In der Rose erkennen wir uns wieder (1/2)

Enola Aileen

Mitglied
Hallo ihr Schreiberlinge!
Dies ist ein kleines Märchen, was ich einmal geschrieben habe. Ich wünsche euch viel Spaß beim lesen, und scheut euch nicht, eure Meinung dazu zu sagen.


„Sie sind wunderschön, nicht wahr?“, fragte der Großvater seine fünfzehnjährige Enkelin, als sie die Schönheit eines riesigen Rosenfeldes auf sich wirken ließen. Der heutige Tag war angenehm warm und in der strahlenden Nachmittagssonne leuchteten die kräftig bunten Farben der Blütenblätter wie kostbare Edelsteine.
„Hast du gewusst, dass Rosen meine Lieblingsblumen sind““, fragte er weiter, nachdem Jennifer auf seine erste Frage hin zustimmend genickt hatte. Allerdings schien er nicht auf eine direkte Antwort warten zu wollen, denn er fuhr nahtlos mit seinen Erzählungen fort.
„Weißt du, meine Mutter hat mir einmal eine Geschichte erzählt, da war ich noch ein bisschen jünger als du. Es war eine so wundervolle Geschichte, dass ich sie gar nicht oft genug hören konnte“. Der Großvater lächelte gedankenverloren, als er sich an seine eigene Jugendzeit erinnerte.
„Jeden Abend, wenn ich zu Bett ging, musste mir meine Mutter diese Geschichte erzählen. Es war nur ein bisschen Fantasie, aber irgendwie hatte ich stets das Gefühl, das diese Geschichte etwas ganz besonderes beinhaltete. Für mich barg sie etwas wundervolles, geheimnisvolles in sich, das ich lange Zeit nicht wirklich begreifen konnte.“
„Was war denn das für eine Geschichte?“, wollte Jennifer wissen. Sie hatte erkannt, dass sie ihrem Großvater wirklich sehr am Herzen liegen musste, denn sein Blick ruhte noch immer auf dem schier endlosen Rosenfeld. Erst nach einer ganzen Weile schaffte er es sich davon loszureißen, und seine Enkeltochter anzusehen.
„Bist du dir sicher, dass du sie hören möchtest? Ich meine, bist du denn nicht schon ein wenig zu alt, um dir eine Kindergeschichte von deinem alten Opa anzuhören?“, fragte er, allerdings ohne es ernst zu meinen.
„Ach Opa, hör auf damit“, nörgelte Jenni, die natürlich genau wusste, dass er sie nur auf den Arm nehmen wollte. „Du weißt ganz genau, dass ich sie hören möchte. Erzähl schon!“
„Also gut, dann pass auf. Hier im Harz erzählt man sich, wie du sicher weißt, eine Menge Legenden und Sagen über Drachen, Hexen und andere fantastische Gestalten. Die bekannteste dabei, ist wohl die über die Hexen, die zur Walpurgisnacht zum Brocken hinauffliegen und dort um ein hohes Lagerfeuer tanzen. Doch die Geschichte, die ich dir jetzt erzähle, ist vollkommen anders als diese Märchen.“ Wieder schweifte der Blick des Großvaters über das Rosenfeld, in dem sich die dornenbesetzten Stängel der Blumen sanft im Wind wiegten und so den Eindruck vermittelten, als wären sie lebendig.
„Ganz in der Nähe, beinahe in der Mitte unseres Landes, am südlichsten Zipfel des Harzes gelegen, gab es einmal eine kleine, aber weithin bekannte Stadt“, fuhr er nach seiner kurzen Pause schließlich fort. „Nun, eigentlich war sie nicht viel anders als all die anderen Städte in dieser Zeit, und doch unterschied sie sich von ihnen, wie sich der Tag von der Nacht unterscheidet. Um ihre Stadtmauern nämlich waren gigantische Rosenfelder angelegt worden, die sich weiträumig um die gesamte Ansiedlung zogen. Die Menschen, die in dieser Stadt lebten, waren allesamt nette, gutmütige und außerordentlich gesellige Zeitgenossen. Nichts vermochte ihr sonniges Gemüt zu trüben, ganz egal wie schwer sie für ihr tägliches Brot arbeiten mussten. Sie legten eine derartig sorglose Lebensfreude an den Tag, mit der sie jeden Händler und jeden Gast, der ihre Stadt besuchte, anzustecken vermochten.“
„Das klingt ja so, als seien damals nur sehr wenige Menschen wirklich glücklich gewesen“, unterbrach Jennifer ein wenig verwirrt den Redefluss ihres Opas.
„Hm“, machte der Großvater, drehte den Kopf und sah seine Enkelin abschätzend an. „Wie soll ich dir das erklären?“ Er überlegte kurz, wobei ihm durchaus bewusst war, dass er Jennifer nicht belügen durfte. Eine Ausrede hätte seine Enkelin sicherlich sofort als solche erkannt, und er wollte ihr inniges Verhältnis zueinander nicht zerstören, indem er an ihrer durchaus schon erwachsenen Reife zweifelte. Also fing er einfach an:
„Nun, du musst bedenken, dass die Menschen damals nicht die verschiedensten Annehmlichkeiten hatten, die wir heute haben. Es gab keine Elektrizität, keine Fahrzeuge, kein fließend Wasser, und so weiter. Die Feldarbeit musste noch von Hand erledigt werden, und es gab viele Krankheiten, für die es noch kein Heilmittel gab. Ich denke, die Menschen in dieser Zeit waren zufrieden, denn sie kannten es ja nicht anders, aber richtig glücklich mit ihrem Leben, waren wohl nur die Reichen und Adligen.“
„Aber bei den Bewohnern aus der Stadt mit den Rosen drum herum war das anders“, schloss Jennifer aus seinen Erklärungen.
„Genau“, freute sich der Großvater, dass seine Enkeltochter so schnell verstanden hatte. „Und warum, glaubst du, war das wohl so?“, setzte er die Frage hinzu.
„Keine Ahnung.“ Jenni zuckte mit den Schultern. „Vielleicht besaßen sie etwas, das die Bewohner aus anderen Städten nicht hatten“, meinte sie ganz spontan.
„Ja, das kommt der Sache eigentlich schon sehr nahe. Es waren die Rosen, die ihre Stadt zu etwas ganz Besonderen machte.“
„Die Rosen?“, fragte Jennifer überrascht, und bevor sie ihre nächste Frage aussprechen konnte, erzählte der Großvater weiter:

