundervolle kribbeln zwischen meinen beinen schien kein ende zu nehmen. woher sollte dieses gefühl nur plötzlich herkommen? ich ging weiter, und mein blick war nach vorn gerichtet. ein warmer atemzug durchfuhr mein haar, und ich wußte, daß du in meiner nähe warst. du hattest deine hände von hinten auf meine schultern gelegt, und mir mit deinen lippen den hals mit küssen zugedeckt, mir ins ohr geflüstert, daß ich dir folgen solle. wir betraten einen saal mit tausend brennenden kerzen und einer mit blumen bedeckten tafel. es gab rotwein und leise musik. wir standen uns gegenüber und sahen uns tief in die augen. ich dachte, ich werde gleich ohnmächtig, wenn nichts geschieht. du aber nahmst mich in den arm und küßtest mich mit solch einer leidenschaft, daß es mir heiß und kalt wurde. wir streiften uns die kleider vom leib und streichelten über unsere nackten körper. ich war bereit für dich, daß wir ineinander verschmelzen. legte mich auf die mit blumen bedeckte tafel. du tastetest mit deinen händen über meinen zitternden körper und küßtest meinen mund, meine brüste und mein schwarzes dreieck. meine brüste wurden groß und fest, aber doch ganz sanft. ich öffnete langsam meine schenkel, du konntest meine feuchte v... sehen. dein glied wurde groß und hart, wolltest ihn am liebsten in mich reinstoßen. langsam beugtest du dich über meine gespreizten beine und begannst mich ganz sanft mit deiner feuchten zunge zu küssen. erst langsam und dann immer schneller. mein körper krümmte sich vor lust und ich fing an zu stöhnen, und zu schreien. dein schwanz war noch immer aufgerichtet, ich hatte das verlangen, ihn zu küssen, zu lecken und zu saugen. nahm ihn zwischen meine lippen ... mein körper bebte, meine v... zuckte, ich wollte dich jetzt in mir spüren. du stießt ihn ganz langsam aber tief in mich rein, ich schrie voller lust und ekstase und wir beide hatten einen gemeinsamen orgasmus. dein saft spritzte über meinen körper, er war warm und wohlschmeckend, ich verrieb ihn auf meiner haut wie balsam. wir hatten uns ein liebesnest gebaut, wir kuschelten uns aneinander und schliefen engumschlungen ein.
so mein liebster, jetzt weißt du, wovon ich jeden tag und jede nacht träume.
im übrigen habe ich ein eigenes reich. küche und bad wird zwar geteilt, ich habe aber mein eigenes schlafzimmer, wie du weißt. und meine katze "charly", die mir trost spendet. es fällt mir schwer, mich selber zu beschreiben, du hast ja mein foto. aber ich will nicht, daß es deine phantasie zerstört.
ich habe deine zeilen tief in mich aufgenommen, war richtig fasziniert von dem, was du mir geschrieben hast. ich hatte das gefühl, als wäre es kein bildschirmfenster, sondern als wäre dann das ausgedruckte auf papier und die tinte noch warm, warm von dir. ich möchte noch mehr über deinen doppelgänger und dich erfahren. du bist ein interessanter mann!
habe dich den ganzen tag in mir gespürt, bist immer um mich. es ist mittlerweile 22.00 uhr. mache erst einmal schluß, werde sonst noch verrückt, bin total erregt. tausend küsse für dich.
in liebe deine
wilde nadine
ps: schreib schnell zurück!!!"
Ist das möglich, dachte Roman, habe ich ihre Träume gelenkt? Vorige Nacht, hatte ich es doch als Experiment probiert: ein gefährliches Spiel, sah Nadine in meinen schwarzen Spiegel, es war das von meiner Schreibtischlampe erleuchtete nächtliche Fensterglas, hatte sie hierher zitiert ... Nadines Gesicht genau vor mir...
Und sah im mailserver nach, war hocherfreut, - wie immer ein kleiner glücksschreck... schon wieder kam ein Brief von ihr an:
"2 Uhr nachts. mein liebster roman, habe dich gestern nacht auch im eden gesucht. es war gegen 22.00 uhr, eine stunde lang habe ich es probiert. ich war traurig gewesen, hatte schon wieder panik, daß du weg bist. war heute bis 17.00 uhr arbeiten, der totale horror. bin jetzt nicht mehr marktleiter sondern stellvertreter, solange bis ich meinen eigenen markt bekomme, und das kann dauern. sonst schießen hier die gebäude wie pilze aus dem boden, und wenn's mal schnell gehen soll, läuft nichts. da muß ich durch, solange wie der rubel rollt. der laden war mal bis auf die grundmauern abgebrannt, doch statt ihn abzureißen und neu aufzubauen, wurde er nur provisorisch zusammengeflickt. zustände wie in tiefsten ostzeiten. bin froh, daß wenigstens du zu mir hältst. spiele ja mit dem gedanken, mich in den westen versetzen zu lassen. naja, abwarten und tee trinken. das erstmal zu meiner tätigkeit; werde dir noch einen brief schicken, damit es nicht wieder so ein langer wurm wird.
hab dich von herzen lieb
deine nadine!"
"Meine liebste Nadine, nochmals deinen wunderbaren traumbrief gelesen.
Es kribbelt ganz schön auch in mir, eine frühlingshaftes wühlen, krud wie ganz frisches grün, das ich seit langem nicht mehr gespürt habe, verschlägt mir den atem, macht kopf, körper und schwanz heiß und ungeduldig, zugleich so wahnsinng freudig, daß der tag davon überglänzt wird; doch mach ich mir sorgen, wie das weitergehen soll, da unsere realitäten so ungeheuer weit voneinander entfernt sind!
Trenn mich jetzt schwer von dir, umfasse dich ganz, küsse dich, Dein Roman!"

*
Doch diese Therapie half nicht viel, ich mußte auch heute andauernd an Nadine denken; und zum Abschluß des Tages schrieb ich natürlich nur an sie, und schickte den Brief gegen 1 Uhr ab:
"0 h10. Meine Liebste, Weißt du, welches jetzt mein gefühl für dich ist? Solch eine große rührung und eine zärtlichkeit, die alles auflöst, ein tiefes fließen …
Schau, - alles, was noch einmal kommen wird,/ ist für mich so,/ als ob es längst verging.
