In der Geisterstadt

Delirium

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In der Geisterstadt

Ich sitze am Fenster, während ich dir schreibe, am Fenster einer der Plattenbauwohnungen im Zentrum der Geisterstadt. Nur wenige Menschen sind noch hier, die meisten sind schon vor ein paar Jahren gegangen. Doch ich habe es nicht übers Herz gebracht, diese Stadt zu verlassen.
Der Krater, den die Bombe hinterlassen hat, sehe ich von hier aus, und auch die einfachen Holzkreuze, die um ihn herum stehen. Dort, wo die Mütter ihre Kinder begraben haben. Die Bombe fiel am helllichten Frühlingsmorgen, direkt auf einen Spielplatz. Sie hat ihn und die umstehenden Häuser einfach ins Nichts aufgelöst. Anfangs schockiert dieser Gedanke, schockiert der Anblick der Kindergräber. Aber ich habe mich inzwischen an ihn gewöhnt. Ich fühle einen ganz anderen Schmerz.
Die Jahreszeiten machen hier keinen Unterschied mehr. Sei es die glühende Hitze der Sonne auf dem schwarzen Asphalt oder die eisigen Winde im Herbst und Winter – erträglich ist nichts davon. Trotzdem bin ich noch hier. An diesem Ort hängen zu viele Erinnerungen, um einfach zu gehen. Ich kann es nicht.
Gestern bin ich dort gewesen, wo ich dich zum ersten Mal traf, in der Straße, wo wir in diesem kleinen Straßencafé saßen und tranken. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag, es war ein warmer Spätsommertag, Anfang September. Die Schirme im Café waren aufgespannt. Wir redeten über Gott und die Welt und vergaßen die Zeit darüber und da wir andere Termine eh verpasst hatten, gingen wir später am Tag noch eine Kleinigkeit essen. Ich genoss deine Anwesenheit, ohne es dir zu zeigen, blieb still und fasziniert.
Jetzt ist diese Stadt auch still. Kein Vogel singt mehr, kein Kind lacht mehr. Sie sind alle fort. Vermutlich sind es keine 50 Menschen mehr, die noch hier sind. An manchen Tagen kann man durch die Straßen gehen, ohne jemandem zu begegnen. Aber auch daran gewöhnt man sich. Das Café ist nur noch eine Ruine, kahle graue Mauern und zerschlagene Scheiben und an die Tür hat jemand „No Future“ gesprüht. Diese Stadt, und wir, die in ihr leben, wir haben keine Zukunft mehr. Die Regierung hat geraten, die Stadt schnellstmöglich zu verlassen. Doch mir war es einfach noch nicht möglich.
Von meinem Fenster kann ich fast über die ganze westliche Stadt sehen. Die leeren Straßen, die einst Einkaufsmeilen waren, die leeren Häuser, in denen einst Menschen lebten, die leeren Fabrikhallen am Ende der Stadt, in denen schon lange alle Maschinen stillstehen. Manchmal gehe ich dorthin und denke an dich.

Ich komme gerade von draußen. Es ist kalt und windig, und heute morgen hat es etwas geregnet. Der eisige Schneeregen, an den man sich in dieser Stadt eben gewöhnt. Ich bin unten im Club gewesen, in dem ich dich früher oft gesehen habe. Die obere Etage existiert nicht mehr. Die Treppe führt ins Leere. Unten liegen Scherben und Schutt. Eine Weile habe ich auf den Treppenstufen gesessen und mich gefragt, was ich eigentlich noch hier tue. Doch dann kam die Erinnerung zurück, die Erinnerung an dein Lächeln, an deine Augen, an deine Stimme und all die lustigen Abende, die wir hier verbracht hatten. Ich weiß nicht, wie lange ich in den Trümmern gesessen und geweint habe. Minuten, Stunden, Jahre? Welchen Unterschied macht es hier noch?
Es war nicht das erste Mal, dass ich wieder im Club war. Vor ungefähr zwei Jahren bin ich zuletzt hier gewesen. Damals standen hier noch ein paar verlorene Möbel herum, die das Wetter inzwischen dahingerafft hat. Ich habe auf dem letzten wackeligen Barhocker gesessen und an das gedacht, was ich hier erlebt habe. Manchmal ist es wie in einer Diebelswerbung gewesen, „Der Moment gehört dir“. Alles schien sich in Zeitlupe zu bewegen und die Musik war leise, als wehe der Wind sie von weit her. Die Menschen um mich waren so unendlich fern von mir und ich habe diese kurzen Momente der Ruhe genossen. Dann kamen die grellen Lichtgewitter und die wummernde Musik zurück, die scheinbare Hektik derer, die Zeit und Geld hatten, ihre Abende hier zu verbringen. Auch du bist manchmal hier gewesen und ich habe mich gefreut, wie ein kleines Kind, das unter dem Weihnachtsbaum sitzt. Wir haben uns hin und wieder unterhalten und zusammen das eine oder andere Glas geleert. Und andere Male hat es mir genügt, dich still von weit her anzusehen. Das verklärte Lächeln in meinem Gesicht hast du vermutlich nie bemerkt. Ich habe schon lange nicht mehr gelächelt.