Fortsetzung folgt!
 

Enola Aileen

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In der Rose erkennen wir uns wieder

Hallo ihr Schreiberlinge!
Dies ist ein kleines Märchen, was ich einmal geschrieben habe. Ich wünsche euch viel Spaß beim lesen, und scheut euch nicht, eure Meinung dazu zu sagen.
Lasst euch von dem Titel nicht irritieren. Ich wollte eigentlich die Geschichte in zwei Teile teilen, habe es mir aber kurzfristig anders überlegt. Jetzt kann ich aber den Titel nicht mehr ändern.
Also, das Werk ist jetzt abgeschlossen, und es gibt keine Fortsetzung mehr.


„Sie sind wunderschön, nicht wahr?“, fragte der Großvater seine fünfzehnjährige Enkelin, als sie die Schönheit eines riesigen Rosenfeldes auf sich wirken ließen. Der heutige Tag war angenehm warm und in der strahlenden Nachmittagssonne leuchteten die kräftig bunten Farben der Blütenblätter wie kostbare Edelsteine.
„Hast du gewusst, dass Rosen meine Lieblingsblumen sind““, fragte er weiter, nachdem Jennifer auf seine erste Frage hin zustimmend genickt hatte. Allerdings schien er nicht auf eine direkte Antwort warten zu wollen, denn er fuhr nahtlos mit seinen Erzählungen fort.
„Weißt du, meine Mutter hat mir einmal eine Geschichte erzählt, da war ich noch ein bisschen jünger als du. Es war eine so wundervolle Geschichte, dass ich sie gar nicht oft genug hören konnte“. Der Großvater lächelte gedankenverloren, als er sich an seine eigene Jugendzeit erinnerte.
„Jeden Abend, wenn ich zu Bett ging, musste mir meine Mutter diese Geschichte erzählen. Es war nur ein bisschen Fantasie, aber irgendwie hatte ich stets das Gefühl, das diese Geschichte etwas ganz besonderes beinhaltete. Für mich barg sie etwas wundervolles, geheimnisvolles in sich, das ich lange Zeit nicht wirklich begreifen konnte.“
„Was war denn das für eine Geschichte?“, wollte Jennifer wissen. Sie hatte erkannt, dass sie ihrem Großvater wirklich sehr am Herzen liegen musste, denn sein Blick ruhte noch immer auf dem schier endlosen Rosenfeld. Erst nach einer ganzen Weile schaffte er es sich davon loszureißen, und seine Enkeltochter anzusehen.
„Bist du dir sicher, dass du sie hören möchtest? Ich meine, bist du denn nicht schon ein wenig zu alt, um dir eine Kindergeschichte von deinem alten Opa anzuhören?“, fragte er, allerdings ohne es ernst zu meinen.
„Ach Opa, hör auf damit“, nörgelte Jenni, die natürlich genau wusste, dass er sie nur auf den Arm nehmen wollte. „Du weißt ganz genau, dass ich sie hören möchte. Erzähl schon!“
„Also gut, dann pass auf. Hier im Harz erzählt man sich, wie du sicher weißt, eine Menge Legenden und Sagen über Drachen, Hexen und andere fantastische Gestalten. Die bekannteste dabei, ist wohl die über die Hexen, die zur Walpurgisnacht zum Brocken hinauffliegen und dort um ein hohes Lagerfeuer tanzen. Doch die Geschichte, die ich dir jetzt erzähle, ist vollkommen anders als diese Märchen.“ Wieder schweifte der Blick des Großvaters über das Rosenfeld, in dem sich die dornenbesetzten Stängel der Blumen sanft im Wind wiegten und so den Eindruck vermittelten, als wären sie lebendig.