Abschied, abschied, abschied liegt in der luft, als ob alles längst vergangen wäre. Und die sonne sieht auch so fahl zum fenster herein, als wäre es längst winter…
Und da kommt wieder mal von Rilke eine einsicht auf mich zu, als könnte ich dir und mir doch noch ein letztes abschiedsgeschenk machen! Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist: die Freiheit eines Lieben nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen; denn daß wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.
Ich warte auf deine mail, meine letzte hoffnung, daß alles nur ein mißverständnis war!!!
Dabei bin ich es, der begonnen hatte, diesen ton anzuschlagen!
Dein niedergeschlagener Roman!"
Es war spät, sie war krank, und doch fand sie noch die Kraft zu schreiben:
"1h55. mein liebster, ich weiß, daß ich dich gekränkt habe, aber es ist nicht meine absicht gewesen. es ist nur so, daß ich mich sehr schlecht fühle und ich nicht weiß, wann mich meine letzten kräfte verlassen. ich habe unheimliche kopfschmerzen und mein ganzer körper schmerzt, meine augen sind entzündet und die nase läuft. mit denkpause meinte ich eigentlich nur, daß ich mich in meinen briefen nicht mehr auszudrücken weiß. du bist autor, du weißt wie man richtig schreiben kann.
ich will dir nur eines sagen, ich hätte schon längst etwas gesagt, wenn ich schluß machen wollte. bin gar nicht fähig, jemanden einfach so abzuservieren. ich liebe dich noch immer, und es wird keine schmerzliche trennung geben. hoffentlich glaubst du mir endlich, und gibst mir etwas zeit, um mich richtig zu erholen. mir dreht sich alles im kopf, habe unheimliche kreislaufstörungen.
Ach, übrigens, ich schlafe immer alleine. habe noch nie jemanden mit zu mir nach hause genommen. ich liebe dich und du fehlst mir, gerade jetzt, wo es mir sehr schlecht geht. eins sollst du wissen, ich bin kein egoist.
alles liebe und tausend küsse
deine diana!!!"
"2h30. Ach, mein liebstes schätzchen, du mein herzchen, ich bin so froh und glücklich, daß du mich liebst und meiner liebe entgegenkommst, alles weitergeht. Und nur ein mißverständnis war. Ich sitz da und kann nichts für dich tun! Du armes kindchen liegst da und bist krank, und ich verlange von dir heftige liebesbeweise. Als wäre ich wahnsinnig, ja. Hast du irgendwelche medikamente genommen, zumindest aspirin gegen das kopfweh, und efortil gegen die kreislaufstörung, vielleicht kommen ja schon wieder die tage. Oder hast du dich bei dem sauwetter elend erkältet? Ich fürchte aber die Krankheit heißt Leuna, und hat wenig mit dem Wettergott zu tun!
Leider kann ich dir die medikamente nicht über mail schicken. Ich hab übrigens auch täglich starkes kopfweh, so denk ich dabei an dich. Hier ists ungewöhnlich kalt, um die null grad. Die armen blumen im garten leiden. Dafür gibt’s einen wunderbaren klaren himmel mit einem sichelmond.
Kannst du an den pc? Ich schicke dir hier auch eine andere trauermail aus meinem zustand von vorhin mit, ich war total down und hab mich nur so gerettet - durch aufschreiben. Ich glaube, es ist einiges schönes da drin zu lesen, so schick ichs mit, aber alles ist gottseidank überholt!
Nur ists ja allgemein so in der liebe, da geht es auf und ab, und am schlimmsten ist das "hangen und bangen" und das stündliche sichvergewissern wollen! Als könnte der liebeslebensfaden in jeder sekunde durchschnitten werden...
Am liebsten würde ich auch heute im eden mit dir reden. Doch du liegst wahrscheinlich kaputt im bett, solltest ausruhn. Nimmst du vitamin c? rauch jetzt bitte nicht! Und ruh aus, schlaf viel! Und iß, wenn du kannst, etwas warmes. Kann dich nicht deine schwester ein wenig betreuen? Oder deine mutter? Mußt du am montag wieder raus? Kannst du dir keinen urlaub geben lassen?
Ich bin in gedanken und mit dem gefühl ganz bei dir, denke unaufhörlich an dich! Gehe mit dir um. Jetzt ganz froh und lieb und gefühlsstark. Spürst du es, vielleicht hilft auch dies?!
Ich habe übrigens meine mail genau in dem augenblick geschrieben, als du deine schriebst?!
Oh, du mein liebstes Dinchen, ich drücke dich ganz fest und zärtlich an mich, halt dich warm und heile deine seele - lege jetzt meine hand auf deine stirn und deinen armen schmerzenden kopf.
Ich liebe dich sehr, Dein Roman!"
3h nachts. Es ist unmöglich jetzt zu schlafen. Was tun, Bilanz ziehen? Die Sonne war auch heute wie jeden Abend als riesiger Ball neben dem Dorf Pedona untergegangen, ein schönes Schauspiel und doch so komisch veraltet - jeder Sonnenuntergang tut so, als wäre nichts geschehen. Vergangen. Nichts gewesen! Alles kommt mir plötzlich hier so fremd und wie eine riesige schöne Täuschung vor, als gehörte ich nicht mehr hierher in diese toskanische Landschaft, als gehörte ich in jene verlassene vergiftte Kopfwehgegend, wo du bist! Wirklich, was habe ich hier in diesem fremden Land verloren. Ich weiß es, ich bin ja gar nicht hier. Ich bin bei ihr, und bin hilflos ... ein Egoist? Ihre entzündeten Augen kommen aus einer anderen Landschaft, sie sind nicht vom Weinen, nicht von der Liebe gerötet... das Gift kommt aus einer trostlosen Vergangenheit und heißt: LEUNA! (Und heute werden jetzt miese Geschäfte damit gemacht. Denk ich an Deutschland in der Nacht... Ach, Heine!)
