In der U-Bahn

rabi

Mitglied
U-Bahn-Station Baker Street. Hier hatte Robert sie zum letzten Mal gesehen. Hatte mit ihr gesprochen. Nur kurz, nur wenige Sätze. Aber das hatte ausgereicht, um ihm wieder ein neues Lebensgefühl zu geben. Nun liegt dieses schon wieder vier Wochen zurück – seitdem ist sie wie vom Erdboden verschwunden.

Dabei hatte er sie früher sehr oft gesehen, manchmal mehrmals die Woche. Doch traute er sich nie, sie anzusprechen.

Doch dann am Thanksgiving-Day nahm Robert all seinen Mut zusammen und ging auf sie zu. Hier an der Baker Street stand sie und wartete auf die Bahn. Bis zum Schluss noch hätte er die Möglichkeit gehabt, wieder an ihr vorbeizugehen, wie so oft schon. Aber diesmal sprach er sie an und schenkte ihr ein Bild, das er extra für sie gemalt hatte. Vielleicht war es nicht besonders schön und originell, aber es war etwas Persönliches, nur für sie.

Hinterher fühlte er sich sehr gut, so als hätte er eine Mutprobe bestanden.

Und nun wusste er, dass sich die Tür ein kleines Stück geöffnet hatte, dass er nun keine Angst mehr haben müsste, sie anzusprechen.

Natürlich war sie erstaunt, hier an der Haltestelle etwas geschenkt zu bekommen von einem Fremden, aber sie hatte das Bild gerne angenommen.

Seitdem wartet Robert fast jeden Tag hier an der Haltestelle. Sieht die Fahrgäste ein- und aussteigen. Viele bekannte Gesichter, einige Leute, die er noch nie gesehen hat.

Vielleicht steigt sie ja auch an der Kerner Road ein; dann müsste sie in der einfahrenden Bahn sitzen. Jedes Mal, wenn eine Bahn hier einfährt, schlägt sein Puls schneller: sie könnte ja darin sitzen, so wie vor einigen Wochen – aber das war noch, bevor er sie angesprochen hatte.

Dabei weiß er kaum etwas über sie. Weder wie sie heißt, noch wo sie genau wohnt und was sie macht. Er ist sich nicht einmal sicher, ob er sich überhaupt in sie verliebt hat. Doch als er sie vor Monaten zum erstenmal in der U-Bahn sah, war er so von ihr fasziniert, dass er nur noch an sie denken musste.

Dabei war sie nicht einmal besonders auffällig. Sie machte eher einen unscheinbaren, etwas schüchternen Eindruck. Aber genau das war es, was ihn so beeindruckt hatte. Jeder andere Mann würde diese Frau wohl gar nicht beachten.

Doch nun, nachdem er sich ein Herz gefasst und sie angesprochen hat, ist sie verschwunden.

War es ihr unangenehm, beachtet zu werden? Nimmt die jetzt die Linie 6 von der Waterloo Station, die ebenfalls in die City führt? Aber das wäre ein zu weiter Fußweg. Und man kann doch niemandem auf Dauer aus dem Weg gehen. Das kann es nicht sein.

Sie war doch recht freundlich zu ihm, als er ihr das Bild geschenkt hatte, hatte ihn angelächelt, hatte mit ihm gesprochen.Vielleicht ist sie in eine andere Stadt gezogen. Dann würde er sie niemals mehr wiedersehen. Nein – daran mochte er gar nicht denken!



Eigentlich wollte er jetzt schon in der City sein, noch einige Besorgungen erledigen. Aber vielleicht würde er sie dann gerade verpassen. Wieder fahrt eine Bahn ein. Sitzt sie darin? Auch diesmal kann er sie nicht erblicken.

Und selbst, wenn er sie wiedersehen würde. Was sollte er ihr sagen? Würde sie sich überhaupt noch an ihn erinnern? Zu lange ist es nun schon her, dass er mit ihr gesprochen hatte. Und dabei war er damals doch so zuversichtlich, nun jedes Mal mit ihr zu sprechen, wenn er sie sieht. Jede Mal sich ein Stück näher zu kommen. Sie zum Essen einzuladen. Zusammen ins Kino gehen.

Warum nur blieb sie verschwunden? Hatte er nicht lange genug gewartet? War er zur falschen Haltestelle gegangen? Bisher hatte er sie immer rein zufällig getroffen. Jedes Mal tauchte sie plötzlich auf. Mal an der Station Broad Street, mal am Central Park. Und jedes Mal musste er tagelang an sie denken, wenn er sie gesehen hatte. Ir niedlicher Blick, ihre ruhige Art, das alles ließ ihn nicht los. Dabei sah sie manchmal etwas traurig aus, so als fühlte sie sich einsam, genauso wie er.