„Ganz in der Nähe, beinahe in der Mitte unseres Landes, am südlichsten Zipfel des Harzes gelegen, gab es einmal eine kleine, aber weithin bekannte Stadt“, fuhr er nach seiner kurzen Pause schließlich fort. „Nun, eigentlich war sie nicht viel anders als all die anderen Städte in dieser Zeit, und doch unterschied sie sich von ihnen, wie sich der Tag von der Nacht unterscheidet. Um ihre Stadtmauern nämlich waren gigantische Rosenfelder angelegt worden, die sich weiträumig um die gesamte Ansiedlung zogen. Die Menschen, die in dieser Stadt lebten, waren allesamt nette, gutmütige und außerordentlich gesellige Zeitgenossen. Nichts vermochte ihr sonniges Gemüt zu trüben, ganz egal wie schwer sie für ihr tägliches Brot arbeiten mussten. Sie legten eine derartig sorglose Lebensfreude an den Tag, mit der sie jeden Händler und jeden Gast, der ihre Stadt besuchte, anzustecken vermochten.“
„Das klingt ja so, als seien damals nur sehr wenige Menschen wirklich glücklich gewesen“, unterbrach Jennifer ein wenig verwirrt den Redefluss ihres Opas.
„Hm“, machte der Großvater, drehte den Kopf und sah seine Enkelin abschätzend an. „Wie soll ich dir das erklären?“ Er überlegte kurz, wobei ihm durchaus bewusst war, dass er Jennifer nicht belügen durfte. Eine Ausrede hätte seine Enkelin sicherlich sofort als solche erkannt, und er wollte ihr inniges Verhältnis zueinander nicht zerstören, indem er an ihrer durchaus schon erwachsenen Reife zweifelte. Also fing er einfach an:
„Nun, du musst bedenken, dass die Menschen damals nicht die verschiedensten Annehmlichkeiten hatten, die wir heute haben. Es gab keine Elektrizität, keine Fahrzeuge, kein fließend Wasser, und so weiter. Die Feldarbeit musste noch von Hand erledigt werden, und es gab viele Krankheiten, für die es noch kein Heilmittel gab. Ich denke, die Menschen in dieser Zeit waren zufrieden, denn sie kannten es ja nicht anders, aber richtig glücklich mit ihrem Leben, waren wohl nur die Reichen und Adligen.“
„Aber bei den Bewohnern aus der Stadt mit den Rosen drum herum war das anders“, schloss Jennifer aus seinen Erklärungen.
„Genau“, freute sich der Großvater, dass seine Enkeltochter so schnell verstanden hatte. „Und warum, glaubst du, war das wohl so?“, setzte er die Frage hinzu.
„Keine Ahnung.“ Jenni zuckte mit den Schultern. „Vielleicht besaßen sie etwas, das die Bewohner aus anderen Städten nicht hatten“, meinte sie ganz spontan.
„Ja, das kommt der Sache eigentlich schon sehr nahe. Es waren die Rosen, die ihre Stadt zu etwas ganz Besonderen machte.“
„Die Rosen?“, fragte Jennifer überrascht, und bevor sie ihre nächste Frage aussprechen konnte, erzählte der Großvater weiter:„Weißt du, die Bewohner dieser Rosenstadt, wie man sie damals nannte, hatten nämlich eine ganz bestimmte Vorstellung vom Leben. Nein warte mal. Sagen wir lieber, sie hatten eine ganz bestimmte Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Sie glaubten fest daran, dass ihre Seele nach dem Tod in die Wurzeln in die Wurzeln der Rosen fahre, und sie dort auf diese Weise weiterhin am Leben in dieser Welt teilhaben konnten. Für dich ist das jetzt vielleicht ein wenig schwer nachzuvollziehen, denn du bist noch jung, und hast noch viele wundervolle Jahre vor dir. Ja, so lange wir noch jung sind, schauen wir nach vorn und erbitten uns eine Zukunft, wie wir sie uns erträumen. Je älter wir jedoch werden, desto häufiger blicken wir wehmütig auf die vergangenen Jahre zurück, in der Hoffnung die Träume die wir damals hatten darin wiederzuerkennen. Damals wie heute streben wir unser ganzes Leben danach, das Beste für uns und unsere Familie zu erreichen. Es ist ein verständlicher Wunsch, aber er kann auch zu einem Teufelskreis werden, denn aus diesem Bestreben heraus, werden viele Menschen niemals in der Lage sein wirklich frei zu leben.“