Jetzt sitze ich wieder in der Wohnung. Sie ist recht schön und kaum zerstört. Die Garagen nebenan hat es heftiger erwischt, kein Stein steht mehr auf dem anderen. Ich habe hier oben die Einrichtung meinem Geschmack angepasst. Vermutlich hat hier früher eine wohlhabende Familie gewohnt. Die schwarze Ledergarnitur im Wohnzimmer muss verdammt teuer gewesen sein. Ich habe mich in den Schränken etwas umgeschaut, als ich eingezogen bin. Die Besitzer werden eh nie wieder kommen. Ich schätze, sie haben die Stadt direkt nach dem Fall der Bombe verlassen und sich irgendwo was neues aufgebaut. Im Schlafzimmer habe ich ein paar Klamotten gefunden, die mir passen. Zwar nicht ganz mein Stil, aber wen interessiert das hier schon?
Das Zimmer, in dem ich jetzt sitze, ist vermutlich früher das Büro gewesen. Die ganzen Akten, die in den Regalen rumstanden, habe ich rausgeschmissen. Die Topfpflanzen, vorwiegend Palmen, sind mir eingegangen. Ich hatte nie einen „grünen Daumen“ und wahrscheinlich merken Pflanzen irgendwann auch, dass das Wasser, mit dem sie gegossen werden, verstrahlt ist.
Ich glaube, es ist Abend, aber zu dieser Jahreszeit kann man das schlecht sagen. Der Himmel ist fast immer dunkel, nur manchmal durchbricht der Wind die Wolkendecke. Ich sitze hier und schreibe dir. Vielleicht wirst du irgendwann zurückkommen und finden, was ich in deine alte Wohnung legen werde: diese Seiten. Auf diesen Moment warte ich, doch die Geisterstadt lässt mich jeden Tag wissen, dass es unwahrscheinlicher wird, dir hier noch einmal zu begegnen. Solltest du wirklich wiederkommen, glaube ich nicht, dass ich noch hier sein werde. Die Natur hat eben ihre eigenen Gesetze, die sich nicht um dich und noch viel weniger um mich kümmern. Ich schreibe all dies auf, damit du weißt, was du mir wirklich bedeutet hast. Ich war nie sehr gut darin, es in Worte zu kleiden, zumindest nicht, wenn du vor mir standest. Selten, sehr selten habe ich dich in den Arm genommen, wenn wir uns sahen, oft hat mir einfach der Mut gefehlt, deine Aura von Unnahbarkeit zu durchbrechen. Aber wenn ich es tat, stand die Zeit still für mich, für wenige Sekunden. Ich konnte dir nie sagen, was in mir vorging. Du hast mein Denken, mein Fühlen, mein Handeln, mein Leben verändert, wie kein anderer Mensch auf diesem Planeten.
Eine Woche, nachdem die Bombe gefallen war und viele die Stadt schon verlassen hatten, bin ich runter zum Club gegangen. Es ist nicht weit von hier. Ich wusste, dass im Schaukasten, hinten am Kicker ein Foto von uns hing, dass die Betreiber des Clubs auf irgendeiner Party gemacht hatten. Als ich es aus den Scherben nahm, habe ich zum letzten Mal bewusst Glück gefühlt. Glück, weil ich wenigstens eine kleine Erinnerung an uns vor dem Verfall gerettet hatte. Dieses Foto trage ich jetzt ständig bei mir. Es ist das letzte, was mir noch geblieben ist. Meine eigene Wohnung hat die Bombe mit ins Nichts genommen. Alles, was mich an dich erinnert hat, ist fort, unwiederbringlich fort.