Mal kalt mal heiß. Und sie hatte mir anfangs nichts von ihrem Zustand gesagt; wieder spüre ich diese Kluft, das schnelle Medium, das Blitzen, und die eigentliche Körperexistenz, ach, so weit entfernt: es ist ihr andauernd schlecht, und zum Kotzen, der ganze Körper tut ihr weh, Fieber, die Nase rinnt unaufhörlich. Und heute nacht dieser Kreislaufkollaps. Sven rief den Notarzt. Der gab ihre eine Spritze, fragte, ob sie denn seelische Probleme habe. Und das sagte er, während Sven danebenstand! Die gute ernsthafte Diana, wahrscheinlich hätte sie es getan: sie dachte, ich würde mich sofort ins Auto setzen und zu ihr kommen: 1500 km unaufhörlich fahren, um ihr zu helfen! Und nachts kam ich dann wenigsten per Telefon zu ihr, streichelte sie, liebte sie, hielt sie im Arm, flüsterte mit ihr. Und es tat ihr gut, sie atmete ruhig und wie erlöst seufzte sie mehrfach auf! Wars eine Art Therapie?!
Es ist eine Unart, daß wir vor lauter Denken und innerer Bewegung, weder das Gift dort, noch diese harmlosen Boten: das Donnern in der Ferne, die Düsenjets von Pisa, die kürzliche Explosion in Massa wahrnehmen - die Fledermäuse - auch sie als Boten der Nacht, des Endes, des Unheimlichen sind ebenfalls veraltet und fast ausgestorben. Das, was wirklich geschieht, bis hinein in den Salat, die Pilze, die wir ja essen, ist unsichtbar. Die neue Strahlung! Und werde Dinchen mein Gedicht schicken, dies:
Sieh, alles überholen sie
die Erde geht als Ball schon
ins Exil
Glaubst du vielleicht
es reimt sich noch
denn was du sahst und glaubst und hoffst
war viel zu viel
Die Zeiten ändern sich
entdecken schneller jetzt
daß dieser Ball kein Fest
Nichts als ein Schein
womit du jetzt bezahlst
Der Tod ist wahr und
Wissen wichtiger als Erde
und alles wird da unter
deinen Sohlen schon global
Die Sinne zählen nicht
wer früher in die Themse fiel
erstank normal, Pariser Häuser
waren vom Urin zersetzt
die Nase vom Geruch das Auge
stach der Kot der Gassen
Jetzt aber ists so schön vernetzt
was soll der Vers, schreib
eine Formel auf, Chemie im Brot,
dem Wein von gestern Abend
der kleine Bauer: auch
beim alten Abendmahl und
das Atom, du siehst es nicht,
ist wirklicher als jedes Jetzt
der Körper krank der Tod täglich
normal
Ist auch die Liebe auf diese Art, wie wir, Nadinchen und ich, sie betreiben, überholt, auf dieser kleinen humanen sinnlichen Ebene?! Harmlos und klein wie diese Fledermäuse sind! Nur Mutter hatte sogar hier Angst vor ihnen! Und sie schrie, als sie eine tote Fledermaus im Schlafzimmer entdeckte, als wäre es tatsächlich ein verkappter Vampyr. Man sieht sonst diese kleinen Wesen (wenn man sie sieht...) vor den hellen Konturen der Berge wie tropische Vögel lautlos herumschwirren. Und mit ihnen kriecht märchenhaft die Dämmerung hinter dem Haus gen Westen, dem Meer zu, wo am Abend dann wie vor Tausenden, Millionen Jahren: tiefrote Wolken den Widerschein der Sonne in großen Gesichtern spiegeln. Und von den Wegen am Brunnen hört man, wie vor Jahrhunderten auch, wie sich zwei Bäuerinnen über das Tal hinweg in rufendem Ton unterhalten. Diese Idylle erscheint mir unerträglich. Doch meist war sie tröstlich gewesen wie ein Bild, das aus der Kindheit hier vergessen worden war, als gäbe es noch rauchende Bauern auf ihren Bänken und Steintreppen vor dem Haus, Glocken aus dem Dorf. Ein Gebimmel. Wieder ist jemand (erstaunlich: den alten Tod!) gestorben. Und es gibt diese Bauern vor dem Haus wirklich noch, ich kann sie vor mir sehen, mit ihnen reden, und höre sie. Es kommt mir jetzt vor, als sähe ich einen Film. Doch das innere Rumoren nimmt nicht ab; ich bin nicht hier... es ist halb vier... Da, jetzt ihr Anruf: Es geht ihr schrecklich schlecht ... ich tröste sie, spreche ihr gut zu, streichele sie in Gedanken, flüstere mit ihr. Es tut ihr gut!
24.11. Gegen 10 Uhr kam schon ihr Gruß: "Guten morgen, denke an dich. Deine diana."
WAS SICH SO UNSEREN AUGEN ZEIGT, TÄUSCHT!
Roman hatte das fade Gefühl, als wäre alles völlig sinnlos gewesen, was er hier erlebte, so abgelegen, zu "schön"! Und Nadine und ihre Krankheit? Nadinchen irreal wie eine Kindheitserinnerung! Ihr Leben, zu dem er nicht gehörte! Und er erinnerte sich plötzlich an dieses lange Nachttelefonat aus der Wohnung seiner Mutter, an Nadines Anrufe in Allerherrgottsfrüh aus Leuna, das war am 13. November um 5,30, also vor 10 Tagen gewesen, er lag im Bett, den Hörer am Ohr, sie dort an der Kasse oder in ihrem Büro vor dem Computer, fahl der Morgen: Und sie sprach von der Spritbude, der halbabgebrannten Ostbaracke: "Nu ja, jetzt ists noch leer, doch bald kommen dann die Alkoholiker, schließlich gibt es hier an die 100.000 Arbeitslose..." Sie sagte es mit ihrer frischen jungen Stimme: "Die Regale sind verrostet und verrottet, ich dachte anfangs, da fall ich in Ohnmacht, du glaubst es nicht. Auch meine Mutter hat ja hier gearbeitet, jetzt ist sie beim Finanzamt, meine Großeltern haben hier gearbeitet. Und jetzt, ja, jetzt torkeln die ersten Besoffenen rein und kaufen Fusel, die essen nichts, die saufen nur! Brot, Yoghurt und Gemüse geht ja hier ganz gut, doch nicht so gut wie Fusel und Tabak. - Aber mir tränen die Augen schrecklich, sind ganz rot entzündet. Hab zwar Augentropfen, darf sie aber nicht zu oft reinziehen!"
Und der Grund hier, schwarz und wüst, die Arbeit und das Verlangen... im Dreck... Lüge und Liebe... Hupen der Lieferwagen ...
*
Roman sprang auf, flüchtete, um bei "Sinnen zu sein", wieder Sinn herzustellen, sagte hastig: "Ich muß aber jetzt gehen, die Arbeit ruft."