Der Großvater verstummte und holte einmal tief Luft. Ein kurzer Blick auf seine Enkelin zeigte ihm ihr großes Interesse und so erzählte er erfreut weiter.
„Die Menschen aus dieser Stadt aber, um die es in meiner Geschichte geht, waren da ganz anders. Sie sorgten sich nicht um das Ende ihrer Tage, denn ein absolutes Ende gab es für sie nicht. Sie wussten sich geborgen in den Blättern der Rosen, die sie mit größter Sorgfalt hegten und pflegten. Natürlich mussten auch sie, wie alle anderen Menschen auch, sehr hart für ihren Lebensunterhalt arbeiten, doch sahen sie ihren Alltag weitaus weniger verbissen. Sie schätzten das Wenige, und waren glücklich mit dem was sie besaßen.“
„Aber warum waren es ausgerechnet Rosen?“, unterbrach Jennifer den Redefluss ihres Opas.
„Hm. Naja“, meinte er lächelnd. „Die Rosen sind uns irgendwie ähnlich. Ich möchte fast sagen, sie sind ein Spiegelbild von uns.“
„Ein Spiegelbild von uns?“, fragte Jennifer skeptisch. „Wie kann eine Blume ein Spiegelbild von uns sein?“
„Siehst du die Knospen, dort an den jungen Trieben, so klein und zierlich?“, fragte er, während er mit der rechten Hand auf die betreffende Rose deutete. Sie nickte.
„Gewissermaßen sind sie genau wie ein Baby. Unvollkommen zwar, aber dennoch perfekt.“
Jennys Gesicht hellte sich auf, als sie erkannte, was ihr Großvater meinte.
„Ja, du hast recht. Sie sind in ihrer Entwicklung noch nicht vollständig ausgereift, aber trotzdem wurde ihnen von der Natur alles gegeben, was sie zum Leben brauchen. Also sind sie irgendwie auch perfekt.“
„Genau“, meinte der Großvater, stolz, dass seine Enkeltochter so schnell begriffen hatte.
„Damit fängt alles an. Sie wachsen, genau wie wir, und sobald sich ihre Blütenblätter öffnen, verströmen sie einen Duft, der Einzigartig ist, wie es jeder Einzelne von uns ist.“
Entzückt streckte Jenni die Nase in die Luft und begann zu schnuppern. Unwillkürlich nickte sie leicht, wodurch sie schon sehr erwachsen aussah.
„Es gibt tausende verschiedene Arten, in allen auch nur erdenklichen Farben und Formen, so wie jeder Mensch etwas ganz spezielles an sich hat. Keine Rose gleicht der anderen. Jede von ihnen ist etwas ganz besonderes, genau wie…“
„…wie wir“, rief Jennifer dazwischen. „Es gibt keine zwei Menschen, die völlig identisch sind. Jeder hat ein anderes Aussehen und die unterschiedlichsten Merkmale, um sich von den anderen zu unterscheiden.“
„So ist es“, stimmte der Großvater zu. „Und wie wir, haben auch sie ihren eigenen Charakter. Na ja, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben, aber schau her. Ich will dir etwas zeigen“. Er zog seine Enkelin behutsam näher an den Zaun heran, der das Rosenfeld umschloss und deutete mit einer weit ausladenden Handbewegung über den bunten Blumenteppich. „Sieh dort, die herrlich blass-rosafarbene Rose. Sie hat so zarte und dünne Blütenblätter, als traue sie sich nicht zu wachsen.“
„Sie ist vielleicht schüchtern“, sagte Jenni und kicherte leise.
„Wäre möglich. Aber sieh hier. Hingegen die andere dort hinten, mit ihrer provozierend roten Farbe, scheint es gar nicht erwarten zu können, bis sie größer und kräftiger ist als alle anderen. Die nächste drüben will gleich noch höher hinaus und rankt sich schon am Zaun empor. Und dort hinten steht eine Rose mit einem geraden Stiel und dicken, vollkommenen Blättern, direkt neben einer völlig wirren und wildgewachsenen Rose, die ihre Triebe überall dort hinsteckt, wo sie Platz findet. Du siehst also, mit ein bisschen Phantasie hat jede Rose ihre eigene, lebendige Seele. Von unseren vielfältigen Charaktereigenschaften gar nicht so weit entfernt.“