Wie schön wäre es dann doch, mit ihr zusammen zu sein! Doch dazu müsste er sie erst einmal wiederfinden, und er hat sich fest vorgenommen, sie dann wieder anzusprechen , denn sie ist doch nun keine Fremde mehr für ihn.

. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Wieder einmal steht Robert an der U-Bahn-Station Baker Street. Nun sind es schon fast zwei lange Monate her, dass er s i e angesprochen und ihr das Bild geschenkt hat. Er kann sie einfach nicht vergessen, muss jeden Tag an sie denken.

Warum hat er sie seitdem nicht mehr gesehen? Unglücklicher Zufall? Ist sie in Urlaub gefahren oder krank oder etwa weggezogen aus dieser Gegend?

Da fährt die U-Bahn ein. Robert steigt ein und will sich gerade auf einen freien Platz an der Tür setzen, da.... ja, da erblickt er s i e. Am Ende des Waggons sitzt sie, in ein Buch vertieft.

Sein Herz beginnt zu rasen. Was soll er machen? Auf sie zugehen, sie ansprechen? Wäre das nicht unhöflich, sie beim Lesen zu stören? Würde sie sich überhaupt noch an ihn erinnern?
Er hatte ihr damals das Bild in die Hand gedrückt, nur wenige Worte mit ihr gewechselt. Bestimmt hat sie ihn wieder vergessen, und sein Bild irgendwo in der hintersten Ecke versenkt.

Nein, Robert setzt sich erst mal hin, lässt sie aber nicht aus den Augen. Wo wird sie aussteigen? Was ist, wenn sie jetzt aus ihrem Buch aufblickt? Was soll er dann machen???

Nein, das beste wird sein, er spricht sie beim Aussteigen an. Es muss aussehen, wie ein Zufall, wenn man sich wieder begegnet.

Als die Station Donalds Bridge aufgerufen wird, legt sie ihr Buch nieder. Wird sie hier aussteigen? Robert hört sein Herz laut pochen. Sein Atem geht schwer. Gleich wird es passieren, ein zweiter Kontakt mit ihr. Jetzt nur keinen Fehler machen! Die nächsten Minuten könnten die Entscheidendsten seines Lebens werden!!!

Sie steht auf und geht zur Tür. Er geht zur anderen Tür. Da hat er eine bessere Chance, sie dann draußen zu erwischen. Es muss alles wie rein zufällig aussehen.

Die Türen gehen auf. Auf dem Bahnsteig Donalds Bridge spricht er sie an, etwas zögerlich zwar, aber klar und deutlich: „Oh, hallo, du hast dich ja ganz schön lange versteckt gehalten. Musst du heute zur Arbeit gehen?“ – „Nein“, lächelt sie ihn an, „ich wollte nur eine Kleinigkeit essen“ - „Das trifft sich gut“, sagt Robert, jetzt schon etwas ruhiger geworden, „ich hab nämlich auch noch nicht zu Mittag gegessen. Darf ich dich einladen“ Sie lächelt ihn an, ein bisschen verschämt zwar, zögert noch, doch dann sagt sie: „Ja, wenn du das möchtest, warum eigentlich nicht“.

Robert fühlt sich unheimlich glücklich in diesem Augenblick. Wie lange hatte auf diesen Moment gewartet! Jedes Mal, wenn er sie früher gesehen hatte, hatte er den großen Wunsch, dass diese Frau ihn überhaupt nur beachten würde, wahrnehmen würde, dass es ihn überhaupt gibt. Und jetzt nimmt sie sich sogar die Zeit, mit ihm Essen zu gehen!!!

Während des Gesprächs beim Essen entdecken sie viele Gemeinsamkeiten. Ja, er war Cerise (so heißt sie) auch schon aufgefallen, und sie hatte es auch lieb gefunden, dass er sie damals ansprach und ihr etwas geschenkt hatte – nein, sie hätte das von sich aus nie getan – mit Männern hatte sie keinerlei Erfahrung – sie hatte sich stets nur auf ihr Studium konzentriert.

Sie hatte auch nichts weiter vor an diesem Sonntag, und so gingen Robert und Cerise noch die Mense entlang. Sie erzählte von ihrem Studium, von ihrem Praktikum im Kindergarten und von ihrer Liebe zur Musik. Ihre Eltern und Geschwister wohnen in Southcottage (etwa 300 Meilen entfernt), und sie ist hier ganz allein.

Schließlich nimmt Robert ihre Hand – Hand in Hand gehen sie weiter die Mense entlang.
Dann bleiben sie stehen. Mit seiner rechten Hand streicht er Cerise über die Wange, nimmt sie dann zärtlich in den Arm, dann folgt ein langer Kuß.

Dieses ist der Beginn einer wunderschönen Liebe...
 



 
Oben Unten