"Du bist krank," sagte Hannah: "Ein Mann aus lauter Wörtern, da graust´s dir."
"Ich kann meine tiefsten Träume nicht vergessen, muß sie abarbeiten", sagte er zweideutig: "Manches tut weh! Muß auch an meinen Personen arbeiten, ihnen was mitteilen, mit ihnen umgehn! Sie lieben oder hassen! sonst kann ich es hier nicht aushalten!"
"Du leidest an Verfolgungswahn", sagte Hannah spöttisch, "du bist in einem ganz anderen Sinne wahnsinnig! Hältst du denn deinen Roman für wirklich? Hast es ja selbst inszeniert, es kommt alles aus dir." "Eben". Wer anderes als du soll das alles und nur deinetwegen inszeniert haben? Wieder diese Egomanie, immer nur Ich, ich, ich!"
"Es hat vielleicht gar nicht stattgefunden, ich habe es nur geträumt, wie ich dich jetzt träume, dich gibt es gar nicht, der Film, der jetzt vor mir abläuft, ist mein Film, der vor dir abläuft, ist dein Film, wo sie sich treffen... auch im Bett, nicht!?"
"Vielleicht hat Michum doch recht, und du solltest für einige Wochen wenigstens in die Privatklinik seines Freundes Domenici gehen. Das ist doch eine Villa, nicht viel anders als dein Segromigno oder Catureglio ..."
Hat sie das nun ernst gemeint oder macht sie sich über mich nur lustig, dachte Roman: vielleicht will sie mich aber auch wirklich nur für einige Zeit loswerden, um es ungestört mit Luca treiben zu können! Da gibt es schon einen Komplott. Auch Rut unterstützt sie. Sie wollen mich loswerden…
Und er ging mit finsterem Gesicht die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer.
"Hoffentlich endest du nicht noch als schreibender Paranoiker!" rief ihm Hanna erbost nach!
Roman freilich wollte nichts anderes, als weg aus dieser "Außenwelt", er wollte seinen Traum weiter spinnen, der "wirklich ablief, nicht wie früher nur auf dem Papier", er wollte sein Phantom, und die "stärkere Wirklichkeit", und er schaltete dazu seinen "besten Freund", den PC an:
Und da kam schon die beruhigende Nachricht: "Es geht mir schon viel besser; hab auch einen langen spaziergang gemacht. Fahr zu meiner mutter!"
Wehmut packte ihn. Sein erster Impuls war, ihr wieder zu schreiben! Doch es hatte wenig Sinn, sie war ja bei ihrer Mutter.

*
Ich hatte mir strikt verboten, "Literatur" zu machen, irgendetwas zu erfinden.
Früher war es das Schreiben, das ein wenig befreite, sogar erlöste. Als letztes Mittel: Der Schlaf. Und jetzt? Ja, ich LEBE, ich bin verbunden, ja, angebunden, mein Gefühl, mein Bewußtsein, mein Verlangen geht nicht ins Leere oder nur aufs Papier! Und auch das Geschriebene kommt sehr schnell, oft nur Sekunden später bei Nadine an! Und sie liest es noch warm von meinen Gedanken; unsere Gefühle vermischen sich wie in einer Umarmung!
Sogar Goethe soll am liebsten Briefe geschrieben haben, den Dialog mit einem abwesenden Freund, den intimen Briefraum schöner als das störende Zusammensein angesehen haben; denn das geschriebene Werk auf Papier entfernt sich von allen Freunden, ja, von allen Menschen, ist einsam; Schreiben aber, das sofort ankommt, beim Freund, der Geliebten, ist... das LEBEN! Und dieses merkwürdige Vertraute im Fremden ist dann wie ein Kurzschluß; mit Ornella ging das über ihre Kunst, über meine Gedichte, da kamen wir uns umweglos gefährlich nah, in kürzester Zeit; und jetzt ist es das Netz, das Chatten, das Mailen.

Nachts rief mich Nadine an; sie war ganz aufgeregt und sagte, sie sei schrecklich eifersüchtig auf Hannah, mit der ich doch immer zusammen sei und immer alles teile! "Doch deine Frau, die war ja vor mir da", sagte sie, "ich will keine eifersüchtige Kuh sein."
Hat sie nicht recht, auf Hannah eifersüchtig zu sein? Ich werde Hannah nie verlassen, sie ist und bleibt mein Leben. Auch sie hatte mir einmal gesagt: "Ich werde dich nie verlassen. Wir haben uns dies Leben, diesen Lebenstil aufgebaut, wir sind in diesem Leben füreinander bestimmt!"