Jennifer dachte über die Worte ihres Großvaters nach, und für eine Weile herrschte ein entspanntes Schweigen zwischen den beiden.
„Ja, ich glaube ich verstehe was du meinst“, sagte sie schließlich, nachdem sie einen Augenblick lang verträumt auf die Rosen gestarrt hatte.
„Aber das ist noch nicht alles“, nahm der Großvater den Faden wieder auf. „Nimm zum Beispiel ihre Dornen. Sie sind beinahe zu etwas wie ein natürlich gewachsener Schutzmantel, den die Rosen im Laufe der Evolution entwickelt haben, um den Fortbestand ihrer Art zu sichern. Auch wir haben einen solchen Schutzmantel.“
„Wirklich?“, fragte Jennifer überrascht. „Wo denn?“
„Aber natürlich. Nun, du kannst ihn zwar nicht sehen, aber glaube mir, er ist da“, erklärte der Großvater, und legte seiner Enkeltochter den Arm um die Schultern.
„Es sind unsere Gefühle und unsere Instinkte. Zorn, wenn uns Unrecht wiederfährt. Angst, wenn wir uns in Gefahr befinden. Trauer, wenn wir einen geliebten Menschen verloren haben. Ekel, wenn uns etwas zuwider ist. Freude, wenn uns etwas Schönes passiert. Hunger und Durst, wenn unser Körper nach Energie verlangt. All diese Emotionen schützen uns. Sie sind sozusagen unsere Dornen, die uns die Natur gegeben hat, um in dieser Welt bestehen zu können.“
„Aber Großvater“, begann Jenni auf einmal hörbar verunsichert. „Gehört denn die Liebe nicht dazu?“
„Oh doch, mein Schatz. Die Liebe gehört natürlich auch dazu, denn sie bewahrt uns vor der Einsamkeit. Und mal abgesehen davon, hätte ich ohne Liebe nicht so ein wundervolles Enkelkind.“ Liebevoll drückte er Jennifer fester an seine Seite, bevor er fortfuhr:
„Weißt du, ich bin froh, dass meine Mutter mir damals diese Geschichte erzählt hat, denn durch sie habe ich gelernt, das Streben nach Macht und Ruhm, nicht immer das angestrebte Ziel sein sollte. Seit diesem Tag sind es die Rosen, und der Glaube daran, nach meinem Tod mit ihnen vereinigt zu sein, was mich an traurigen Tagen wieder aufmuntert. Ihrer Reinheit und ihrer farbenprächtige Schönheit rücken das Grau des Alltags in den Hintergrund, so dass ich mich wieder auf das konzentrieren kann, was wirklich zählt. Ich habe erkannt, dass derjenige der daran glaubt, sich in der Rose wiedererkennt, und er vergisst, wenn auch nur für einen Augenblick, die Grausamkeit in unserer Welt.“
„Ist diese Geschichte denn wahr?“, wollte Jennifer wissen.
„Nun“, meinte der Großvater nach kurzem Zögern. „Diese Stadt gab es wirklich, und es gibt sie auch heute noch. Der Rest aber, ist wohl nur eine Geschichte. Aber sie kann wahr werden, wenn du daran glaubst.“
„Oh, ich möchte glauben, dass sie wahr ist“, sprudelte es aus ihr heraus. In ihren Augen lag ein flehender Ausdruck, als könne das Wunder vollbringen, diese Stadt zum Leben zu erwecken.
„Dann ist sie es auch“, antwortete er schließlich, während er ihr zärtlich eine Haarsträhne aus dem Gesicht wischte. Überglücklich hakte sich Jenny daraufhin bei ihrem Großvater ein, und so miteinander verbunden gingen sie langsam nach Hause.
Das Rosenbeet blieb hinter ihnen zurück; strahlend wie eh und je, bereit die Phantasie all derer zu beflügeln, sie sich an seinem Antlitz erfreuten.
 



 
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