Aber deine Wohnung steht noch. Das Bad und die Küche sind etwas in Mitleidenschaft gezogen worden, doch die Wohnräume sind fast unbeschädigt. Das Loch im Dach der Küche habe ich notdürftig mit ein paar Planen abgedeckt. Im Bad war leider nichts mehr zu retten, nur ein paar Flaschen Duschgel. Ich habe sie auf das Regal in der Küche gestellt und die Badezimmertür vernagelt, damit der Wind sie nicht aufreißen kann. Ich schreibe es nur auf, falls du was suchen solltest. Ansonsten habe ich nichts verändert. Von dem Schutt habe ich das meiste entfernt und aus dem Fenster auf die Straße geworfen. Strom hatte ich leider nicht, daher konnte ich mit dem Staubsauger nichts anfangen, ansonsten hätte ich natürlich etwas sauber gemacht. Schließlich sollst du dich wohlfühlen, wenn du nach Hause kommst. Als die Bombe fiel, bist du auf der Arbeit in einer anderen Stadt gewesen. Das war dein Glück. Noch Tage nach der Bombardierung standen Teile der Stadt in Flammen. Die meisten Menschen flohen in Panik und nahmen nur das Nötigste mit. Ich war zu dieser Zeit am Ostende der Stadt, um einzukaufen. In diesem kleinen Second Hand Laden, vielleicht kennst du ihn ja. Da hat es schon immer guterhaltene Klamotten gegeben und das auch recht günstig. Nachdem die Stadt zur Geisterstadt geworden war, habe ich mir das, was zu teuer war, eben so geholt. Die Ladenbesitzer gehörten zu den ersten Massen, die geflohen sind. Auch dir habe ich ein paar Sachen mitgebracht, weil ich dachte, sie würden dir gefallen. Ich werde sie dann auf das Sofa legen, wenn ich diesen Brief zu deiner Wohnung bringe.
Der Teil der Stadt, in dem du gewohnt hast, ist fast vollständig zerstört. Lediglich der Häuserblock, in dem deine Wohnung lag, ist großteils verschont geblieben. Im Umkreis von mehreren Kilometern wohnt hier niemand mehr.

Ich werde von Tag zu Tag schwächer, daher denke ich, dass ich meinen Brief bald zu dir bringen werde. Auf der Rückseite ist eine Skizze der Stadt, ich habe dort eingezeichnet, wo ich mich meistens aufhalte. Vielleicht kommst du ja mal vorbei und siehst nach, ob ich noch da bin...
Das wäre dann wohl der letzte Wunsch, den ich noch habe: dich noch ein einziges Mal zu sehen, bevor die Strahlung mich besiegt. Ich habe dir nie sagen können, was ich dir jetzt sage, was in diesem Brief steht. Du bist immer ein sehr wichtiger Mensch für mich gewesen, mein Halt, wenn es mir nicht gut ging und du hast es nie gewusst. Darum wünsche ich dir, dass du es geschafft hast, in ein sicheres Gebiet zu fliehen und dir dort was neues aufzubauen. Ich wünsche dir, dass es dir gut geht, dort, wo du jetzt bist, dass es dir besser geht, als mir, aber das ist nicht besonders schwer. Du wirst vermutlich von der Strahlung verschont geblieben sein. Ich hoffe so sehr, dass wenigstens du es geschafft hast, dieser Hölle zu entkommen und dass du den Frieden noch erleben wirst. Zeiten, in denen keine Bomben mehr fallen, keine Menschen mehr sterben, keine Kriege mehr geführt werden und kein Politiker mehr seine Macht mit Nuklearwaffen beweisen will.
Solange ich noch hier sein werde, will ich dir in liebevoller Erinnerung gedenken und mich um deine Wohnung kümmern, falls du eines Tages wiederkommst. Der Gedanke, dass du mich vermutlich nicht mehr dort finden wirst, wo ich es auf der Skizze markiert habe, macht mich traurig, aber ich klammere mich an die Hoffnung, dass es dir nun gut geht. Diese Hoffnung macht meinen Schmerz erträglich. Ich werde noch das Foto, das ich aus dem Club habe, mit in den Umschlag legen. Vielleicht wirst du ja auch eines Tages froh sein, eine Erinnerung an mich zu haben.
Ich möchte diesen Brief nun beenden, um nicht noch mehr aus diesen grauen, kalten Tagen für die Zeit nach dem Krieg zu erhalten. Du sollst an die schönen Zeiten denken, wenn alles vorbei ist, du sollst wieder in eine blühende, lebendige Stadt zurückkehren und nicht in die Geisterstadt, die draußen vor meinem Fenster liegt und mit jedem Tag mehr stirbt.
So lebe wohl, mein Herz. Bis ich nicht mehr bin, will ich mit all meiner Liebe, Hoffnung und Sehnsucht an dich denken.
 



 
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