HANNAH
Ich hatte dann in unseren alten Briefen gelesen, und war erstaunt, wie heftig unsere Liebe gewesen war; daß man das so vergessen kann?! Nostalgie kam hoch. Läßt sich jetzt hier ein Bogen zu unserem Anfang schlagen? Zu jenem Jahr, als ich wieder zurück in den Osten gefahren war, damals, als wir durch die Stacheldrahtgrenze getrennt gewesen waren, wir uns schrecklich einer nach dem andern gesehnt hatten, wußten, daß wir uns lieben, hatte sich noch nicht alles in unserem Leben entschieden, und wir blieben skeptisch und vorsichtig, beide; hat das uns auch die jahrzehntelange harte Alltagsprobe mit allen Verletzungen überleben lassen? Später erst wurde es klar, daß heute, schon der höllischen Zeit wegen, die große Sehnsucht nicht erfüllt werden kann, all die Schuld durch sie durchgeht, eine Zentnerlast auf jeder Liebe liegt! Und ich las in den Anfangs-Briefen, wo noch soviel Hoffnung gewesen war, mein Gott, welche Ähnlichkeit mit den heutigen Briefen des hochfliegenden Anfangs; wie seltsam:
"Ffm, 22. 10. 79. Mein liebstes Fickmännchen", hatte Hannah damals geschrieben, "meine erotischen Alpträume lassen mich auch am Tag nicht mehr los, und ich bekomme merkwürdige Anwandlungen. Diese krankhafte Sehnsucht nach Dir steigert sich im selben Maß, wie meine Abneigung allen anderen Männern gegenüber, weniger als je zuvor wäre ich fähig, mit einem andern Mann vertraulich zu werden, im geistig-seelischen Bereich ebenso wie im erotischen, der bei mir ja vom ersten bedingt ist! Dabei sehe ich immerhin noch unvoreingenommen genug, daß andere Männer Eigenschaften haben, die mir gefallen und die Du nicht hast. Diese Rechenexempel sind saublöd. Schließlich hast du ja unzählige Eigenschaften, die ich einmalig finde und liebe. Jedesmal, wenn ich anfange über Dich nachzudenken, komme ich schnell zu dem Schluß, daß ich ein himmlisches Glück gehabt habe, Dich zu finden – und das jetzt ohne die elektrischen Stöße, die, wenn Du neben mir wärst, sowieso jeden Gedanken an ein Leben ohne Dich im Keim ersticken würden. Wo entsteht Liebe, im Kopf? Ich glaube nicht. Sicher ist, daß ich sie überall empfinde und kaum atmen kann vor Liebe. Liebster, diese Spannung darf nie nachlassen. Wir müssen uns immer hüten, mit unseren Gefühlen in einen Alltagstrott zu fallen. Wir müssen gegenseitig immer wieder die Liebesphantasie neu zu erregen versuchen, uns immer neu erobern und nichts erzwingen, vor allem nicht schlampig werden in unseren Gefühlen. Weißt Du, trotz dieser schier unerträglichen Tortur bin ich sehr glücklich – ich glaube, glücklicher als je in meinem Leben -, weil ich eine sehr starke Hoffnung habe. Vielleicht scheitern wir, und diese Zeit der Hoffnung war die schönste Phase. Obwohl ich das nicht glaube. Wenn es überhaupt einmal zu Ende geht, dann wahrscheinlich erst, nachdem wir alles aus uns herausgeholt haben. Und davor geschehen in meiner Phantasie noch ganz große Liebesdinge. Stell Dir doch vor, was wir noch alles vor uns haben, reicht die Freude darüber nicht aus, die Qualen vollends zu überstehen? Das, was wir hinter uns haben an Liebeserlebnissen, ist schon ein ganz bemerkenswerter Nährboden für große Phantasieblumen.
Es ist mir komisch zumute, hier an meinem Schreibtisch zwischen so viel bürokratischem Kram Dir Liebesbriefe zu schreiben. Aber wo immer ich mich befinde, denke ich an Dich, rede ich in Gedanken mit Dir. Wie oft wir im selben Augenblick an dasselbe gedacht haben?! An eines sicher sehr oft: daran, wie wir uns zitternd vor Erregung umarmen, uns aufs Bett werfen und in einen stundenlangen Liebestaumel versinken. Was aber, wenn wir nicht taumeln, nüchtern bleiben, weil wir uns jeder in einer andern Schale eingenistet haben? Ja, da bleibt nichts anderes übrig, als diese Schalen zu zertrümmern, wir wissen ja, wer darin sitzt. Soweit ich es selbst beurteilen kann, ist bei mir nicht soviel Schale herumgewachsen wie das letzte Mal. Ich komme mir selbst vor, als hätte ich um meine Nervenenden keine Haut. Ich glaube, Du wirst schnell direkt in mich hineinkommen! Ich bin gespannt, wie das bei Dir ist. Es würde mich nicht wundern, wenn Du total verkorkst wärst nach all dem, was du dort im Osten erleben mußtest. Da wird dann so eine seelische Neu-Geburt nötig sein.
Ich frage mich, wie Penelope das ausgehalten hat, obwohl ich sie heute schon besser verstehe, als vor einem halben Jahr. Ich glaube, auch so ein mannstolles Weib wie ich, kann so weit kommen, solang das Vertrauen oder wie soll ich sagen, der Glaube an den Mann nicht erschüttert wird. Aber hart ist die lange Trennung trotzdem, ich möchte sie nicht noch einmal erleben."
DAS MIT DEM SCHLECHTEN OMEN einer starken Anfangsliebe stimmt bei Hannah und Roman nicht. Denn ihre Liebe war nicht alltäglich, schon nach einer kurzen, nur tagelangen Trennung, wenn einer verreiste, meistens war er es, der in andere Städte zu Funk und Verlagen fuhr, ging es los mit geradezu verrückten Sehnsüchten, stundenlangen Telefonaten und seitenlangen Liebesbriefen wie diesem:
"Frankfurt, Montag, den 3.2.79. Mein wahnsinnig geliebtes Männchen, ich bin gerade in Ffm. angekommen und beeile mich, Dir die Post nachzuschicken. Untreu kann ich Dir auch nicht sein, es geht einfach nicht; was soll ich nur machen, bis Du endlich wiederkommst!? Ich habe schon Alpträume, daß Du überhaupt nie mehr zu mir zurückkommst, und im Traum sage ich dann, das wäre wohl das Beste für Dich! Im Wachzustand bin ich nicht mehr so selbstlos und sehne mich nach Deinem Vlies da oben, daß ich laut schreien möchte, und nach Deiner ganzen Bekenntnisscheiße, und überhaupt nach allem, was Du bist, so daß ich merke, wie arm ich ohne Dich, wie ganz, ganz arm ich dann bin; was soll ich nur dagegen machen, es ist doch gar nicht gut, daß ich Dich so wahnsinnig liebe. Wehe Dir, wenn Du heute abend nicht anrufst! Gestern habe ich oft versucht, mit Dir zu telefonieren! Aber Du hattest mich vollkommen vergessen. Ich küsse Dich, ich beiße Dich mit allen meinen wackligen Zähnen, und ich kratze Dich, und dann küsse ich Dich wieder. Und komm doch endlich!!! H."
Ich weiß nicht, wer sich heute noch jenen Zustand der Angst und des Gefängnisses im Kopf von damals vorstellen kann, als wären Jahrhunderte vergangen, seit Roman im damaligen Westen nur zu Besuch sein durfte, und er sich in diesem Gebiet bewegte, als wäre er andauernd einige Zentimeter schwebend über dem Erdboden, nervenaufreibend jeder Tag, kaum auszuhalten die Unruhe in jener - von der Polizei - zugemessenen, ja, von ihr gestundeten Zeit, die sehr kostbar schien, und die er möglichst intensiv nützen wollte; daher war er auch nach Italien, vor allem nach Rom und in die Toskana gefahren, nach Paris, nach Lissabon, nach Griechenland. Er war damals noch jung, und so konnte er diese seelische und auch körperliche Strapaze, samt den Behörden- und Paßschikanen, relativ gut überstehen. Und Hannah, die er in Frankfurt kennengelernt hatte, half ihm, reiste meist mit. Sie sah nun nochmals alles mit seinen Augen und mit kindlich-naivem Erstaunen die ihr längst bekannten Gegenden, wunderte sich, wie frisch die Eindrücke noch sein konnten.
Sie waren ja damals auch in Lucca und in jenem Teil der Welt, den Roman "den Westen" nannte, und der ihm wie verzaubert, wie ein freies Märchenland vorkam, nur zu Besuch gewesen; er hatte im Pass ein gestempeltes Datum, es kam ihm wie ein Todesdatum vor! Er hatte die Erlaubnis also, nur kurzfristig wirklich zu leben und "frei" zu sein. Vielleicht hat auch dieses Märchen der Freiheit dazu beigetragen, daß er in Italien leben wollte, als wäre Italien so etwas wie ein Eden, ein Traum gewesen; und trotzdem hatte er gleichzeitig furchtbares Heimweh und auch ein unerträgliches Schuldbewußtsein!
Der Besuch in Lucca war damals Weihnachten gewesen, er hatte noch zwei Monate der Freiheit mit Hannah in Frankfurt; sie zählten die Tage, dann rückte der selbst gesetzte Termin immer näher; die Heimkehr sollte eine "Therapie", eine Art Exorzismus seines Heimwehs und seiner Schuldgefühle sein, weil er nachts nicht schlief, hin- und hergerissen war zwischen Heimweh und Angst, Liebe zu Hannah und Liebe zu jenem verdammten Land mit seinen Landschaften und vertrauten Leuten, Freunden und Eltern, die ihn bis in die Träume hinein verfolgten.
Im März begann er dann seine abenteuerliche Rückreise "nach Hause". Hannah brachte ihn mit dem Auto von Ort zu Ort, schliesslich bis Heidelberg, es war fast unmöglich, sich zu trennen, und immer wenn sie Abschied nehmen wollten, schafften sie es nicht, fuhren eine Station weiter, erst in Heidelberg gelang es, sich voneinander loszureissen; mit dem Zug fuhr er dann weiter über Stuttgart und München nach Wien, in Richtung Stacheldraht-Grenze, die er dann auch mit Angstgefühlen überschritt; doch nichts geschah.
Schlimmer war, dass er sich dann in Bukarest, dem dort üblichen Lebensstil ausgesetzt, nach sechs Monaten Westaufenthalt, wunderte, je hier gelebt zu haben.
Und er sehnte sich Tag und Nacht nach seiner Hannah! Im Juni kam sie zu Besuch; sie hatten das Land kreuz und quer durchstreift, immer verfolgt von mindestens einem Auto der Securitate; sie waren in den Karpaten gewesen, er hatte ihr seine Heimatstadt gezeigt, sie waren in Bukarest gewesen, wo sie sich hüten mussten, denn Romans Immernochehefrau Maria wusste von seiner Liebe und beobachtete jede seiner Bewegungen argwöhnisch, eifersüchtig und, obwohl sie längst in Trennung lebten, sie sogar schon beim Gericht gewesen waren, schien sie sich so rächen zu wollen, indem sie versuchte, ihn an seiner Ausreise zu hindern; damals brauchte man nämlich eine schriftliche Ausreisegenehmigung des Ehepartners, die dieser dann gerade mit solchen Gründen, dass der Westreisende eine Geliebte habe, verweigern konnte!
Roman war mit Hannah am Schwarzen Meer, sie waren im Donaudelta gewesen, und er war dann wieder bis nach Oradea mitgekommen, wo Hannah mit ihrem blauen VW einfach um die Ecke bog und verschwunden war; er blieb als heulendes Elend mit einem schrecklichen Trennungsweh zurück, einem Liebeswühlen im Bauch, so dass er nichts anderes mehr tat, als den ganzen Tag Briefe an sie zu schreiben, und ruhelos in den Strassen herumzulaufen, nachts sich mit Alkohol zu betäuben, und gleichzeitig mit Maria zu Hause die Hölle zu haben! gleich nach Hannahs Abreise in Cluj brannte er vor Liebe lichterloh, und schrieb ihr in Lokalen, in Parks, im Zug andauernd Briefe wie diesen:
"Cluj, 1. Juli. Liebstes, alles erinnert mich an Dich, die banalsten Dinge. Was soll ich nur tun, um aus diesem Netz, in dem ich zapple, herauszukommen? Und Bilder kommen - alle riechen so stark nach Dir, so als sei ich nur dort bei Dir zu Hause. Die Wehmut ist schrecklich. Und das alles, nachdem Du fort warst. Dir geht es bestimmt jetzt auch so, ich fühle es. Wenn ich das gewußt hätte, daß solch eine Gefühlskatastrophe ausbrechen würde, hätte ich Dich nicht zurückfahren lassen, man hätte alles versuchen können, um Dich, vorläufig wenigstens, für ein paar Wochen mit einem offiziellen Visum hier zu behalten. Und dann wären wir zusammen in die Freiheit gefahren! Und plötzlich kam mir der Gedanke – Du hast es nicht aushalten können und bist von der Grenze zurückgekehrt! Hast bei meinen Eltern angerufen, und erwartest mich in Oradea. Für einen Augenblick hörte der Schmerz auf, um dann desto stärker wieder hochzukommen, denn – es kann ja nicht sein, daß Du wiederkommst! Das entspricht Dir nicht, Du kannst Dich abkapseln, versteinern wie ein Menoritenhorn. Auch weiß ich, Liebste, daß wir diese ersten Trennungstage doch einmal hätten überstehen müssen!
Ich bin krank. Die Laute kommen nur ganz von fern zu mir. Ich gehe wie im Traum durch diese stickigen Bahnhofsräume – und was ich auch immer tue, es erinnert mich an Dich: Gehe ich Geld abheben, kommst Du mir in der Post von Gura Humorului entgegen; kaufe ich Zeitungen, stehst Du neben mir in Mamaia in der Halle des Hotel "Tomis". Sehe ich auf diesen komischen Spalier in einem Drecksrestaurant, erscheinst Du dahinter wie am ersten Tag, an jenem Mittwoch, wo hier alles anfing, um nun – heute - zu Ende zu sein! Stirbt man auch so? So abschiednehmend für immer, wie wird das dann sein? Wenn ich daran denke, so kommt mir unsere vorläufige Trennung doch sehr geringfügig vor, auch gemessen daran, daß wir uns einmal ganz verlieren werden! Heute hatte ich diesen Todesgeschmack im Mund!
Doch ich will so schnell als möglich aus dieser trübseligen Stimmung herauskommen, Distanz gewinnen, um wieder aktiv werden zu können, alles zu tun, damit wir uns bald, bald wiedersehn! Jetzt ist mir so müde ums Herz, so weich und resigniert bin ich, ich könnte jetzt mit keinem Menschen sprechen, nichts schreiben, kein Buch lesen, ich irre nur unruhig durch die Gegend, nichts, gar nichts, nur an Dich denken oder an Dich schreiben kann ich! Unsere Reise zieht bei geschlossenen Augen wie ein Film an mir vorüber, ich nehme Dich an der Hand und wir kehren die Zeit um, denn das können wir!
Liebste, sei stark, weine nicht! Schlaf gut – und glaub im Traum, Du seist immer noch mit mir, du lägst mir in den Armen!"
Sie wechselten unzählige Briefe, schrieben sich jeden Tag. Und die Briefe wurden von Woche zu Woche sehnsüchtiger und heißer. Hannah dachte nur noch an ihr Zusammenleben mit Roman, hatte alles dafür vorbereitet, und umsichtig, wie sie nun einmal ist, an alles, an alle Möglichkeiten, wie man seine Ausreise beschleunigen könnte, und auch an seine Zukunft hatte sie gedacht.
Roman tat alles, um aus seinem alten Leben zu flüchten; denn es war nicht mehr zu ertragen, und er beschrieb ihr seinen Zustand in Bukarest in einem unendlich langen Brief:
"Mein liebes Weibchen, ich sitze in der Redaktion schwitzend und furchtbar nervös, Du wirst es an der Schrift merken. Das Leben ist ein totaler Dreck – o laß mich jammern! Ich will heute viel tun und arbeitend vergessen. Doch bin ich ganz kleinmütig, weil meine Nerven heute spitz sind wie Gräser oder wie Glasscherben, so daß ich nicht einmal mit Dir richtig reden kann. Ich habe Angst, meine anfängliche Distanz zur Umwelt hier langsam zu verlieren – Distanz, die mich doch leben läßt, denn das hieße, auch den letzten Rest von Humor oder besser Galgenhumor zu verlieren. Wie wunderbar, mit Dir über alles reden zu können, auch über das eigene und gemeinsame Ekelgefühl hier, und auch darüber, wie es ist, wenn das Gefühl einfach aussetzt, die Leere mich überfällt! Weibchen, Weibchen, das gehört dazu hier! Sag, wie lange werden wir uns überhaupt lieben? Kann nicht plötzlich bei dem einen oder dem andern die Liebe aufhören?? Das quält mich sehr. Worauf soll man ein Leben aufbauen, sich immer nur provisorisch einrichten? Vielleicht wärs ja am besten so. Ist nicht die ganze Scheiße hier ein Provisorat? Das schlimmste ist die Lüge. Ich lebe ja in einer doppelten Lüge!
Und ich weiß, man kann sich auch die schauderhaftesten Dinge an den Kopf werfen, solange man sich liebt. Und auch alles Negative zusammen mitmachen. Gott, daß ich mich in Dich so abenteuerlich verrannt und verknallt hab: Weibchen, ich glaube, mit Dir kann ich alles aushalten! Du bist so gut und klug (abgesehen von allen anderen Dingen, die mich, wenn ich daran denke, verrückt machen! Gestern hab ich davon geträumt, daß ich in Deinem Vötzchen gelegen habe wie in einer großen Muschel!) Weibchen, Weibchen, komm, halten wir uns aneinander fest, solange es nur geht! Dann kann uns nichts passsieren!
Ich schreibe so, und ich sehe, es geht mir schon besser! Als hättest Du mich umarmt, so, als müßte ich Dich trösten, Dich schützen, und davon werde ich stark und es geht mir gut! Falls Du mich danach fragen solltest.
Mein Leben ist so durcheinandergeraten. Wie soll ich diese verknäulten Nervenschnüre wieder entwirren. Ich dachte, es sei zu Ende – ich setz mich schön bürgerlich zur Ruhe, resigniere, laß Liebe, Liebe sein – hatte hier im Haus schon angefangen Zentralheizung einzuführen – und dann kamst Du und – und da wars mit der Ruhe aus. Und auch mit der Zentralheizung. Wo aber steht unser Haus?
Merkwürdig, hier um mich herum sind alle Leute verliebt. Leiden und sind doch glücklich. Nur haben alle davor Angst: wie lange dauert es. Ists eine Krankheit, die einen Krankheitsverlauf hat?
Jetzt tut mir plötzlich alles weh – ich hab zu lange mit Dir gesprochen. Ich weiß aber, ich kann zehn Leben lang mit Dir sprechen!
Nach dem Mittagessen.
Nun will ich weiter mit Dir reden. Nach dem Essen. Wie war das bei unseren gemeinsamen Gastmählern - hier sitz ich in einer schrecklichen Ostspelunke bei einer Tsuica, um mich Gewimmel, Leute, Leute, Leute. Und Gestank. Hier wimmelt es auch auf den Straßen. Wie die Ameisen. Alles Menschen, Menschen, Menschen, schlecht gekleidet. Arm und elend alles. Und wir glauben, wir seien irgendwie einmalig. Quatsch. Wir sind! Und basta. Ich ertrinke. Alles ist so animalisch hier und nah. Überall Gedränge. Man sitzt wie in einem warmen Fleischsack drin und verlernt auch das Denken, jede Distanz. Das ist das Gegenteil von der `Sterilität´, der `Mattscheibe´, die ich bei euch im Westen so oft beklagt hab! Eines ist klar, hier ist noch mehr (wenn auch stinkige) Natur in jeder Szene, jede Beziehung ist noch nah! Auch in der Luft knistert es noch.
Jetzt les ich eben in Deinem Brief: Ist man auch im Tode allein? man ist allein. Und wenn ich Dich nicht in mir hätte, wäre ich verloren! Was sind schon die andern Frauen für mich, die fremden, die Freunde hier, und der abstrakte Kunze-Bruder in Greiz (sein Buch ist da, ich werde schreiben!) Das kann man alles nur hier empfinden und durchmachen, was er schreibt! Lies es - oder hast Du es schon gelesen? Immer, immer ist man allein. Nur wenn wir beide zusammen sind, wird diese grauenhafte allgemeine Einsamkeit durch die Liebe aufgehoben. Welch ein Glück haben wir doch! Liebste, dank Dir, daß es Dich gibt, daß Du lebst, weit, aber doch DA. Du hast einmal geschrieben, daß wir für dieses einmalige Glück, uns zu haben, sehr dankbar sein müssen. Und jetzt quatscht Du vom Tod? Wieso? Man kann ja nicht wissen, was sein wird, alles wird anders sein, als wir es uns vorstellen können! Ohne Traurigkeit, denn wir lieben, wir leben uns! Wir haben uns! Beide zusammen sind wir Könige, allein sind wir Nichts als ein armer Fleischsack.
Gestern hat mir jemand Dein Bild von meinem Schreibtisch gestohlen, als wäre er eifersüchtig, oder als hätte es eine Magie in sich. Nachts habe ich geträumt, ich hätte den Räuber umgebracht.
Das Bild habe ich jetzt wieder, es war ein Kollege. Als ich ihm die Sache erzählte, entschuldigte er sich: die Frau, also Du, habe ihm sehr gefallen, dann sagte er, esti un nenorocit. Bist ein Unglücksrabe!"
SO HATTE ROMAN NUN mit der starken Überzeugungskraft des Selbsterlebten und der schier wahnsinnigen Liebe zu Hannah (aber welche Liebe ist nicht wahnsinnig!) gleich zwei Länder und auch das Vertrauen in zwei Lebenssysteme verloren.
Im November gelang es ihm unter den gegebenen Umständen (er war zurückgekehrt und also vertrauenswürdig), mit zwei Kollegen vom Schriftstellerverband, die Ausreisepapiere, sogar Dienstpässe zu erhalten!
Und schon sehr bald lag er dann in Hannahs Armen; so geschehen am Frankfurter Flughafen am 24. November 1979!
Nur drei Jahre hielt er es in Deutschland aus, dann übersiedelten die beiden in die Toskana, ins Bergnest Aliano. Sas Exil führt zu einem bodenlosen, dem Wahnsinn oft nahen Zustand, bei dem hochprozentiger Alkohol zum gefährlichen Tröster wird. Ein Kollege Romans hatte Selbstmord begangen, ein anderer lebt seit Jahren in einer Heilanstalt.
Am wichtigsten beim Heilungsprozeß aber war die hier noch unbetretene Natur, das Aufbrechen eines sehr weit zurückreichenden Gedächtnisses, das aufarbeitende Schreiben.

UND ZWANZIG JAHRE SPÄTER sind Hannah und Roman immer noch zusammen! Was hat sie so lange zusammengehalten, die Skepsis oder vielmehr hier dieses Haus, wo sie seither leben, es ist ein altes Haus, und es sieht aus, als hebe es sich wie ein Buchstabe aus dem umgebenden Land; ein einfacher geometrischer Körper, und wirkt fast antik; "cultura uterina", sagt Hannah, "umgebendes Sicherheitsgefühl". Und dieses hatten sie nach all dem Wahnsinn wirklich nötig! auch wenn Roman an dieses Sicherheitsgefühl nicht mehr glauben konnte, es für Illusion und Betrug hielt. "Ein undefinierbarer Riß geht mitten durch uns durch", sagt Roman, "nicht erst seit heute, nicht erst seit gestern, er war andauernd spürbar, schmerzt."
Und auch dieser Kontrast war anfangs schwer erträglich gewesen: Der Himmel ist blau. In der Ferne das Meer, ein Strich. In allen Dingen aber diese Unmöglichkeit, und fast täglich spürte er es: daß ewas nicht stimmt, daß die Dinge hier auf der Erde nicht ganz sein können, wie die Menschen es nicht sind. Sie sind nicht mehr heil. In jedem Baum in jedem Grashalm strahlt es, tickt Zerstörung. Und auch in ihnen diese Unglaubwürdigkeit, weil sie in jeder Sekunde dazu beitragen, daß etwas nicht stimmt - sie zu ohnmächtig sind, etwas daran zu ändern, und doch meinen, es ändern zu können.
19. Oktober, nachts. Unsere Beständigkeit und dieses grenzenlose Vertrauen, das Hannah und ich zueinander haben, wegwerfen?
Und: nicht nur die Partnerschaften und Liebesbeziehungen, sondern auch die Ehen ganz allgemein haben sich in letzter Zeit gewandelt, die Widerstände ebenfalls, es gibt keine Widerstände mehr, außer den ganz persönlichen: Aus der ehemaligen Arbeitsgemeinschaft ist nun eine Gefühlsgemeinschaft geworden, da werden die Gefühle zur Arbeit. Und das Kreisen an den Rändern der Autopoiesis: nämlich das schwierige Geschäft des innern Wachstums, der möglichst gemeinsamen Entwicklung: Dies ist meist der Streitpunkt.
Und wir, Hannah und ich, wir haben unsere Ruhe doch gefunden, ein Fundament. Die Liebe ist heute kein einmaliges Ereignis, sondern es muß täglich erarbeitet werden. Ist eine Leistung also. Nicht nur in guten und schlechten Tagen, sondern gerade auch durch die fordernden enormen Freiräume heute, die immer mehr wachsen. Eine Mischung aus Engelsgeduld und Frustrationstoleranz ist so auch in der unsicheren "mobilen" Ehe oder Partnerschaft nötig. Zähe Verhandlungsarbeiten, wie ich sie oft auch von den Frauen, die ich kenne, höre, so auch von Vera, der Kölnerin, die ich V nenne. Gipfelkonferenzen en miniature. Erschwerend ist, daß jeder des anderen Empfindlichkeiten, Schwächen, Macken, ja, auch den jeweiligen Lover akzeptieren muß - machen wir uns nichts vor: der gehört zur Treue, wie das Salz zum Ei, sich eine erfolgreiche Ehe-Diplomatie nur mit Einfühlungsvermögen, Talent, Intelligenz machen läßt!
"Ob sie nun gehen sitzen oder liegen
sie sind zuzweit.
Man sprach sich aus. Man hat sich ausgeschwiegen.
Es ist soweit..." ( Erich Kästner, "Gewisse Ehepaare".)

© Dieter Schlesak 2001
Erschienen in: "Halbjahresschrift für Geschichte, Politik und Literatur" Heft 1/Mai 2001
 



 
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